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US-Schiefergas Boom setzt europäische Chemie unter Druck

28.08.2012 -

Revolution aus tiefem Gestein: Wegen des Schiefergas-Booms in den USA droht den europäischen Chemiegrößen in den nächsten Jahren Gefahr von ungeahnter Seite. Denn mit der Erschließung großer Erdgas-Vorkommen in Texas und anderen US-Bundesstaaten ergeben sich für die amerikanische Chemieindustrie ganz neue Produktions- und Wettbewerbsvorteile. Der Grund: Als Ausgangsstoff für viele chemische Grunderzeugnisse ist Erdgas in den USA momentan nicht nur in rauen Mengen, sondern auch zu sehr günstigen Preisen verfügbar.

In den Strategieabteilungen der Konzerne wird deshalb umgedacht. Unternehmen wie BASF hatte in der Grundstoffchemie bislang vor allem die Konkurrenz aus dem Nahen Osten Kopfschmerzen bereitet, die wie die saudische Sabic von ihrer Nähe zu den Ölquellen am Persischen Golf profitieren. Doch jetzt muss auch stärker über den Atlantik geschaut werden. "Erdgas in den USA ist heute ein deutlicher Preisvorteil gegenüber Europa", warnt BASF-Chef Kurt Bock. "Wir schauen uns unsere Investitionsplanung daraufhin auch noch einmal an." Insbesondere in der Petrochemie dürfte der Wettbewerbsdruck zunehmen. In Europa arbeiten die Cracker zumeist mit dem Erdölprodukt Nafta als Rohstoff, das dann in wichtige Kunststoff-Vorprodukte wie Ethylen, Propylen und Butadien aufgespaltet wird. In den USA werden solche Großanlagen überwiegend mit Erdgas gespeist und können deshalb deutlich günstiger produzieren.

Billiges Gas im Überfluss


Nach Angaben der Internationalen Energie Agentur (IEA) lag der Preis für Erdgas pro Million British Thermal Units (BTU) im Mai in den USA bei deutlich unter 3 US-$, in Europa kostete die Einheit zur selben Zeit laut IEA im Schnitt viermal so viel. Nicht immer war Erdgas in den USA so billig: Noch vor fünf Jahren lagen auch in den Staaten die Preise bei über 10 US-$. Der immense Preisrutsch ist eine Folge des Siegeszugs neuer Fördertechniken in den USA, mit denen sich Gasvorkommen auch aus tiefen Ton- und Schwarzschiefer-Gesteinsschichten herauslösen lassen, die vorher praktisch unerreichbar waren. Methoden wie das Fracking haben zu der Gasschwemme geführt. Der Boom setzte 2005 ein - seitdem wurden jährlich Tausende Bohrungen in die Erde getrieben. Im vergangenen Jahr kletterte die Erdgas-Produktion in den USA sogar um 8% - das war der bislang stärkste registrierte Anstieg überhaupt.

Diesen Produktionsvorteil wollen die US-Chemiekonzerne auf dem Weltmarkt nutzen. Daher wird momentan kräftig investiert: Die Ratingagentur Fitch zählt gegenwärtig allein zehn große Investitionsprojekte für neue Cracker-Werke, umfangreiche Anlagen-Erweiterungen und Neustarts auf. Dazu gehört ein Milliarden Dollar teures Großprojekt von Exxon Mobil, die bis 2016 einen neuen Ethan-Cracker in Texas mit einer Kapazität von 1,5 Mio. Tonnen pro Jahr errichten wollen. Dow Chemical plant an der US-Golfküste eine neue Großanlage, ebenso Chevron Philips Chemical. Ihre bestehenden Petrochemie-Werke erweitern wollen unter anderem die Konzerne Westlake Chemical und Williams. Der American Chemistry Council schätzt, dass der Schiefergas-Boom Investitionen im Gesamtvolumen von 25 Mrd. US-$ in der Petrochemie ausgelöst hat.

USA bald Exporteur in der Basischemie?

Die Karten in der Basischemie könnten somit neu gemischt werden, wenn ab Mitte des Jahrzehnts die neuen Anlagen ans Netz kommen. Die Ratingagentur Fitch prognostiziert, dass die Nachfrage nach dem wichtigen Cracker-Erzeugnis Ethylen und verwandten Kunststoff-Vorprodukten in den USA um jährlich 6,5% wachsen muss, um das zusätzliche Chemikalien-Angebot am Markt zu verdauen. Ihre Schlussfolgerung: "US-Produzenten werden wahrscheinlich Ethylen-basierte Produkte exportieren müssen." Trifft die Fitch-Prognose zu, könnten die Preise entsprechend sinken. Wegen der niedrigen Produktionskosten dürften sich die Investitionen allerdings dennoch rechnen.

Um von der Entwicklung nicht überrollt zu werden, könnten europäische Chemieunternehmen in den USA ebenfalls kräftig in die Petrochemie investieren. Firmen könnten auf den hohen Chemiebedarf bei der Schiefergas-Förderung setzen. "Man kann zudem von der Entwicklung profitieren, indem man auf der Verbrauchsseite liefert. Man liefert Chemikalien, die im Rahmen der Explorationsaktivitäten benötigt werden", sagt A.T. Kearney Chemie-Experte Tobias Lewe. Letztendlich komme es für die Firmen darauf an, in diesem Markt möglichst schnell Fuß zu fassen.

BASF kündigte Anfang Mai bereits an, eine Produktionsstätte für Ameisensäure im US-Bundesstaat Louisiana zu errichten. 50.000 Tonnen soll sie pro Jahr produzieren können. Die Chemikalie ist ein wichtiger Bestandteil bei der Schiefergas-Gewinnung. Gas-Cracker in den USA plant der Konzern bislang allerdings nicht.