Strategie & Management

Agrochemie – weniger Einsatz, mehr Präzision

Die Agrochemie braucht eine ökologische Produktivitätsrevolution

09.06.2021 - Unternehmen der Agrochemie müssen mit sinkenden Absatzmengen bei klassischen Produkten rechnen.

Nachhaltigkeit ist der Megatrend, auch in der Landwirtschaft. Internationale Abkommen zum Klimaschutz, der Green Deal der EU, nationale Vorgaben zum Pestizideinsatz oder Artenschutz sowie hohe Erwartungen bei Verbrauchern und Investoren drängen Agrarbetriebe zu mehr Umweltschutz. Unternehmen der Agrochemie müssen mit sinkenden Absatzmengen bei klassischen Produkten rechnen. Sie sollten digitale Technologien nutzen, um ökologischere Alternativen zu bieten sowie Landwirte stärker beim Präzisionsanbau zu unterstützen – idealerweise über Plattformen, mit denen sich optimale Anbauprotokolle festlegen und wesentliche Schritte einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion dokumentieren lassen.

Ein kurzer Blick auf die Eckdaten zeigt, vor welchen Herausforderungen die globale Agrarproduktion steht. Da derzeit 80 % der Wiesen und Äcker zur Nutztierzucht dienen und die Bevölkerung weiter wächst, müssen bei gleichbleibender Entwicklung im Jahr 2050 pro Person nur 30 % der 1961 verfügbaren Fläche zur Lebensmittelversorgung reichen – obwohl schon heute ein Drittel der Böden unter Auszehrung oder Erosion leidet. Zudem haben sich die Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft verändert. In Europa steht Nachhaltigkeit ganz oben auf der Agenda. Durch den Green Deal der EU soll der CO2-Ausstoß in jeder Industrie massiv sinken. Auch die Vorgaben zum Dünger- und Pestizideinsatz werden restriktiver, weil der Wasser- und Artenschutz an Bedeutung gewinnt. Für umweltbewusste Verbraucher sind Stichworte wie Nitratbelastung und Bienensterben ebenso ein Thema wie für Kapitalgeber, die verstärkt auf ESG-Kriterien – Ökologie, soziale Verantwortung und Governance – achten. Als Hersteller von Saatgut und Hilfsmitteln sind Agrochemieunternehmen ein zentrales Element der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette und spielen eine wichtige Rolle dabei, die Lebensmittelversorgung zu sichern.

Die entscheidenden Fragen lauten daher: Durch welche innovativen Produkte, Services oder Geschäftsmodelle lässt sich die Produktivitätslücke schließen, die durch weniger Fläche, Chemieeinsatz sowie Schadstoffausstoß entsteht? Und wie gelingt trotz des Weniger beim Einsatz der klassischen Chemieprodukte ein

Mehr bei Umsatz und Gewinn?
Die Bedeutung der Präzisionslandwirtschaft wird weiter wachsen

Eine Antwort ist mehr Präzisionslandwirtschaft durch Digitalisierung. Werden große Flächen etwa zum Weizen-, Mais- oder Rapsanbau genutzt, berechnen viele Landwirte bereits jetzt mithilfe digitaler Lösungen optimale Dünger- und Pestizidmengen, um weder zu viel noch zu wenig Chemie einzusetzen.

 

"Eine Antwort ist mehr Präzisionslandwirtschaft
durch Digitalisierung."

 

Ein detailliertes Bild des Bodens und der Ertragsfähigkeit der Felder liefern z. B. Drohnen- und Satellitenfotos, anhand derer sich das Wachstum beurteilen lässt oder Auswertungen von Daten, die Landmaschinen per Infrarotsensor am Düngewagen sammeln. Wichtige Informationen zur besseren Bewirtschaftung erhalten Landwirte auch durch das Erstellen eines Katasters zur Bodenqualität, die Auswertung historischer Daten oder die Berücksichtigung von Wetterdaten. Noch aber müssen sie hier oft mit einzelnen Partnern kooperieren und bekommen keine Komplettlösung. Bislang kranken viele Konzepte zur Digitalisierung daran, dass es sich um Insellösungen von Anbietern handelt, die nicht in ein größeres Ökosystem eingebettet sind.

Agrochemieunternehmen sollten eigene Plattformen aufbauen
Einige Chemiekonzerne haben das Potenzial erkannt, das in solchen umfassenden Dienstleistungspaketen steckt. Sie ergänzen ihren Produktvertrieb um entsprechende Services, indem sie Partnerschaften etwa mit Landmaschinenherstellern eingehen, um das Erarbeiten optimaler Anbauprotokolle zu erleichtern. Eine digitale Farming Plattform lässt sich künftig z. B. mit Säh- und Pflanzmaschinen verbinden. Solche Plattformen ermöglichen es Landwirten, die von Maschinen gesammelten Daten zu analysieren und zu speichern sowie mit Informationen aus zusätzlichen Quellen zu kombinieren. Das steigert die Effizienz der Prozesse sowie Produktionsabläufe und optimiert den Einsatz von Chemie. Dabei beschränkt sich der Ansprechpartner des Chemieunternehmens nicht mehr auf Spritz- und Setztipps, sondern berät zum optimalen Anbau mit Blick auf Produktivität, Qualität und Nachhaltigkeit. So ließen sich auch die zunehmenden Dokumentationspflichten im Bereich des landwirtschaftlichen Anbaus besser erfüllen: From Field to Fork, vom Feld bis auf den Teller muss künftig der gesamte Herstellungsprozess von Lebensmitteln nachvollziehbar sein. So fördern Agrochemieunternehmen als Scharnier die „digitale Nähe“ zwischen Landwirt und Nahrungsmittelhersteller. Echten Mehrwert können sie ihren Kunden in der Landwirtschaft als Ausgangspunkt des Field to Fork aber nur bieten, wenn entsprechende Plattformen technologieoffen konzipiert sind. Nutzer sollten die Chance haben, alle relevanten Maschinen anzubinden und Daten aus eigenen sowie externen Quellen zu verwerten, die wertvolle Erkenntnisse liefern könnten oder der Dokumentation dienen.

Schulterschluss mit Maschinenbauern für mehr Robotereinsatz
Das gilt auch für die vertikale Landwirtschaft, einem Trend beim Anbau von Obst und Gemüse. Auf wenigen Quadratmetern wachsen die Pflanzen dabei auf mehreren Etagen angeordnet, teils sogar ohne natürliches Sonnenlicht im sog. Indoor Farm­ing. Diese Anbauart dürfte massiv zunehmen, da künftig der ökologische Fußabdruck der gesamten Produktionskette in die ESG-Bilanz eingeht – und stadtnahe, mehrere Stockwerke hohe Gewächshäuser erlauben eine Vitaminversorgung mit kurzen Wegen und relativ geringem CO2-Ausstoß. Erdbeeren oder Gurken aus ökologisch optimierten Vertical-Farming-Anlagen dürften deutlich bessere Nachhaltigkeitswerte erreichen als Obst oder Gemüse aus herkömmlicher, oft ausländischer Produktion inklusive Transportaufwand. Auch hier können Agrochemieunternehmen eine entscheidende Rolle spielen, indem sie Landwirten neben Saatgut, Dünger und Pestiziden die zur optimalen Aufzucht benötigten Informationen über Daten- und Serviceplattformen liefern. Zudem könnten sie beim Vertical Farming wie beim Flächenanbau den Zugang zu neuen Technologien eröffnen, etwa Drohnen zum Spritzen – oder den Einsatz von Jähtrobotern unterstützen. Chemiekonzerne müssen keine Maschinenbauer werden. Sie sollten nur den Einsatz von Maschinen ebenso wie die Analyse von Daten als Bestandteile eines Dienstleistungspakets begreifen, das auf die optimale Unterstützung der Landwirte ausgerichtet ist.

Saatgut per Computer berechnen statt auf dem Feld ausmendeln
Viele Agrochemieunternehmen dürften sich weiterhin auf ihre klassische Kernkompetenz konzentrieren. Sowieso auf die Entwicklung und Herstellung von Saatgut als Basis für jeden landwirtschaftlichen Betrieb. Aber ebenso auf die Produktion von Dünger und Pestiziden – ganz ohne wird auch die digitalisierte Agrikultur der Zukunft nicht funktionieren. Ändern muss sich jedoch die Art und Richtung von Forschung und Entwicklung. Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden hier Spuren hinterlassen. Beim Saatgut kann der Einsatz digitaler Lösungen die Entwicklungszyklen massiv verkürzen: Werden Neuzüchtungen im Feldversuch ausgemendelt, dauert es sieben bis zehn Jahre zum Ergebnis. Inzwischen lassen sich viele Schritte aber per Computerberechnung vollziehen, was den Prozess erheblich beschleunigt. Auch durch gentechnische Veränderungen können neue Produkte entstehen, etwa über die Genschere CRISPR. Dünger- oder Pestizidhersteller können mithilfe digitaler Technologie schneller neue Wirkstoffe entwickeln und diese testen. Außerdem lohnt es sich zu prüfen, inwieweit Gentechnik einsetzbar wäre.

Veränderte Verbraucherwünsche erfordern neue Produktangebote
Die Unternehmen sollten allen Technologien offen gegenüberstehen, ihren Einsatz aber aus strategischer Sicht kritisch hinterfragen. Wenn etwa Gentechnik einigen Saatgutherstellern neue Perspektiven eröffnet, könnte sie für andere toxisch sein, weil ihre Kunden generell keine gentechnisch veränderten Produkte wünschen. Die Agrochemieunternehmen bewegen sich in einem komplexen Umfeld aus regulatorischen Vorgaben, technischen Innovationen und Kundenwünschen, die sich stark verändern. Saatguthersteller etwa könnten sich als Proteinlieferanten positionieren, weil immer mehr Verbraucher vegetarisch leben wollen und nach Fleischersatz suchen.

 

Klassische Chemiekonzerne könnten sich
mit nachhaltigem Dünger oder
Pflanzenschutzmitteln positionieren.

 

Das wird den Markt aufmischen. Klassische Chemiekonzerne könnten sich mit nachhaltigem Dünger oder Pflanzenschutzmitteln positionieren. Gerade hier stellt sich die Frage, was die Geschäftspartner mit Blick auf die ESG-Kriterien wünschen – so könnten statt klassischem Dünger etwa verstärkt Pflanzenhilfsmittel auf biologischer Basis zum Einsatz kommen, die hohen ökologischen Ansprüchen genügen. Ein Agrochemieunternehmen aus der Schweiz hat sich mit einem weltweit führenden Unternehmen für künstliche Intelligenz und Deep Learning zusammengetan. Beide nutzen die Erfahrungen aus der Entwicklung von Medikamenten, um in der Agrochemie umweltfreundlichere Produkte zu lancieren. Ziel der Agrochemieunternehmen sollte eine zweite Revolution sein: Nach dem Produktivitätsschub durch Kunstdünger und Pflanzenschutz braucht die Landwirtschaft jetzt ökologischer ausgerichtete Philosophie, um die sich abzeichnende Produktivitätslücke auf den Feldern und damit auch die betriebswirtschaftliche Lücke in den Bilanzen zu schließen.

Götz Erhardt, Geschäftsführer und Leiter des Bereichs Grundstoffindustrien und Energie,
Accenture GmbH, Kronberg

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Agrochemie
Diese Trends müssen Agrochemieunternehmen beachten:

  • Nachhaltigkeit: Internationale Abkommen zum Klimaschutz, der Green Deal der EU sowie diverse nationale Vorgaben etwa zum Einsatz von Pestiziden oder Artenschutz haben das Thema ganz oben auf die Agenda gesetzt. Agrochemieunternehmen brauchen umweltverträgliche Produkte und eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Organisation, um die Gesetze einzuhalten sowie die Erwartungen der Kunden und Investoren zu erfüllen.
  • Kundenwünsche: Viele Verbraucher wollen regional kaufen, sich in Bioqualität und vegetarisch ernähren. Agrochemieunternehmen müssen den Landwirten helfen, diese Wünsche zu erfüllen. Das heißt, neue Angebote in Form von Saatgut zu entwickeln, die als Basis für Fleischersatz dienen können. Und klassische Dünger sowie Pflanzenschutzmittel in der Menge zu reduzieren sowie in der Wirkung umweltverträglicher zu machen, etwa durch biologische Inhaltsstoffe.
  • Digitalisierung: Moderne Hard- und Software hilft den Landwirten: Jähtroboter können dazu beitragen, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren, Drohnen Hilfsmittel gezielter ausbringen oder mehr Vertical Farming ermöglichen. Per umfassender Datenvernetzung und -analyse erreicht die Präzisionslandwirtschaft ein neues Niveau. Und Agrochemieunternehmen können ihre eigene Organisation durch den umfassenden Einsatz digitaler Lösungen nachhaltiger arbeiten lassen.
  • Plattformen: Um die Produktivitätslücke zu schließen und die Präzisionslandwirtschaft zu forcieren, braucht es offene Plattformen als Basis. Mit ihrer Hilfe können Landwirte Daten aus eigenen sowie externen Quellen verarbeiten und ihre Maschinen sowie Saatgut und Hilfsstoffe optimal einsetzen. Agrochemieunternehmen können solche Plattformen aufbauen und Landwirten so eine lückenlose Dokumentation der Nachhaltigkeit ermöglichen.

Götz Erhardt ist seit dem Jahr 2000 für Accenture tätig; seit 2015 hat er die Position des Geschäftsführers für den Bereich Grundstoffindustrie und Energie inne. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung mit Fokus auf die produzierende Industrie. Zu seinen Schwerpunktthemen zählen strategischer Wandel, Digitalisierung und Industrie 4.0 sowie marktorientierte Organisation. Erhardt studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin und absolvierte einen MBA an der University of Bradford in Großbritannien.

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