Strategie & Management

Chinas weiterer Weg zur Chemie-Großmacht

Wie geht es weiter mit der Chemieindustrie in China? Ein Ausblick bis 2025 in acht Hypothesen

03.09.2018 -

Nobelpreisträger Niels Bohr ist bekannt für seinen Ausspruch, Vorhersagen wären schwierig, insbesondere für die Zukunft. Dennoch ist es im Geschäftsleben vermutlich ein noch größeres Risiko, gar keine Annahmen über die Zukunft anzustellen. Dieser Artikel stellt daher einen Versuch dar, auf Basis von Hypothesen einige Vorhersagen über die Entwicklung der Chemieindustrie in China in den nächsten fünf bis sieben Jahren zu treffen.

Um es gleich vorwegzunehmen, keine dieser Hypothesen geht von einem radikalen Trendbruch aus – doch diese Grundannahme erscheint aufgrund der relativ kontinuierlichen Entwicklungen der letzten 15 Jahre, in denen ich die Industrie aus Schanghai beobachte, realistisch.

Hypothese 1

In absoluten Zahlen wird das Wachstum der chemischen Industrie in China weiter zunehmen. Die Bedeutung Chinas für die globale Chemieindustrie wird ebenfalls weiter zunehmen.

Während die Chemieindustrie Chinas im letzten Jahrzehnt schneller wuchs als das Bruttosozialprodukt (BSP), ist es unwahrscheinlich, dass dies auf Dauer so bleibt. Die chinesische Wirtschaft wächst stärker in Servicesegmenten, und große Teile der Chemieindustrie (insbesondere Petrochemie und Basischemie) sind bereits relativ reif. Ein Wachstum der Chemieindustrie mit dem BSP ist dagegen realistisch und im Einklang mit den Einschätzungen verschiedener Experten. Sogar ein Wachstum leicht oberhalb des BSP ist aufgrund der Bedeutung der Chemie für bestimmte schnell wachsende Gebiete wie neue Materialien (z.B. für Elektrofahrzeuge) und Life Sciences möglich.

Da die Basiswerte zum Beispiel für das BSP weiterhin steigen, wird absolutes Wachstum der chemischen Industrie auch dann erreicht werden, wenn sich der Anstieg des BSP und der chemischen Industrie leicht verlangsamen. Im Jahr 2017 stieg das BSP um 6.9%. Um im Jahr 2018 dasselbe absolute Wachstum zu erzielen, reicht bereits ein relatives Wachstum von 6.5%. Und hochgerechnet auf das Jahr 2025 reicht bereits ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 5.7%, um ein stabiles absolutes Wachstum zu erzielen. Dies erscheint als ein sehr moderater Zielwert, denn im Jahr 2017 wuchs die chemische Industrie in China deutlich stärker als das BSP mit etwa 16-17%, wenn auch teilweise aufgrund des starken Anstiegs des Ölpreises.

Konsequenterweise gehen Organisationen wie CEFIC davon aus, dass der Anteil Chinas am globalen Chemiemarkt weiter steigen wird, und zwar von 40% im Jahr 2015 auf 44% im Jahr 2030. Der CEO von SABIC, Yousef Al-Banyan, schätzt, dass China zwischen 2016 und 2025 für die Hälfte des globalen Chemiewachstums verantwortlich sein wird.

Hypothese 2

Die Umweltgesetzgebung in China wie auch die Implementierung der Gesetze werden weiter verschärft werden. Die weit überwiegende Mehrheit der Chemieproduktion wird in Chemieparks verlagert werden.

Chinas Präsident Xi Jinping ist in einer sehr starken Position, und er hat den Umweltschutz zu einem seiner Schwerpunkte gemacht. Die schon in den letzten zwei Jahren zu beobachtende Verschärfung der Umweltgesetzgebung wird daher weiter zunehmen. Momentan lässt sich beobachten, dass die einzelnen Provinzen ihre individuellen Ziele für Unternehmensschließungen und -verlagerungen veröffentlichen. Regierungsbeamte haben klare, für ihre individuelle Leistungsbewertung relevante Zielvorgaben erhalten, und einzelne Industrieparks werben derzeit teilweise mit der Zahl der von ihnen geschlossenen Chemieunternehmen, statt sie zu verschweigen.

Als Folge wird die Produktion von Chemikalien bis zum Jahr 2025 fast komplett in designierte Chemieparks verlagert werden. Für kleinere Chemieunternehmen gibt es noch engere Zeitvorgaben (2020). Unternehmen, die in solche Chemieparks umziehen, unterliegen Emissionsvorgaben, die teilweise um den Faktor 10 strikter sind als zuvor. In Chemieparks wird zudem die Kontrolle der Einhaltung der Grenzwerte erleichtert. Gleichzeitig bietet die zentrale Behandlung von Emissionen innerhalb eines Parks die Möglichkeit zur Effizienzsteigerung. Viele marginale Produzenten werden die Produktion einstellen, da sie nicht über das Kapital für den Umzug in Chemieparks und die Verbesserung der Produktionsprozesse verfügen. Für einzelne Chemikalien ist dies schon jetzt deutlich zu spüren. Bei einer kürzlich durchgeführten Marktanalyse im Bereich Feinchemikalien stellten wir bspw. fest, dass sechs von zehn Produzenten einer bestimmten Chemikalie in den letzten zwei Jahren die Produktion eingestellt haben.

Damit ändert sich auch die Rolle von Chemieparks. Während sie in der Vergangenheit primär der Anwerbung von Investitionen dienten, sollen sie heute spezialisierte Serviceleistungen anbieten und damit die Chemieindustrie sowohl effizienter als auch leichter kontrollierbar machen.  Längerfristig bedeutet diese Effizienzorientierung der Chemieparks auch, dass diese von professionellen Standortserviceleistern statt von Behörden betrieben werden sollten.

Hypothese 3

Lokale und zentrale Behörden werden stärker zwischen erwünschter und unerwünschter Chemieproduktion unterscheiden.

Städte mit vielen Alternativen zu chemischer Produktion, wie Schanghai als Zentrum für Kultur und Handel, sind bereits sehr restriktiv in Bezug auf Chemieproduktion, selbst innerhalb von Chemieparks. Schon jetzt akzeptieren die besseren Chemieparks nur einen kleinen Teil der Unternehmen, die sich um eine Ansiedlung bewerben. Kriterien sind dabei u.a. die Umweltfreundlichkeit der Produktion und die Investitionshöhe. Chemieunternehmen werden daher in der Zukunft immer weniger Auswahlmöglichkeiten für ihre Produktionsstandorte haben, insbesondere in den wohlhabenden Provinzen.

Unabhängig von ihren Umweltauswirkungen werden Chemiesegmente, die als innovativ oder strategisch bedeutend angesehen werden (z.B. Neue Materialien, elektronische Chemikalien), sehr viel freundlicher behandelt werden als solche, die eher traditionelle Industrien bedienen (z.B. Farbstoffe, Lederchemikalien).

Hypothese 4

Die verschärfte Umweltgesetzgebung wird nicht zu längerfristigen Störungen der Industrie führen. Die Chemieindustrie Chinas wird auch nach der Eliminierung einiger Produzenten konkurrenzfähig bleiben.

Die Chemieindustrie trägt einen substantiellen Teil zu Chinas Industrieproduktion bei – 7,5% des Umsatzes auf Basis einer sehr engen Definition („Produktion von rohen chemischen Materialien und Erzeugnissen“) oder 13.4%, wenn einige andere Segmente wie Plastik, Chemiefasern, Gummi und Pharmawirkstoffe hinzugezählt werden (Zahlen des Jahres 2016). Darüber hinaus ist die chemische Industrie ein wichtiger Zulieferer bedeutender Industrien wie der Automobil- und der Elektronikindustrie. Die Zentralregierung hat daher kein Interesse daran, die Chemieindustrie aus China zu vertreiben. Im Gegenteil sieht der gültige Fünfjahresplan eine Stärkung der Chemieindustrie insgesamt vor, wenn auch einige Restriktionen für Basischemikalien mit Überkapazitäten genannt werden.

Die Regierung wird es daher vermeiden, die Industrie als Ganzes mit hohen Kosten zu belasten. Stattdessen werden die Eintrittsbarrieren für kleinere Produzenten erhöht, zum Beispiel durch die verschärfte Umweltgesetzgebung. Für größere Produzenten werden die höheren Umweltstandards nicht zu Einbußen führen, da sie durch die reduzierte Konkurrenz von marginalen Produzenten kompensiert werden. Die Regierung nutzt so die Umweltgesetzgebung zu einer Konsolidierung der Produzentenlandschaft und zur Eliminierung von Überkapazitäten.

Obwohl Arbeitskosten in China stark angestiegen sind, ist dies generell kein sehr bedeutender Faktor in den meisten Chemiesegmenten und kann außerdem durch Automatisierung weiter reduziert werden. Steigende Arbeitskosten werden daher vor allem einen indirekten Einfluss auf einzelne Chemiesegmente haben, deren Hauptkunden aufgrund steigender Löhne die Produktion aus China verlagern werden.

Hypothese 5

Einzelne Chemiesegmente mit stark negativen Auswirkungen auf die Umwelt werden Einbußen hinnehmen müssen, insbesondere wenn sie arbeitsintensive und wenig innovative Kundenindustrien bedienen. Für die übrigen Chemiesegmente wird die Kombination aus Marktkräften, Umweltgesetzgebung und anderen politischen Maßnahmen zu teilweiser Konsolidierung, erhöhten Margen und höheren Auslastungsraten führen.

Einige Chemiesegmente werden relativ stark unter der Regierungspolitik leiden. Insbesondere sind dies wenig umweltfreundliche Segmente, die außerdem wenig innovativ sind und arbeitsintensive und reife Kundenindustrien bedienen. Beispiele sind Leder- und Textilchemikalien, die auch aufgrund der inzwischen relativ hohen Lohnkosten in China von einer Abwanderung ihrer Kunden in Länder wie Vietnam oder Bangladesch bedroht sind.

In vielen fragmentierten Downstream-Segmenten wie Farben, Klebstoffen und Kunststoffverarbeitung wird die striktere Umweltgesetzgebung die Zahl der Marktteilnehmer reduzieren. Dies ist ein absolut erwünschter Nebeneffekt der Umweltgesetzgebung. Die Konsolidierung dieser Segmente wird zu einer Erhöhung der Margen führen. Auch die insgesamt angestrebte Erhöhung des Qualitätsniveaus der chinesischen Wirtschaft wird so durch die Eliminierung der marginalen und qualitativ niedrigwertigen Produzenten erreicht.

Hypothese 6

Innovative Chemiesegmente, die China helfen können, die „Made in China 2025“-Ziele zur Modernisierung der Wirtschaft zu erreichen, werden deutlich stärker als das BSP wachsen. Qualitativ niedrigwertige Basischemikalien werden langsamer wachsen als das BSP.

China ist sich der Gefahr bewusst, in die „Middle Income Trap“ zu fallen, und hat eine Reihe von entsprechenden Initiativen unternommen. Kern ist die “Made in China 2025”-Initiative, die vom deutschen Mercator-Institut für Chinastudien als „mächtige und kluge Herausforderung an die führenden Wirtschaftsnationen“ bezeichnet wurde. Die Initiative zielt darauf ab, Chinas Industrieproduktion durch die Fokussierung auf zehn als besonders innovativ angesehene Segmente qualitativ zu verbessern. Diese Segmente enthalten u.a. Flug- und Raumfahrttechnik, Energietechnik, Elektrofahrzeuge, Schiff- und Schienentechnik, neue Materialien und Medizintechnik. Es ist offensichtlich, dass innovative chemische Materialien in diesen Segmenten eine wichtige Rolle für technologischen Fortschritt spielen. China fördert entsprechende Chemiesegmente bereits, bspw. durch Steuervorteile und direkte Förderung von Forschung und Entwicklung. Im Zusammenhang mit dem zu erwartenden Marktwachstum in diesen Segmenten wird dies sehr wahrscheinlich zu starkem Wachstum in Bereichen wie neuen Materialen (Hochleistungskunststoffe, Organosilicone, Organofluorochemikalien, usw.) und umweltorientierten Dienstleistungen führen.

Andererseits ist schon jetzt zu erkennen, dass Planungs- und Emissionsstandards für die Herstellung einer Reihe von Basischemikalien wie Calciumcarbid oder PVC angehoben werden. Dies wird zu unterdurchschnittlichem Wachstum führen, mit den erwünschten Nebeneffekten der Reduzierung von Überkapazitäten und der Verbesserung der Industriestruktur.

Hypothese 7

Private chinesische Chemieunternehmen werden ihren Marktanteil gegenüber Staatsbetrieben und ausländischen Unternehmen weiter erhöhen.

Von 2006 bis 2016 sank der Umsatzanteil der Chemieunternehmen in Staatsbesitz von 30% auf 15%, der von Unternehmen in ausländischem Besitz von 27% auf 21%. Inländische, nicht im Staatsbesitz befindliche Chemieunternehmen (also z.B. Privatunternehmen, GmbHs und Aktiengesellschaften) steigerten ihren Anteil von 43% auf 64%. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren etwas verlangsamt, dauert aber noch an. Privatunternehmen verzeichnen immer noch ein höheres jährliches Umsatzwachstum als die anderen beiden Unternehmenstypen. Eine mögliche Reform der Staatsbetriebe würde wohl zu einem weiteren Abnehmen ihres Marktanteils führen, da diese Reform ja auf Erhöhung der Profitabilität abzielen würde.

Hypothese 8

Ein Handelskrieg mit den USA wird vermutlich keinen großen und langhaltenden Einfluss auf Chinas chemische Industrie haben.

China ist immer noch ein Nettoimporteur von Chemikalien – im Jahr 2016 hatten Chemikalienimporte einen Wert von 110 Mrd. USD gegenüber Exporten von 99 Mrd. USD. Viele der von China als mögliche Gegenmaßnahmen auf US-Zölle erwähnten Beschränkungen beziehen sich auf aus den USA importierte Chemikalien. Dies könnte längerfristig sogar eine Stärkung der Chemieindustrie in China bedeuten, wenn die Konkurrenz aus den USA eingeschränkt wird.

Darüber hinaus ist die chinesische Wirtschaft nicht mehr sehr stark exportabhängig. Betrug der Exportanteil zu Hochzeiten etwa 37% des BSP, so waren dies im Jahr 2016 weniger als 20%, und ein weiteres Absinken ist aufgrund des größeren Binnenmarktes und der größeren Bedeutung von Dienstleistungen zu erwarten.

Im Unterschied mit der Situation zwischen Europa und China sind die USA und China in der Chemieindustrie nicht direkte Konkurrenten, sondern arbeiten in unterschiedlichen Wertschöpfungsketten. Die USA sind zwar ein wichtiger Endmarkt für Chemikalien, aber weniger wichtig für Industrieproduktion, und dies wird sich vermutlich auch trotz der Anstrengungen der derzeitigen US-Regierung nicht ändern.

Schlussfolgerungen

Insgesamt postuliert dieser Artikel für die chinesische Chemieindustrie in den nächsten 5-7 Jahren gesundes Wachstum bei gleichzeitiger Verbesserung der Emissionssituation und Konsolidierung. Die Regierungspolitik wird außerdem zu einer Modernisierung der Chemieindustrie beitragen. Chinas Wettbewerbsvorteil – jetzt, da das BSP pro Person 8.000 USD überschritten hat und in Großstädten wie Schanghai bereits 20.000 USD erreicht – liegt nicht länger in niedrigen Arbeitskosten, sondern im riesigen Binnenmarkt, insbesondere auf Gebieten wie Gesundheitsfürsorge, Unterhaltung, Ernährung und hochwertige Materialien.

Im letzten Jahrzehnt hat sich die Position ausländischer Chemieunternehmen in China verschlechtert. Wachstumsraten, die aus westlicher Sicht beeindruckend schienen, lagen tatsächlich deutlich unter dem Marktwachstum und bedeuteten also den Verlust von Marktanteilen. Die dafür genannten Gründe schließen häufig das “non-level playing field“ ein, also der Gedanke, dass sich nur ausländische Unternehmen an die geltenden Gesetze zu halten hatten, insbesondere im Umweltbereich. Dies gilt derzeit sicherlich nicht mehr, da Chinas Umweltkampagne alle Unternehmen betrifft und ja auch von einer gewichtigen Antikorruptionskampagne begleitet wird.

Die nächsten Jahre bieten ausländischen Unternehmen daher große Chancen, ihre Erfahrung auf den Gebieten der umweltfreundlichen Chemikalienproduktion und der Produktion höherwertiger Materialien zu nutzen. Gleichzeitig profitieren sie dabei von der durch die Umweltgesetzgebung reduzierten Konkurrenz, insbesondere in Bezug auf nicht gesetzeskonforme Wettbewerber. Wenn chinesische Unternehmen sich erst einmal im Detail auf die neue Situation eingestellt haben, wird es für ausländische Unternehmen wieder deutlich schwieriger werden, sich gegen lokale Wettbewerber zu behaupten. Schließlich ist die Chemieindustrie eine eher reife Industrie, in der es leichter ist, sich den führenden Wettbewerbern technologisch anzunähern, als es für diese ist, neue Konkurrenzvorteile zu schaffen. Ausländische Chemieunternehmen in China sollten daher die nächsten Jahre gut nutzen.

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