Märkte & Unternehmen

Die Chemie wird weiblicher

Frauen erobern die Vorstände deutscher Chemieunternehmen

17.05.2023 - Jedes vierte Vorstandsmitglied in den Top-20-Chemieunternehmen Deutschlands ist eine Frau.

Frauen auf den Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft – was lange unmöglich schien, wird mehr und mehr zur Normalität. Seit Beginn des Jahres 2022 stiegen genauso viele Frauen wie Männer in den Vorstand eines Dax-Konzerns auf. Im März 2023 waren 59 der Vorstandsposten in den 40 Unternehmen mit Frauen besetzt (22,8%). Auch in der Chemiebranche zeigt sich der Trend zu mehr Weiblichkeit: Seit Jahresbeginn wurden fünf Frauen in die Führungsgremien der 20 umsatzstärksten deutschen Chemie- und Pharma­unternehmen berufen.

Bereits vor über zwanzig Jahren verpflichtete sich die deutsche Wirtschaft, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen. Doch das Vorhaben kam lange Zeit nur schleppend voran. Bis die große Koalition im Jahr 2021 das zweite Führungspositionengesetz (FüPoG II) auf den Weg brachte. Es sieht ein Mindestbeteiligungsgebot vor, das börsennotierte und paritätisch mitbestimmte Unternehmen mit mehr als drei Vorstandsmitgliedern bei Neubestellungen verpflichtet, mindestens eine Frau und einen Mann ins Gremium zu bestellen. Unter die seit 1. August 2022 geltende Regelung fallen derzeit 63 deutsche Konzerne.

Die verbindliche „Quotenregelung“ für Unternehmensvorstände führte zu einer Trendwende, auch in den Vorstandsetagen der deutschen Chemie. Im Februar 2023 erweiterten Symrise sein Vorstandsteam auf fünf Personen. Seitdem gehört Stephanie Coßmann (Bild 19) als erste Frau dem Führungsgremium des Duft- und Aromaherstellers an. Die Juristin war zuvor Vorständin und Arbeitsdirektorin bei Lanxess. Ihre Nachfolge übernahm die Betriebswirtin Frederique van Baarle (Bild 17). Bei K+S trat Carin-Martina Tröltzsch (Bild 21) im Februar in das Vorstandsteam ein. Die promovierte Agrarwissenschaftlerin führt das Unternehmen gemeinsam mit zwei männlichen Kollegen.

Damit bleibt nur ein Vorstandsteam unter den Top-20-Unternehmen der deutschen Chemieindustrie frauenlos: Der Altana-Konzern – der sich im Besitz von Susanne Klatten, der reichsten Frau Deutschlands befindet – wird von drei Männern geführt.
Während in den Top 20 deutschen Chemieunternehmen im Jahr 2015 lediglich sieben von 106 Vorstandsmitgliedern (6,6%) weiblich waren, stieg die Zahl der Frauen bis Februar 2021 bereits auf 17 (17,5%).

Zum 1. Juli 2023 zählt die Branche 24 Frauen in den Chefetagen. Damit ist jedes vierte Vorstandsmitglied in den Top-20-Chemieunternehmen Deutschlands eine Frau. Mit 25,3% liegt der Frauenanteil in der Branche deutlich über dem Wert des branchenübergreifenden Women-On-Board Index der Initiative Fidar (Frauen in die Aufsichtsräte) vom Februar 2023, der einen durchschnittlichen Frauenanteil von 17,1% in den Vorständen aller börsennotierten und voll mitbestimmten Unternehmen ermittelt.

 

 

„Jedes vierte Vorstandsmitglied
in den Top-20-Chemieunternehmen Deutschlands
ist eine Frau.“

 



„Wenn man die scharfe Kritik am Mindestbeteiligungsgebot bedenkt, ist man positiv überrascht, wie schnell und geräuschlos die Vorgabe umgesetzt wurde. Denn klar ist: Es gibt genügend qualifizierte Frauen für Spitzenfunktionen der Wirtschaft. Unser Ziel bleibt mittelfristig eine paritätische Besetzung der Führungsgremien“, kommentiert Anja Seng, Präsidentin von Fidar, die Entwicklung.
Rückenwind könnte hier die verbindliche EU-weite Frauenquote für Aufsichtsräte und Vorstände ab Juni 2026 geben. Nach der EU-Führungspositionenrichtlinie können Staaten zwischen zwei Modellen wählen: Mindestens 40% der nicht geschäftsführenden Aufsichtsratsmitglieder müssen Frauen (oder Männer) sein. Oder: Der durchschnittliche Frauen- oder Männeranteil in Aufsichtsrat und Vorstand zusammen muss mindestens 33% betragen. Aktuell liegt der Frauenanteil in Aufsichtsräten in der EU bei 30,6%, in Vorständen gar nur bei 8,5%.

Zwei Gründe begrenzen den Aufstieg von Frauen

Die Quote wirkt, doch sie begrenzt auch zugleich den Frauenanteil in den Vorständen der Unternehmen. Meist schaffen es maximal zwei Frauen in die Vorstandsetage, danach ist Schluss. Das ergab eine aktuelle Studie des ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, die das Geschlechterverhältnisse in Vorständen und Aufsichtsräten von über 3.000 Unternehmen in Europa im Zeitraum von 2002 bis 2019 untersucht. Dabei identifizierten die Forschenden zwei Effekte.

Erstens: Je höher der Frauenanteil in Führungspositionen in einem Unternehmen, desto unwahrscheinlicher ist die Besetzung einer Führungsposition mit einer weiteren Frau. Dabei handelt es sich um den Sättigungseffekt.

Zweitens: Die Chance der Beförderung einer Frau in eine Führungsposition ist höher, wenn eine andere Frau aus der Führungsposition ausscheidet. Die Studienautoren sprechen hier vom Ersetzungseffekt.

„Allein durch Arbeitsmarktmechanismen gelingt es daher kaum, die ungleiche Verteilung von Männern und Frauen in Top-Positionen zu beenden“, sagt Hanna Hottenrott, ZEW Research Associate und Professorin für Innovationsökonomik an der TU München. „Frauen sprechen häufig von unsichtbaren und unüberwindbaren Hürden beim beruflichen Aufstieg in Spitzenpositionen. Dadurch werden ausgewogen besetzte Vorstände verhindert. Um das zu ändern, braucht es einen Kulturwandel“, sagt Hottenrott.

Dieser lässt sich derzeit bei Beiersdorf beobachten. Mit Astrid Hermann (Bild 14), Nicola D. Lafrentz (15) und Grita Loebsack (16) gehören gleich drei Frauen dem paritätisch besetzten Vorstandsteam an. Nicht nur auf Vorstandsebene strebt das Unternehmen einen Frauenanteil von 50% an: Bis spätestens 2025 soll die Geschlechterparität im Consumer-Bereich auf allen vier Führungsebenen unterhalb des Vorstands erreicht sein. Ein ­realistisches Ziel: Ende 2021 lag der Frauenanteil hier bereits bei 47,1%.

Je diverser, desto erfolgreicher

Die Bemühungen um mehr Diversität des Konsumgüterkonzerns dürften sich schon bald auszahlen. Darauf lassen die Ergebnisse einer Studie von McKinsey aus dem Jahr 2020 schließen, nach der Inklusion und Diversität maßgeblich sind für den Geschäftserfolg. Unternehmen mit hoher Genderdiversität haben eine um 25% höhere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Betrachtet man den Faktor der ethnischen Diversität (die Internationalität des Vorstands), liegt dieser Wert sogar bei 36%. „Entscheidend ist es, dass im Top-Management möglichst verschiedene Stimmen gehört und unerwartete Fragen gestellt werden – deshalb reicht es nicht, eine Quotenfrau zu benennen und das Thema Diversität dann abzuhaken“, so Julia Sperling, Partnerin und Expertin für Diversity bei McKinsey. „Diversität schafft keine Harmonie, sondern erfordert Energie. Es ist deutlich einfacher, Entscheidungen in einer homogenen Gruppe zu treffen, in der ohnehin alle einer Meinung sind. Aber unsere Studie beweist eindeutig: Die Mühe lohnt sich.“

„Quoten machen dann Sinn, wenn sie nicht zu Alibibesetzungen einladen“, bestätigt auch Hottenrott vom ZEW. Ihre Studie ergab, dass Männer häufiger in Spitzenpositionen befördert werden, während Frauen eher auf Führungspositionen mit geringerem Einfluss landen. „Wenn die Gleichstellung von Mann und Frau erreicht und Diskriminierung überwunden werden soll, kommt es also auf den Stellenwert der Jobs für Frauen an“, so Hottenrott. Auch hier kann sich die Entwicklung in der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie sehen lassen. Im Mai 2021 berief der traditionsreiche Darmstädter Merck-Konzern mit der Spanierin Belén Garijo (Bild 7) erstmals eine Frau an die Spitze eines Dax-Unternehmens. Heute werden auch die Medizinprodukthersteller Fresenius Medical Care (Helen Giza, Bild 4), B. Braun Melsungen (Anna Maria Braun, 12) und Paul Hartmann (Britta Fünfstück, 23) von einer Frau geführt.

Und der Nachwuchs steht bereits in den Startlöchern: Vor wenigen Tage kündigte Merck Helene von Roeder (Bild 8), derzeit noch im Vorstand des Immobilienkonzerns Vonovia, als künftige Finanzchefin und Nachfolgerin von Marcus Kuhnert an. Sie wird ab 1. Juli 2023 neben Garijo die zweite Frau im insgesamt fünfköpfigen Führungsgremium des Familienunternehmens. Dort wird sie neben Finanzen auch für die Konzernfunktionen Informationstechnologie sowie Beschaffung zuständig sein. Von Roeder kennt die Finanzwelt von Kind auf. Ihr Vater Max Dietrich Kley war Finanzvorstand von BASF, ihr Onkel Karl-Ludwig Kley langjähriger Vorsitzender der Geschäftsführung bei Merck. Bereits heute wird sie als Kandidatin für die Nachfolge von Garijo gehandelt, deren Vertrag Mitte 2026 endet.

Mehr MINT-Frauen im Vorstand

Die 52-jährige Physikerin steht zudem stellvertretend für zwei weitere Trends in den Vorstandsetagen deutscher Dax-Unternehmen: Nach einer Analyse des Handelsblatts vom März verjüngen die seit 2022 hinzugekommen Vorständinnen den Altersdurchschnitt in den Chefetagen deutlich; darüber hinaus hat jede Vierte von ihnen einen Abschluss in einem eher männerdominierten MINT-Fach, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Damit übernehmen sie eine weitere Vorbildfunktion für junge Frauen.

Andrea Gruß, CHEManager

© Images | (1) BASF, (2) Bayer, (3, 4) Fresenius, (5) Boehringer Ingelheim, (6) Henkel, (7,8) Merck, (9) BioNTech, (10) Covestro, (11) Evonik, (12, 13) B. Braun Melsungen, (14, 15, 16) Beiersdorf, (17) Lanxess, (18) Wacker, (19) Symrise, (20) Stada Arzneimittel, (21) K+S, (22) Fuchs Petrolub, (23) Hartmann, (24) Westfalen.

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