Anlagenbau & Prozesstechnik

Digitalisierung verschafft Mehrwert

NAMUR Hauptsitzung stellt funktionale Sicherheit und Nachhaltigkeit in den Fokus

22.02.2023 - Als Interessenverband der Anwender von Automatisierung und Digitalisierung leistet die NAMUR einen bedeutenden Beitrag zur Wertschöpfung in der Prozessindustruie.

Mein persönliches Highlight im jährlichen Zyklus von Messen, Ausstellungen und Tagungen ist seit vielen Jahren die Hauptsitzung der NAMUR, der „Interessengemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie“, die im November 2022 nach zwei Jahren im Online-Modus endlich wieder in Präsenz stattfand. Wie die bekannte Spitze des Eisbergs ist sie das für alle sichtbare Symbol für die permanente Arbeit der Arbeitsfelder und Projektgruppen mit vielen regelmäßig veröffentlichten Dokumenten.

Sichere und effiziente Prozesse durch Automatisierungskompetenz und die Erarbeitung praxisnaher Arbeitsergebnisse unter der Berücksichtigung von Sicherheit, Umweltschutz und Gesundheit: Das ist eines der Ziele der NAMUR. Als Interessenverband der Anwender von Automatisierung und Digitalisierung leistet sie einen Beitrag zur Wertschöpfung der Unternehmen und steht für verantwortungsbewusstes Handeln nach dem Aspekt der Nachhaltigkeit.
Die Hauptsitzung der NAMUR ist das überragende jährliche Ereignis: Ein Kongress für Mitglieder und Gäste der NAMUR, die von einem Herstellerunternehmen gesponsert wird. Die jährlich wachsende Teilnehmerzahl verlangt ein entsprechendes Tagungszentrum: Nach vielen Jahren in Lahnstein und dann in Bad Neuenahr wurde 2022 erneut ein noch größeres Tagungshotel nötig und in Neuss gefunden. Etwa 600 Teilnehmer erlebten die Tagung, die unter dem Motto „Sustainable Lifecycle Risk Management“ stand, vor Ort.

 

© Bayer Felix Hanisch, Head of Process & Plant Safety, Bayer und VV der NAMUR

„Der Lebenszyklus einer Sicherheitsfunktion reicht von der Identifikation ihres Bedarfs bis hin zur regelmäßigen Prüfung."

 

Digitalisierung der funktionalen Sicherheit

In der Prozessindustrie sind das Sicherheitskonzept und der regelmäßige Nachweis der Sicherheit die Voraussetzungen für die Betriebsgenehmigung einer Anlage. Entsprechend umfangreich und komplex sind die Pflichten der Betreiber bei der Planung und beim Betrieb von Sicherheitseinrichtungen.

„Der Lebenszyklus einer Sicherheitsfunktion beginnt bereits mit der Identifikation ihres Bedarfs, geht über Spezifikation und Implementierung bis hin zur regelmäßigen Prüfung“ erläutert Felix Hanisch, Head of Process & Plant Safety bei Bayer und Vorstandsvorsitzender der NAMUR. „Für eine Optimierung des Zyklus braucht es zwei Dinge: Erstens müssen wir in jedem einzelnen Abschnitt so effizient wie möglich vorgehen, also zum Beispiel unnötige Funktionen direkt vermeiden und Prüfungen so aufwandsminimal wie möglich gestalten. Zweitens brauchen wir ein durchgängig digitales und mit standardisierten Schnittstellen ausgestattetes Abbild der Arbeitsschritte. Mit diesem Abbild schaffen wir es letztlich auch, ein Maximum an Erfahrungen in neue Funktionen zu übertragen und diese so von vorneherein optimal zu gestalten.“

Als Sponsor der Hauptsitzung 2022 präsentiert HIMA ein Gesamtkonzept zur Digitalisierung der funktionalen Sicherheit mit Mehrwert. „Die Systeme der funktionalen Sicherheit wandern aus einer Randposition heraus immer weiter ins Zentrum der Anlagenautomatisierung”, verdeutlichte Jörg de la Motte, CEO von HIMA: „Früher galt: Sicherheitssysteme sind vorhanden, schalten hin und wieder die Anlagen ab und liefern spärliche Informationen über das ‚Warum‘ aufgrund magerer Daten, die über simple Schnittstellen übertragen wurden. Wir sehen, dass sich das aufgrund des Trends zu Digitalisierung ändert“. Sicherheitssysteme werden zunehmend zu Datendrehscheiben, die neben den eigentlichen Sicherheitsfunktionen weitere Daten verarbeiten und verteilen müssen. „In 2030 wird die funktionale Sicherheit weitgehend digital sein müssen, um die Betreiberanforderungen erfüllen zu können“, meint de la Motte.

Damit dabei die ursprüngliche Sicherheitsfunktion nicht beeinträchtigt wird, sind Security-Maßnahmen extrem wichtig. Peter Sieber, Vice President Strategic Marketing bei HIMA, betont, dass Security nicht nur eine Aufgabe bei der Entwicklung der Sicherheitssysteme ist, sondern vor allem auch in der Betriebs­phase gelebt werden muss.

 

© HIMA  Jörg de la Motte, CEO, HIMA

„Die Systeme der funktionalen Sicherheit wandern immer weiter ins Zentrum der Anlagenautomatisierung.”

 

Digitalisierung bahnt den Weg zur Nachhaltigkeit

Natürlich war auch das prominente Thema „Nachhaltigkeit“ präsent auf der Hauptsitzung: Klaus Schäfer, CTO von Covestro, schilderte in seinem Vortrag „Volle Automatisierung. Null Emissionen – Die Rolle der Digitalisierung auf dem Weg zur Klimaneutralität“, wie ein energieintensives Unternehmen wie Covestro erfolgreich den Weg zur Klimaneutralität beschreiten kann. Dabei ist Digitalisierung ein wichtiger Hebel, um eine Kreislaufwirtschaft und eine klimaneutrale Produktion möglich zu machen.

Digitale Lösungen haben das Potenzial, die Forschung und Entwicklung zu beschleunigen – etwa bei innovativen Recyclingtechnologien oder Rohstoffalternativen. Mit digitalen Datenerfassungssystemen lassen sich Informationen über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes hinweg sammeln und so der Aufbau von dringend notwendigen Stoffkreisläufen massiv beschleunigen. Automatisierte Anlagen können Prozesse mit maximaler Effizienz fahren. Teil der Digitalisierungsstrategie von Covestro ist deshalb eine fortschreitende Automatisierung der Produktion. Das birgt zahlreiche Chancen: Autonome Anlagen können nicht nur Sicherheit und Produktqualität maximieren, sondern mit umfangreichen Datenanalysen und Simulationen dabei unterstützen, die Energieeffizienz weiter zu steigern und Wertschöpfungsketten kontinuierlich zu optimieren. Die Vision von Klaus Schäfer: „Vollständig digitalisierte Anlagen sind sicher, effizient, zuverlässig, vorhersehbar, transparent, nachverfolgbar, konform und tragen dem demografischen Wandel Rechnung.“

Digitalisierung für Nachhaltigkeit und Effizienz wird auch auf der nächsten NAMUR-Hauptsitzung am 23. und 24. November 2023 in Neuss im Mittelpunkt stehen: Der Sponsor Schneider Electric wird das Motto „Open Automation and Digitalization for Sustainability and Efficiency“ aufgreifen. Jessica Bethune, Cluster Lead Central Europe für Process Automa­tion bei Schneider Electric und Managing Director von Schneider Electric Systems betont: „Nachhaltigkeit und Effizienz sind aus meiner Sicht tatsächlich die derzeit größten Herausforderungen der Industrie: Wenn wir die Klimaziele, die wir uns gemeinsam gesetzt haben, wirklich zeitnah erreichen sowie die wirtschaftliche Zukunft unserer Unternehmen sichern wollen, müssen wir aufhören an der Vergangenheit festzuhalten. Nur durch Technologien wie MTP und NOA schaffen wir Lösungen für offene, flexible & digital-steuerbare Infrastrukturen, die einen effizienten Einsatz von Menschen, Ressourcen und Maschinen ermöglichen.“

 

© Hima  Peter Sieber, Vice President Strategic Marketing, HIMA

„Security ist nicht nur eine Aufgabe bei der Entwicklung der Sicherheitssysteme, sondern muss vor allem in der Betriebsphase gelebt werden.“

 

NENAs und Positionspapiere

Die von der NAMUR erstellten Em­pfehlungen (NE) und Arbeitsblätter (NA) erläutern Vorgehensweisen, bieten Arbeitshilfen wie Checklisten und legen Anforderungen an Geräte und Systeme fest. Sie sind nicht als Normen oder Richtlinien anzusehen, beschreiben aber – in technisch ausgereifter und umfangreicher Form – den Stand der Technik und dienen häufig als Grundlage für Gespräche mit Herstellern und beeinflussen Normungsvorhaben. Ergänzt werden die NENAs seit Kurzem durch Positionspapiere und Praxiserfahrungen aus den Arbeitskreisen, die zeitnah Erfahrungen aus den Arbeitskreisen der NAMUR zur Verfügung stellen und als Diskussionsgrundlage sowohl innerhalb der Prozessindustrie als auch mit Herstellern sowie anderen Gremien und Organisationen dienen können.

Das aktuelle Positionspapier des NAMUR Arbeitskreises 1.4 „Verwaltungsschale“ bspw. diskutiert, wie typische Aufgabenstellung der PLT mit Hilfe von Verwaltungsschalen (VWS oder AAS, Asset Administration Shell) abgebildet werden können. Die VWS bildet eine virtuelle Hülle um die in den Anlagen vorhandenen Assets und hat den Zweck, die Eigenschaften und Operationen, die ein physikalisches Asset hat oder anbietet, digital zur Verfügung zu stellen. Dazu werden verschiedene Typen der Verwaltungsschale – statisch und dynamisch – betrachtet und deren Organisation in Teilmodellen, die unterschiedliche Aspekte des Assets repräsentieren.

Um die Arbeit mit Verwaltungsschalen und deren Teilmodellen zu vereinfachen, wird eine vereinheitlichte Modellierung angestrebt. Zu diesem Zweck werden Teilmodell-Templates definiert und veröffentlicht. Derzeit sind nur zwei Teilmodell-Templates vollständig spezifiziert und veröffentlicht. Eine Übersicht der veröffentlichten und in Entwicklung befindlichen Templates findet sich auf den Internetseiten der Industrial Digital Twin Association (IDTA).

 

NE171: Modulare Anlagenkonzepte in der produktionsnahen Logistik

Aufgrund der Marktforderung nach höherer Flexibilität und Individualität werden heute modulare Produktionsanlagen in der Prozessindustrie realisiert. Die entstehenden Potenziale können nur genutzt werden, wenn die verbundenen Logistikprozesse gleichermaßen flexibilisiert werden. Um eine modulare Automatisierungstechnik umzusetzen, wurde für Produktionsanlagen das Modul Type Package (MTP) als herstellerneutrales Modulbeschreibungsmittel für verfahrenstechnische Module entwickelt. Mit Hilfe des MTP kann ein Modul nahtlos in eine übergeordnete Automatisierungsebene integriert werden.

In NE 171 werden die automatisierungstechnischen Anforderungen der Anwendung des modularen Anlagenkonzepts in der produktionsnahen Logistik, die Einsatzmöglichkeiten des MTP sowie nötige Anpassungsbedarfe für dessen Anwendung in der Logistik dargestellt. Um die Modularisierung produktionsnaher Logistikanlagen auch aus automatisierungstechnischer Sicht voranzutreiben, ist es demnach erforderlich, das Konzept des MTP und seiner Nutzung weiter zu entwickeln. Andererseits ist es notwendig, dass die beschriebenen Anforderungen und Lösungsansätze wie das MTP von den Herstellern von Logistikanlagen aufgegriffen und in künftigen Produktgenerationen berücksichtigt werden. In beiderlei Hinsicht soll die Empfehlung ihren Beitrag leisten und das Plug- & Operate-Prinzip durch aufwandsarm miteinander zu verschaltende und zu rekonfigurierende Anlagen auch in der produktionsnahen Logistik voranbringen.

 

© Schneider Electric  Jessica Bethune, Managing Director, Schneider Electric Systems

„Nachhaltigkeit und Effizienz sind aus meiner Sicht die derzeit größten Herausforderungen der Industrie.“

 

NE185: Qualifizierung modularer Anlagen im GMP-Umfeld

Die NE 185 soll insbesondere den pharmazeutischen Herstellern mit modularen Produktionsanlagen und PEA-Lieferanten im regulierten GMP-Umfeld eine Umsetzungsem­pfehlung an die Hand geben, um modulare Produktionsanlagen im regulierten GMP-Umfeld zu qualifizieren und den Qualifizierungsstatus über den Lebenszyklus der Produktionsanlage aufrecht zu erhalten.

Dazu hat sich der NAMUR-Arbeitskreis 2.4.1 „Process Orchestration“ im Jahr 2019 mit dem Arbeitskreis 2.3.1 „Batch Control“ zusammengeschlossen mit dem Ziel, die Anforderungen an MTP und Process Orchestration gemeinsam zu erheben und bisherige Arbeiten für MTP und modulare Produktion fortzusetzen. Mehrere Untergruppen befassten sich mit den Themen „POL-Funktionsanforderungen für MOM (Manufacturing Operations Management) und Process Control“, „Plug and Unplug-Anforderungen von Prozessausrüstungsbaugruppen (PEA)“, „Technische und kommunikative Integrations- und Datenmodellierungsaspekte“ sowie „Definition des Validierungsumfangs abgeleitet von betrieblichen Anforderungen in der regulierten Industrie für die modulare Produktion“.

NA099: Explosionsschutzdokument

Das NAMUR-Arbeitsblatt soll die Mitgliedsfirmen bei der Erstellung von Explosionsschutzdokumenten unterstützen. Die vorgestellte Struktur ermöglicht dabei eine einheitliche Vorgehensweise für eine größere Anzahl von Betriebsstätten/Betrieben/Anlagen und eine einfache Anpassung des Dokuments an betriebliche Veränderungen. Das NA099 gibt Hilfen für Arbeitgeber in der Prozessindustrie zur Erstellung eines Explosionsschutzdokuments. Es gilt für Anlagen in explosionsgefährdeten Bereichen im Sinne des Anhangs 2 Abschnitt 3 der Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsmitteln (Betriebssicherheitsverordnung – BetrSichV) in Deutschland.

 

© privat  Volker Oestreich, CHEManager

„Wie die Spitze des Eisbergs steht die NAMUR Hauptversammlung als sichtbares Zeichen für die Arbeit ihrer Projektgruppen.“

 

Automatisierungskompetenz mit Zukunftsorientierung

Die Erarbeitung praxisnaher Arbeitsergebnisse unter der Berücksichtigung von Sicherheit, Umweltschutz und Gesundheit sowie verantwortungsbewusstes Handeln nach dem Aspekt der Nachhaltigkeit sind Ziele der NAMUR. Die ganzheitliche Betrachtung von verfahrenstechnischen Prozessen steht bei der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen im Vordergrund. Sie greift Zukunftsthemen mit Bedeutung für die Prozessführung auf und fördert praxisrelevante Entwicklungen. Und sie kümmert sich nachdrücklich um die Sicherung des Ingenieurnachwuchses für die zukünftigen Herausforderungen in der prozesstechnischen Produktion – ein ganz wichtiges Thema bei der demografischen Struktur unserer Gesellschaft. Spannende Themen – ich jedenfalls freue mich jetzt schon auf die NAMUR Hauptversammlung 2023 am 23. und 24. November in Neuss.

Autor: Volker Oestreich, CHEManager

 

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