Märkte & Unternehmen

Härtere Zeiten für Chinas Chemieindustrie

2023 war kein großartiges Jahr, aber die langfristigen Aussichten in China sind immer noch gut

24.01.2024 - Die Gewinne großer chinesischer Chemieunternehmen sanken von Januar bis September 2023 um 47 %. Trotz dieser aktuellen Schwäche wäre es jedoch falsch, die längerfristigen Aussichten der chinesischen Chemieindus­trie sehr pessimistisch zu beurteilen.

Im Januar 2023 schrieb das US-amerikanische Branchenmagazin C&EN sinngemäß: „Nach einem holprigen Jahr 2022 ist Chinas Chemieindustrie bereit, in diesem Jahr von der Aufhebung der Null-Covid-Politik zu profitieren.“ Diese Prognose erwies sich als falsch. Tatsächlich sanken die Gewinne großer chinesischer Chemieunternehmen im Zeitraum von Januar bis September 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum im Jahr 2022 um 47 % – ein viel größerer Rückgang als der Rückgang von 9 %, der über alle Branchen in China beobachtet wurde. 

Zugegebenermaßen spiegelt diese Entwicklung teilweise ein globales Phänomen wider. Eine Analyse von Nikkei Asia ergab, dass von allen untersuchten Branchen der Chemiesektor im dritten Quartal 2023 den größten Gewinnrückgang verzeichnete. Allerdings sind viele der Gründe für die aktuelle Schwäche der chemischen Industrie Chinas landesspezifisch. Hersteller vieler Grundchemikalien und Polymere, darunter Düngemittel, Styrol und PVC, leiden unter Überkapazitäten und entsprechend niedrigen Auslastungen der Produktionsanlagen. 2022 lag die Kapazitätsauslastung der chinesischen Chemieindustrie bei 76,7 %, ein Rückgang um 1,4 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr und damals ein deutlich niedrigerer Wert als in der westlichen Chemieindustrie. 

Bei einigen wichtigen Chemikalien liegen die Auslastungsraten sogar noch deutlich niedriger. Bei Polycarbonat und bei PA66 beträgt die Kapazitätsauslastung nur etwa 60 %. Bei PTA sank die Kapazitätsauslastung von etwa 83 % im Jahr 2019 auf 75 % im Jahr 2022, da das Kapazitätswachstum das Nachfragewachstum bei weitem übertraf. In einigen Fällen koexistieren Überkapazitäten mit hoher Importabhängigkeit, bspw. bei Polyethylen, da es sich bei einem erheblichen Teil der importierten Materialien um Spezialqualitäten handelt, die nicht von chinesischen Herstellern angeboten werden.

Eine China-Spezialität: Strategisches Crowding

Zu dieser Liste werden weitere Chemikalien hinzukommen, da die chinesische Chemieindustrie besonders anfällig für das zu sein scheint, was Unternehmensberater höflich als „strategisches Crowding“ bezeichnen. Damit wird die Tendenz chinesischer Unternehmen beschrieben, alle gleichzeitig in die gleichen gerade besonders angesagten Branchensegmente zu investieren – unabhängig davon, ob das einzelne Unternehmen über spezifische Erfolgsfaktoren in diesem Segment verfügt. Infolgedessen gehen Prognosen davon aus, dass z. B. Chinas Selbstversorgungsraten für Propylen und p-Xylol bis 2025 116 % bzw. 118 % erreichen werden. Und anders als bei den zugegebenermaßen in China auch in der Vergangenheit nicht seltenen Überkapazitäten sinkt durch das deutlich langsamere Wachstum der Gesamtwirtschaft die Wahrscheinlichkeit, dass diese schnell von der wachsenden Nachfrage absorbiert werden.

Die geringe Kapazitätsauslastung der chinesischen Chemieindus­trie wird besonders deutlich, wenn man die Raffineriekapazität Chinas mit derjenigen der USA vergleicht. Während die chinesische Kapazität mittlerweile größer ist als die der USA, ist die tatsächlich in den USA verarbeitete Menge (mehr als 800 Mio. t) wesentlich höher als in China (weniger als 700 Mio. t), was auf eine ungefähre Kapazitätsauslastung von 70 % in China gegenüber 90 % in den USA hinweist.

„Selbst ein für China dürftiges Marktwachstumsrate von 3–4 % übersteigt das der westlichen Märkte immer noch bei weitem.“



Geringe Kapazitätsauslastung als Folge der schwachen Nachfrage

Natürlich deutet die geringe Kapazitätsauslastung in erster Linie auf eine schwache Inlandsnachfrage hin. Insbesondere ein Faktor trifft die chemische Industrie, nämlich die Schwäche des chinesischen Bausektors. Die Nachfrage nach vielen chemischen Produkten, von Anstrichfarben über Bauchemikalien bis hin zu Kunststoffen für Kabel, Rohre und Elektrogeräte, hängt direkt oder indirekt von der Anzahl der gebauten Wohnungen ab. Damit befindet sich die Chemieindustrie in einer schlechteren Situation, als allein aufgrund des derzeit insgesamt geringen Wirtschaftswachstums in China zu erwarten wäre.

Darüber hinaus gibt es noch weitere Themen, die speziell die Chemiebranche betreffen:

  • In der Petrochemie ist Chinas Kostenposition im Vergleich zu der großer nicht-chinesischer Konkurrenten schwach, da die Region laut S&P Global die weltweit höchsten Rohstoffkosten aufweist.
  • Die staatliche Unterstützung für viele Grundchemikalien geht zurück, da das Ziel der Selbstversorgung in greifbare Nähe rückt und die regionalen Behörden über Alternativen für die Industrieentwicklung verfügen, die als weniger riskant gelten.
  • In einigen Segmenten ist der chinesische Weltmarktanteil bereits sehr hoch, was das Potenzial für weiteres Wachstum stark einschränkt. So entfielen bspw. 2022 bereits 72 % des Weltmarktes für Chemiefasern auf China.
  • Verschärfte Umwelt- und Sicherheitsvorschriften verursachen zusätzliche Kosten und Einschränkungen für Chemiebetriebe, ebenso wie Inspektionen, wie sie das Ministerium für Notfallmanagement im Mai 2023 angekündigt hat.


Chinesische Unternehmen reagieren auf Überkapazitäten

Einige chinesische Chemieunternehmen reagieren bereits auf das schwierigere Geschäftsumfeld. Sie verfolgen hauptsächlich zwei Ansätze. Einer, der bislang nur zögerlich genutzt wird, ist die Ausweitung des globalen Geschäfts, wie es Wanhua Chemical mit der frühen Übernahme von Borsodchem einleitete und fortsetzte. Kürzlich hat der Effektpigmenthersteller Global New Materials seinen koreanischen Konkurrenten CQV übernommen und auch für das Perlglanzpigmentgeschäft von Merck mitgeboten. Trina Solar plant den Bau einer großen Fotovoltaikanlage in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Und Berichten zufolge gehören mehrere chinesische Chemieunternehmen, darunter Wanhua und CNOOC, zu den Bietern für Shells Chemie­anlagen in Singapur.

Der andere Ansatz besteht darin, in Spezialchemikalien und andere innovative Chemiesegmente vorzudringen, um Wachstum und höhere Rentabilität zu ermöglichen und dem härteren Wettbewerb zu entgehen. Wanhua wird bspw. seine Superabsorber-Produktion steigern und auch in eine Reihe neuer Bereiche wie Lithiumsalze, Fotovoltaik, Nylon 12 und Ernährung vordringen. Kingfa investiert in hochwertige Polymere wie Polyphenylensulfon/Polyethersulfon. Und die staatlichen Ölkonzerne investieren in die Wasserstoffwirtschaft, wobei Sinopec besonders aktiv ist. 

Der Übergang zu hochwertigeren Chemikalien und Materialien wird auch in einem Artikel von Joseph Zenick und Keith B. Belton vom American Chemistry Council beschrieben. Dieser Artikel belegt, dass Chinas Portfolio an exportierten Chemikalien zwischen 2000 und 2021 komplexer und hochwertiger geworden ist.

Westliche Unternehmen glauben immer noch an China

Trotz der aktuellen Schwäche wäre es falsch, die längerfristigen Aussichten der chinesischen Chemieindus­trie sehr pessimistisch zu beurteilen. BASF geht nach wie vor davon aus, dass Chinas globaler Chemiemarktanteil bis 2030 bei über 50 % liegen und 75 % zum Wachstum der weltweiten Chemieproduktion beitragen wird, während andere Quellen einen Anteil von 62 % bis 2035 prognostizieren. Jüngste Investitionen westlicher Chemieunternehmen zeigen, dass diese Prognosen ernst genommen werden. Um nur einige Beispiele aus den letzten Monaten zu nennen:

  • AkzoNobel wird in China die Produktionskapazität für 8.000 t/a Hochleistungsbeschichtungen für Windturbinenblätter erweitern.
  • Arkema hat in seinem erweiterten Werk in Nansha mit der Produktion spezieller UV/LED-härtender Harze begonnen.
  • BASF will trotz Kürzungen im Gesamtinvestitionsbudget weiter in Kernbereiche wie China investieren.
  • Clariant wird in Daya Bay, 
  • Huizhou, eine Produktionsanlage für halogenfreie Flammschutzmittel eröffnen.
  • Croda hat den Grundstein für eine Mehrzweckanlage in Guangzhou gelegt.
  • De Nora eröffnete eine neue Elektrodenproduktionslinie für Elek­troden, die in Chlor-Alkali-Anlagen verwendet werden, einem Bereich, in dem China einen Weltmarktanteil von etwa 45 % hat.
  • Evonik startete Kooperationen mit chinesischen Unternehmen in mehreren Bereichen, darunter biobasierte Beschichtungen (Baolijia), Wasserstoffperoxid (Fuhua) und Darmgesundheit von Nutztieren (Shandong Vland Biotech) und erweiterte außerdem seine Fabrik für Edelmetallpulverkatalysatoren in Schanghai.
  • IMCD stieg mit der Übernahme von Guangzhou RBD Chemical in den Vertriebsmarkt für Schmierstoffe ein.
  • Radici steigerte die Produktionskapazität seiner Technopolymere in Suzhou um 100 %.
  • Solvay hat sein Forschungs- und Entwicklungszentrum in Schanghai erweitert.

Nicht zuletzt die bereits bestehende Marktbeherrschung Chinas in einigen Segmenten, die zu den wichtigsten Abnehmern der Chemieindustrie zählen – etwa Solarpaneele, Lithiumbatterien oder Elektrofahrzeuge – lässt darauf schließen, dass diese Investitionen trotz der aktuellen Schwäche der chinesischen Chemie­industrie langfristig erfolgreich sein werden. Westliche Chemieunternehmen, die in China investieren, verlassen sich in erster Linie auf den Absatz im chinesischen Markt („In China für China“) und reduzieren so mögliche Folgen einer weiteren Aufspaltung des globalen Chemiemarkts. Wichtig für diese Unternehmen ist außerdem, dass selbst eine für China dürftige Marktwachstumsrate von 3 – 4 % die der westlichen Märkte immer noch bei weitem übersteigt.

Kai Pflug, Management Consulting – Chemicals, Schanghai, China

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Zur Person

Kai Pflug lebt seit fast 20 Jahren in Schanghai, zunächst als Berater und Generalbevollmächtigter von Contrium/Stratley, seit 2009 als CEO seiner eigenen Strategieberatungsfirma. Er bietet unabhängige Managementberatung für die chemische Industrie an, die auf seiner knapp 25-jährigen Erfahrung in der Unternehmensberatung (u. a. Arthur D. Little, MCC) fußt. Der promovierte Chemiker (Universität Hamburg und University of California, Berkeley) sammelte fünf Jahre Berufserfahrung in der Chemieforschung und im Marketing (­Dentsply), bevor er einen Masterabschluss in Wirtschaftswissenschaften erwarb und in die Beratungsbranche wechselte.

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