Strategie & Management

Kollege KI – Konkurrenz oder Verstärkung?

Kollege KI – Konkurrenz oder Verstärkung?

20.03.2024 - In der zukünftigen Arbeitswelt wird KI Führungsaufgaben übernehmen, sagen Experten. Doch die Überwachung von Menschen müsse, egal durch welche Technologie, verboten sein.

Der befürchtete Verlust von Arbeitsplätzen ist nicht absolut zu betrachten. Die industrielle Revolution hat im Laufe der Zeit nicht nur Arbeitsplätze vernichtet, sondern auch neue bzw. andere geschaffen. Nichts deutet aktuell darauf hin, dass in naher Zukunft eine große „Jobapokalypse“ droht.

Jedenfalls ist die Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahr 2023 stabil geblieben. Die eigentliche Frage ist, ob wir künftig die künstliche Intelligenz (KI) im Job für uns einsetzen – oder ob die KI uns sagt, was wir tun sollen, und uns unsere Aufgaben im Extremfall sogar abnimmt. In einem Artikel der Zeit vom 30. November 2023 wird der Frage nachgegangen, ob wir nun alle arbeitslos würden. Antwort: Nein, das sei aktuell nicht zu befürchten. Das „Bedrohungsszenario“ habe sich aber in den letzten zehn Jahren drastisch verändert. Jahrzehntelang galt, dass eine akademische Ausbildung praktisch eine Versicherung gegen den Wegfall des Jobs durch Automatisierung und Digitalisierung darstelle. Bedroht waren eher manuelle Tätigkeiten und Kontrollaufgaben, für die weder Flexibilität noch physische oder geistige Anpassungsfähigkeit notwendig waren, sondern die repetitiv und streng regelbasiert ausgeführt werden konnten.

Mit der Veröffentlichung von internetbasierten Sprachmodellen wie ChatGPT (Abkürzung für „Generative Pre-trained Transformers“, eine Familie der Neuronalen Netzwerkmodelle) und anderen generativen künstlichen Intelligenzen hat sich die Situation geändert. Die Autoren der aktuellen Studie „Generative KI und die Zukunft der Arbeit: eine Neubewertung“ kommen zum Schluss, dass jetzt auch Hochschulabsolventen bedroht seien. Sie würden zunehmend unter Druck geraten, noch exzellenter „performen“ zu müssen. Besonders radikal geäußert hat sich in diesem Zusammenhang jüngst Christopher Pissarides, ein mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Arbeitsökonom an der London School of Economics: Pissarides hat die junge Generation vor einem MINT-Studium gewarnt. Arbeitnehmer in bestimmten IT-Berufen liefen Gefahr, ihre eigene „Saat der Selbstzerstörung“ zu säen, indem sie die KI vorantrieben, die in Zukunft ihre Arbeitsplätze übernehmen werde. Langfristig würden seiner Meinung nach hingegen „Management-, Kreativ- und Empathiefähigkeiten, einschließlich Kommunikation, Kundendienst und Gesundheitswesen, wahrscheinlich weiterhin sehr gefragt sein, da sie durch Technologie, insbesondere KI, weniger ersetzbar sind“.

Was ist KI eigentlich?

Im Internet und in Präsentationen wird immer wieder Bezug genommen auf eine Definition, die das Europäische Parlament im September 2020 veröffentlich hat: Demnach werde unter künstlicher Intelligenz die Fähigkeit einer Maschine verstanden, menschliche Fähigkeiten wie logisches Denken, Lernen, Planen und Kreativität zu imitieren. „KI ermöglicht es technischen Systemen, ihre Umwelt wahrzunehmen, mit dem Wahrgenommenen umzugehen und Probleme zu lösen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Computer empfängt Daten (die bereits über eigene Sensoren, z. B. eine Kamera, vorbereitet oder gesammelt wurden), verarbeitet sie und reagiert. KI-Systeme sind außerdem in der Lage, ihr Handeln anzupassen, indem sie die Folgen früherer Aktionen analysieren und autonom arbeiten.“

Der im Sommer 2023 vom Parla­ment verabschiedete Vorschlag für eine KI-Verordnung der Europä­ischen Union („KI-VO“, englisch „AI Act“) enthält erstmalig eine abgestimmte Definition. Der Entwurf definiert KI als „ein System, das so konzipiert ist, dass es mit Elementen der Autonomie arbeitet und das auf der Grundlage von maschinellen und/oder von Menschen bereitgestellten Daten und Eingaben mithilfe von maschinellem Lernen und/oder logik- und wissensbasierten Ansätzen ableitet, wie bestimmte Ziele erreicht werden können, und systemgenerierte Ergebnisse wie Inhalte (aus generativen KI-Systemen), Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen erzeugt“, welche die Umgebungen beeinflussen, mit denen das KI-System interagiert.

KI als Kollege

Generative KI kann und wird Agenturarbeit in Werbung und Medie­n schon kurzfristig ersetzen. Bei Covestro in Leverkusen zeichnet sich das bereits klar ab, so Dimitri Nadeschdin, der im Team von Nils Janus, dem neu gekürten Chief AI Officer und ehemaligen Director of Data Science von Covestro, bei ­Change-Management und -Kommunikation unterstützt. Nadeschdin hat vorher, im „alten Lieblingsjob“, wie er im Interview betont, die Social-Media-Auftritte des Unternehmens geprägt. Viele Social-Media-Posts erstellt heute bereits „Kollege KI“… Beiden macht das keine Angst, im Gegenteil. Sie wollen die Diskussion um Chancen und Risiken von der emotionalen auf die sachliche Ebene führen. Auf philosophischer Ebene werde, so hat Janus das wahrgenommen, gefragt: „Wer ist besser? Wer leitet wen an?“ Die Fragestellung sei ihm zu unspezifisch und nicht generell beantwortbar; es müsse stattdessen auf Sachebene diskutiert werden, Sachverhalte sollen entscheidend sein, bspw. das versprochene und gelieferte Arbeitsergebnis. Das ermögliche dann auch eine steuerbare, optimale und nachvollziehbare Verteilung von menschlicher und künstlicher Arbeitskraft.

Janus und Nadeschdin halten eine EU-KI-Regulierung, in der sich abzeichnenden Form, für überflüssig. Die Verantwortlichen in den Unternehmen müssten die anstehenden Fragen verantwortungsbewusst, als Corporate Citizens beantworten. Ihrer Ansicht nach werde es keine zentralen Vorgaben aus Berlin oder Brüssel geben. Darauf zu warten, erzeuge höchstens eine Schockstarre. Einen Pflock schlagen sie aber ein: „Überwachung von Menschen müsse, egal durch welches Verhalten oder welche Technologie, verboten sein!“

Für Nils Janus ist auch klar: „KI wird zukünftig Führungsaufgaben übernehmen – kein Problem!“ Covestro wird einen geplanten KI-basierten „virtuellen Assistenten“ für die Mitarbeitenden so anlernen, dass dessen Antworten dem Verhaltenskodex und Ethos des Unternehmens entsprechen. Speziell zur Steigerung „sozialer Intelligenz“ in der Führungsarbeit seien KI-Werkzeuge gut geeignet und könnten viele Führungskräfte entlasten. Wenn es z. B. darum ging, Mitarbeitenden zum Geburtstag zu gratulieren und einen Blumenstrauß zu bestellen, hätten das traditionell in den Führungsetagen vieler Unternehmen die Assistenzen übernommen, fügt er mit einem Zwinkern hinzu. „Kollege KI“ könnte aber auch „in der Person“ eines Bots auftreten, der Mitarbeitende und ihre Vorgesetzten im Personalmanagementsystem des Unternehmens bei der Bearbeitung von Aufgaben im besten Sinne mit Rat und Tat begleitet. Führungskräfte müssten verstehen, dass KI für die Chemie ein Do-or-die-Thema sei, betont Nadeschdin: „Das Tempo der KI-Entwicklung und -Adaption wird alle bisherigen Transformationen klar übertreffen und daher ein flexibles und ressourcenschonendes Innovationsumfeld erfordern.“

Regulierung mit Augenmaß?

So euphorisch und bedenkenlos erwarten nicht alle den Einzug künstlicher Intelligenz in Industrie und Wirtschaft. Mit ihrem Vorschlag für harmonisierte Vorschriften für KI versucht die EU, KI mit einem risikobasierten Ansatz zu regulieren, bei dem die Anforderungen und Sanktionen in einem angemessenen Verhältnis zu dem Risiko stehen, das von einem System ausgeht. Das Europäische Parlament will durch eine Regulierung der künstlichen Intelligenz mit einem „KI-Gesetz“ sicherstellen, dass die in der EU eingesetzten KI-Systeme sicher, transparent, nachvollziehbar, nichtdiskriminierend und umweltfreundlich sind. KI-Systeme sollten von Menschen und nicht von der Automatisierung überwacht werden, um schädliche Ergebnisse zu verhindern. Am 9. Dezember 2023 erzielte das Parlament mit dem Rat eine vorläufige Einigung über das KI-Gesetz. Der vereinbarte Text muss nun sowohl vom Parlament als auch vom Rat formell angenommen werden, um EU-Recht zu werden.

KI als Helfer oder Entscheider?

Mit KI in der Personalarbeit beschäftigen sich Kollegen im Konzernsprecherausschuss von Covestro inzwischen intensiver. Ein Austausch mit Chief AI Officer Nils Janus steht in Kürze an. Danach werde sich die Sicht „schärfen“, erwartet Kai Laemmerhold, der im Sprecherausschuss Führungsthemen vertritt. „Wir freuen uns auf die gemeinsame Überlegung für die nächsten Schritte und weitere Ausgestaltung mit Nils Janus.“ Er betont, dass der Sprecherausschuss „komplett hinter den Positionen der ULA steht“ und formuliert als Grundbedingung für die Ausgestaltung unternehmensinterner Regelungen, dass „bei der Personalauswahl die letzte Entscheidung immer durch Menschen erfolgen muss“. Der politische Dachverband des VAA hatte erst im Herbst bei der VAA-Jahreskonferenz sein Positionspapier zum Einsatz von KI vorgestellt. Die zehn Punkte umfassenden „Guidelines für Führungskräfte“ dienen als Handreichung für die Sprecherausschüsse und sollen Orientierung geben, wenn es um Transparenz, Weiterentwicklung, Mitbestimmung, Diskriminierungsfreiheit oder Datensicherheit bzw. Privatsphäre bei der Gestaltung von Aufgaben und Arbeitsplätzen in den Unternehmen geht. Bei der Formulierung der Leitsätze wurden Textvorschläge von ChatGPT ausgewertet, beraten und weiterentwickelt.

Führung übernehmen, Wandel gestalten

Das Risiko der Verdrängung von Arbeitsplätzen ist ein großes Problem, aber es ist wichtig zu erkennen, dass KI auch neue Möglichkeiten und Anforderungen für die Unternehmen schafft. Die deutsche Chemiebranche ist bekannt für ihre Innovations- und Anpassungsfähigkeit. Welche Fragen werden Brisanz bekommen und welche Antworten darauf können Führungskräften helfen, um auf die Herausforderungen gestalterisch zu reagieren? Vier Beispiele, entnommen aus dem aktuellen Diskurs:

  • Arbeitnehmervertreter, Management und Beschäftigte sollten zusammenarbeiten, um den potenziellen Auswirkungen von KI tatkräftig zu begegnen. Dialog und Verhandlungen sind entscheidend, um die Rechte und Interessen unserer Belegschaft zu wahren.
  • Investitionen in kontinuierliche Aus- und Weiterbildungsprogramme sind unerlässlich. Die Beschäftigten müssen mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet sein, um mit KI-Systemen zusammenzuarbeiten. Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, die Industrie über ihre Verbände und die Arbeitgeber sollten Initiativen zur Kompetenzentwicklung und Umschulung unterstützen.
  • Es sollte sichergestellt werden, dass die Einführung von KI nicht gegen die Rechte, die Arbeitsplatzsicherheit und das Wohlergehen der Beschäftigten verstößt. Angemessene Schutzmaßnahmen und Garantien sind durch Vereinbarungen zwischen den Tarifparteien festzulegen.
  • Die Förderung des ethischen Einsatzes von KI ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass sie die menschliche Arbeit ergänzt und nicht ersetzt. Transparenz, Rechenschaftspflicht und die Einhaltung ethischer Richtlinien stehen an erster Stelle.

KI-Nutzung ist „Typsache“

Menschen erschließen sich Wissen, recherchieren Information und bewerten die Relevanz von Ergebnissen unterschiedlich. Manche profitieren von der Art der Wissens­aneignung, wie sie durch ChatGPT möglich ist, nämlich zu arbeiten, und lernen durch Brainstorming und gezieltes Nachfragen bei Sprachmodellen und Suchmaschinen. Andere Menschen sammeln zunächst enorm viel Wissen aus Büchern, Veröffentlichungen oder Onlinequellen und prüfen, bewerten und überführen dieses erst später in ihre Arbeit.

Nach den Erfahrungen vieler Führungskräfte, mit denen ich in der Vergangenheit über Change-Manage­ment sprach, gibt es verschiedene „Typen“ von Menschen, und sie werden KI wahrscheinlich auf verschiedene Weise nutzen oder anwenden. Ebenso entscheiden sich Menschen aus ganz persönlichen Gründen und zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten dazu, neue Technologien oder Arbeitsweisen auszuprobieren und zu adaptieren. Mögliche Faktoren können dabei sein: Alter, Intellekt, Bildung, Risikobereitschaft, die Angst vor Nachteilen oder das Streben nach Vorteilen sowie die generelle Veränderungsbereitschaft der Betroffenen. All diese Aspekte sollten durch Arbeitgeber, Arbeitnehmervertreter, Führungskräfte und Beschäftigte bei der Planung, Vorbereitung, Ausgestaltung und späteren Anpassungen von KI-Instrumenten und der begleitenden, unersetzlichen Veränderungskommunikation beachtet werden.

Werden wir Landschaftsbauer?

Der Aufstieg von KI in der deutschen Chemie hat längst begonnen und ist eine Realität, der sich alle stellen sollten. Die Verdrängung von Arbeitsplätzen birgt zwar Herausforderungen, bietet aber gleichzeitig Chancen für Wachstum, Innovation und verbesserte Arbeitsbedingungen. Es liegt auch in der Verantwortung der Fach- und Führungskräfte, diesen Wandel so zu gestalten, dass sowohl die Branche als auch ihre Beschäftigten davon profitieren. Indem Menschen zusammenarbeiten, können sie gemeinsam eine Zukunft gestalten, in der KI und menschliche Arbeit harmonisch nebeneinander existieren und die Stärke und Vitalität der Branche erhalten.

Der VAA wird diese sich entwickelnde Landschaft weiter erforschen und Informationen, Einblicke und Anleitungen bereitstellen, um seinen Mitgliedern zu helfen, sich in der sich verändernden Dynamik zurechtzufinden und die Landschaft mitzugestalten. Lassen Sie uns Einsichten und Ansichten, Ideen und Fragen miteinander teilen.

Autoren: Axel Ditteney-Botzen, Regulatory & Quality Manager, Covestro, Leverkusen, und Simone Leuschner, Redakteurin, VAA, Köln

 

„Führungskräfte müssten verstehen, dass KI für die Chemie ein Do-or-die-Thema ist."

 
Zur Person

Axel Ditteney-Botzen ist Regulatory & Quality Manager im Strategic sowie im Circular & New Materials Procurement bei Covestro. Seit 2021 ist er regelmäßiger Gastautor des VAA-Magazins und hat u.a. Features zu Titelführung in Unternehmen, Crowdworking und Glück verfasst.

„Das Tempo der KI-Entwicklung und -Adaption wird alle bisherigen Transformationen klar übertreffen."

 

Zur Person

Simone Leuschner ist gelernte Fotojournalistin. Seit 2013 ist die Germanistin als freie Bild- und Spezialredakteurin beim VAA Magazin tätig.

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