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Modernisierung des europäischen Gentechnikrechts

Auch Europa benötigt innovative Pflanzenbiotechnologie zur Krisenbewältigung

14.06.2023 - Eine veraltete EU-Regulierung, die innovative Züchtungstechniken pauschal dem strikten Gentechnikrecht unterwirft, setzt praktisch unüberwindbare Hürden für die Entwicklung von bspw. widerstandsfähigeren Pflanzensorten. Im Sommer will die EU-Kommission einen Entwurf zur Modernisierung des europäischen Gentechnikrechts veröffentlichen.

Die moderne Biotechnologie hat ihr Potenzial als Gamechanger längst unter Beweis gestellt – zuletzt bei der rasanten Entwicklung von Impfstoffen zur Eindämmung der Coronapandemie. Während wir vollkommen selbstverständlich die Biotechnologie in der Medizin für neue Therapieansätze nutzen oder in der Industrie biobasierte Produkte entwickeln, bleiben etwa die Potenziale der Genschere CRISPR/Cas9 – einem Verfahren, für das der Chemie-Nobelpreis 2020 u. a. an Emmanuelle Charpentier, Leiterin der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene, nach Deutschland ging – für eine nachhaltige und klimaresiliente Landwirtschaft in Europa ungenutzt. Eine veraltete EU-Regulierung, die solche innovative Züchtungstechniken pauschal dem strikten Gentechnikrecht unterwirft, setzt praktisch unüberwindbare Hürden für die marktreife Entwicklung von bspw. widerstandsfähigeren Pflanzensorten mit Hilfe der Pflanzenbiotechnologie.

Der angesichts von Klimawandel und Artensterben dringend benötigte züchterische Fortschritt könnte mit Hilfe dieser biotechnologischen Technik schneller, präziser, kostengünstiger und sicher erreicht werden. Die aktuellen Herausforderungen sind zu groß, um diese bewährten Lösungen in der Pflanzenzüchtung weiter ungenutzt zu lassen. Zur Bewältigung der multiplen Krisen brauchen wir große Kraftanstrengungen aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Landwirtschaft ist hier besonders stark gefordert und steht vor einem Dilemma:

Einerseits steigt der Bedarf an qualitativ hochwertigen Lebensmitteln in einer Welt mit wachsender Bevölkerung, zunehmenden politischen Krisen und weiterhin auftretenden Hungerkatastrophen. Anderseits erhöht der Klimawandel den Druck auf die verfügbaren Anbau­flächen und Wasserressourcen. Auch der Rückgang der Artenvielfalt gefährdet die auf Bestäuber angewiesene landwirtschaftliche Produktion. Damit landwirtschaftliche Betriebe unter diesen Bedingungen zusätzlich noch die gesellschaftlich geforderte Verringerung des Pflanzenschutz- und Düngemitteleinsatzes erreichen kann, werden dringend Forschung, Innovationen und ein intelligentes Zusammenspiel unterschiedlicher Lösungsansätze benötigt.

 

 

Die aktuellen Herausforderungen sind zu groß, um die bewährten biotechnologischen Lösungen in der Pflanzen­züchtung weiter ungenutzt zu lassen.

 



Modernes, durch biotechnologisches Verfahren entwickeltes Saatgut ist dabei ein Teil der Lösung im großen Werkzeugkoffer der Landwirtschaft – neben bspw. dem zielgerichteten Einsatz risikoarmer Betriebsmittel (wie biologische und neue chemische Pflanzenschutzmittel, Dünger, Biostimulanzien).

Chancen neuer biotechnologischer Verfahren

Im Bereich der Pflanzenzüchtung schlummern in Europa noch große Potenziale. Der züchterische Fortschritt und die Entwicklung neuer Techniken hat in den vergangenen Jahrzehnten rasant zugenommen und dazu geführt, dass die Forschung neue Züchtungsmethoden entwickeln konnte. Neben der Nutzung von Big Data, künstlicher Intelligenz und weiteren digitalen Lösungen (Stichwort: Smart Breeding) kann vor allem die gezielte Mutagenese durch Genome Editing zum beschleunigten züchterischen Fortschritt beitragen. Konkret kann bspw. per Genschere das Erbgut einer Pflanze und somit auch ihre Eigenschaften gezielt verändert werden. Am Ende sorgen die neuen Techniken für Änderungen im Erbgut, wie sie auch auf natürliche Art und Weise vorkommen könnten. Die so gezüchteten Pflanzen lassen sich in der Praxis daher nicht mehr von traditionell gezüchteten Pflanzen unterscheiden, auch weil keine artfremden Gene genutzt werden.

 

Im Bereich der Pflanzenzüchtung
schlummern in Europa noch große Potenziale.



Forschende auf der ganzen Welt haben mittlerweile hunderte Pflanzen auf diesem Weg erzeugt, bspw. mit neuartiger Pilz-, Bakterien- oder Trockenheitsresistenz oder erhöhtem Vitamin- und Nährstoffgehalt. Mit diesen modernen Sorten mit höherer Krankheitsresistenz, besserer Stresstoleranz und Nährstoff­effizienz sowie einem verbessertem Nährwertprofil könnten etwa Pflanzenschutz-Reduktionsziele leichter erreicht und Erträge, trotz erschwerter klimatischer Bedingungen und schrumpfender Ackerflächen, nachhaltig gesichert werden.

Doch nicht nur für robustere Pflanzen benötigen wir neue Züchtungsmethoden. Da aufgrund des Klimawandels der Schädlings- und Krankheitsdruck in unseren Kulturen wächst, muss sich das Saatgut immer schneller den wandelnden Gegebenheiten anpassen. Auch für diesen Wettlauf gegen die Zeit benötigen wir, durch neue Züchtungstechniken erreichbare, schnellere Züchtungserfolge zur zukünftigen Gewährleistung des Ernteschutzes. Außerdem brauchen wir mehr anbaufähige Kulturen auf unseren Feldern. Wenn etwa besonders eiweißhaltige oder klimafreundliche Sorten durch züchterischen Fortschritt bei uns wirtschaftlich anbaufähig wären, könnten wir benötigte Absatzmärkte für politisch gewollte Kulturen schaffen, unsere Importabhängigkeit reduzieren und insgesamt auch die Artenvielfalt durch eine breitere Fruchtfolge fördern.

Wissenschaftlich überholte Regulierung modernisieren

Trotz aller Chancen, der generellen Vergleichbarkeit mit herkömmlich gezüchteten Sorten und der weltweiten Forschung werden aus neuen Züchtungsmethoden entwickelte Pflanzen in Europa nicht genutzt. Denn nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 2018 unterliegen solche Pflanzen pauschal einer für die Gentechnik der 1970er Jahre konzipierten Regulierung – der sog. EU-Freisetzungsrichtline (2001/18/EG). Diese wiederum beruht auf dem Wissensstand der 1990er Jahre. Die Folge: Nur mit enormen Kosten lassen sich Forschung, Entwicklung und Zulassung bewerkstelligen. Entsprechend sind nur wenige große Unternehmen im Grundlagenbereich aktiv. Auf den europäischen Äckern steht Saatgut aus neuen Züchtungstechniken nicht zur Verfügung. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen sind auch zukünftig keine Zulassungen erwartbar.
Die für die alte Gentechnik geschaffene Regulierung ist mit Blick auf neue Züchtungsmethoden nicht mehr wissenschaftlich haltbar – oder um es mit den Worten der renommierten Leopoldina-Gesellschaft zu sagen: „Der […] europäische Regelungsansatz [ist] aufgrund des zunehmenden Auseinanderdriftens von wissenschaftlichem Fortschritt und rechtlicher Normierung nicht mehr rational zu begründen.“ (Vergleiche Leopoldina-Stellungnahme 2019.)

Dass diese neuen Innovationen und der veraltete Rechtsrahmen nicht zusammenpassen, hat auch die EU-Kommission festgestellt und 2021 sowie 2022 öffentliche Konsultationen für einen neuen, wissenschaftlich basierten Rechtsrahmen durchgeführt. Im Sommer will sie einen Entwurf zur Modernisierung des europäischen Gentechnikrechts veröffentlichen. Von der konkreten Ausgestaltung wird abhängen, ob auch europäische Forschungseinrichtungen und Züchtungsunternehmen zukünftig die Chancen der neuen molekularbiologischen Züchtungstechniken ergreifen oder in der Praxis nur die landwirtschaftlichen Betriebe außerhalb der EU von den Innovationspotenzialen profitieren werden.
Von entscheidender Rolle wird in der europäischen Debatte das Verhalten Deutschlands sein. Nach Jahren der Blockadehaltung spricht die Bundesregierung in der im Februar 2023 vorgestellten „Zukunftsstrategie Forschung und Innovation“ nun davon, die „Züchtung von klima- und standortangepassten, robusten und ertragsreichen Sorten voran[zu]bringen [und] die Chancen und Risiken von neuen Züchtungstechniken (z. B. CRISPR/Cas) in den Blick [zu] nehmen.“

Diesen Worten müssen nun Taten folgen und neue Züchtungsmethoden endlich auch in Europa wissenschaftsbasiert bewertet und entsprechend reguliert werden. Eine innovationsfreundliche Regulierung muss Forschende und Züchtende jedweder Größe befähigen, die Potenziale der Biotechnologie zur Bewältigung der eingangs geschilderter Krisen zu nutzen. Oder, um es mit dem Titel des Ampel-Koalitionsvertrags zu sagen: Europa muss mehr Fortschritt wagen!

Heike Köhler, Vorsitzende des Fachbereichs Pflanzenzüchtung, Industrieverband Agrar (IVA) e. V., Frankfurt am Main

ZUR PERSON
Heike Köhler ist seit dem 1. Januar 2020 Geschäftsführerin von Syngenta Seeds mit Sitz im westfälischen Bad Salzuflen. Nach dem Studium und der Promotion mit dem Schwerpunkt Pflanzenzüchtung an der Justus-Liebig-Universität Gießen begann Köhler ihre Berufslaufbahn zunächst 1999 beim Saatgutunternehmen Advanta in Grünberg. Ab 2004 hatte sie verschiedene leitende Positionen in Vertrieb und Marketing bei Syngenta in Deutschland inne und verantwortete zuletzt von Mitte 2017 bis Ende 2019 das Syngenta-Geschäft in Skandinavien.

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