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Nachhaltige Chemie

Chemie und Nachhaltigkeit – für die einen ein Widerspruch, für die anderen sind die Begriffe untrennbar verbunden

14.06.2023 - Weniger ist mehr – so könnte das Zukunftskonzept der Chemie lauten.

Chemie und Nachhaltigkeit – für die einen ein Widerspruch, für die anderen sind die Begriffe untrennbar verbunden. Zu den Letzteren gehört Professor Klaus Kümmerer, Inhaber des Lehrstuhls für Nachhaltige Chemie und stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg und Direktor des Research & Education Hub des International Sustainable Chemistry Collaborative Center (ISC3). Für seine zukunftsweisenden Forschungsleistungen wird er im September 2023 mit dem Wöhler-Preis für Nachhaltige Chemie der GDCh ausgezeichnet. Andrea Gruß sprach mit ihm über die Herausforderungen einer immer komplexeren Chemie und Konzepte für eine nachhaltige chemische Entwicklung.

CHEManager: Herr Professor Kümmerer, die Chemieindustrie hat in den vergangenen 150 Jahren eine Vielzahl neuer Stoffe entwickelt, die es zuvor so nicht gab – wie zum Beispiel Kunststoffe, Farbstoffe, Pestizide oder Flammschutzmittel. Wie vielfältig ist die Chemie von heute?

Klaus Kümmerer: Die Chemieindustrie hat eine enorme Erfolgsgeschichte hinter sich, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele wichtige Verfahren – wie die Ziegler-Natta-Synthese zur Herstellung von Polyethylen – wurden in den 1950er Jahren in der Wissenschaft entdeckt und danach industriell genutzt. Seit dieser Zeit entwickelte sich die Chemie exponentiell, in Bezug auf Tonnagen, aber auch was die Vielfalt molekularer Strukturen und die Zusammensetzung ihrer Produkte anbelangt. Durch das Zusammenwachsen von organischer und anorganischer Chemie zur metallorganischen Chemie beispielsweise entstanden völlig neue Verbindungen. Wurden früher nur einige wenige chemische Elemente für Produkte benutzt, greifen Chemiker heute fast auf das gesamte Periodensystem zurück. So entstehen immer mehr neue Verbindungen, die wir uns lange Zeit gar nicht vorstellen konnten. Heute gibt es weltweit allein etwa 350.000 organische Stoffe auf dem Markt.

Was bedeutet diese hohe Chemo­diversität für uns?

K. Kümmerer: Zunächst einmal viele neue, meist auch nützliche Anwendungen. Alles um uns herum ist ein Ergebnis der Chemie. Mobiltelefone, Automobile, Arzneimittel, Kosmetika, Waschmittel und Textilien beispielsweise wären ohne Chemie nicht möglich. Dabei werden die Produkte immer komplexer – von der atomaren über die molekulare Ebene, aber auch als Mischungen verschiedener Stoffe. Ein Shampoo kann 15 verschiedene Stoffe be­inhalten. Für ein Fußballshirt werden 100 oder mehr Chemikalien benötigt, wenn man den gesamten Lebenszyklus einbezieht. Und für die Produktion von Kunststoffen mit speziellen Eigenschaften gibt es etwa 10.000 Additive am Markt. Diese Vielfalt und die daraus resultierende Komplexität ist aber auch gleichzeitig eine Herausforderung.

Worauf führen Sie die Vielfalt zurück?

K. Kümmerer: Die Chemieindustrie und die Chemie als Wissenschaft – übrigens die einzige Wissenschaft außer der Kernphysik, die neue Materialien und Stoffe herstellen kann – haben das Selbstverständnis, etwas Neues zu machen. Das Paradigma der Vergangenheit war, noch komplexer und komplizierter zu werden, aus Marketinggründen oder für ein höheres Ansehen in der akademischen Forschung. Dabei unterscheidet sich die Chemie zum Beispiel von der Mathematik. Ein mathematischer Beweis gilt als elegant, wenn er möglichst einfach ist und nur so viele Schritte wie nötig enthält. Wissenschaftstheoretisch sprechen wir von Ockham‘s Razor, Ockhams Rasiermesser.

 

Müssen wir Produkte auf dem Markt halten
mit Inhaltsstoffen,
die wir gar nicht benötigen?

 

Das Sparsamkeitsprinzip greift nicht in der Chemie. Sie können in der Regel auch nicht mit einem höheren Ranking publizieren, wenn Sie eine einfache Synthese mit weniger Reaktionsschritten veröffentlichen. Was ist unser Selbstverständnis als Chemiker für die Zukunft? Weiter so? Wir sollten uns heute bei der Entwicklung neuer Stoffe und Produkte vielmehr fragen: Brauchen wir diese Vielfalt? Müssen wir Produkte auf dem Markt halten mit Inhaltsstoffen, die wir gar nicht benötigen? Muss alles farbig sein? Muss alles einen Duft haben? Manchmal vielleicht, um einen unangenehmen Duft eines anderen Inhaltsstoffs zu übertönen, aber sicher nicht immer. Denn die große Vielfalt der Chemie hat auch ihren Preis.

Welche Herausforderungen birgt die Vielfalt der Stoffe für Mensch und Umwelt?

K. Kümmerer: Mehr Stoffe bedeutet auch, mehr Stoffe, die gleichzeitig wirksam sein können – auf uns Menschen und in der Umwelt. Es ist schwierig und aufwändig, sie alle nachzuweisen. Und es ist gar unmöglich, innerhalb vernünftiger Zeit und mit vertretbarem finanziellem Aufwand die Toxizität von Stoffmischungen zu bewerten, zum Beispiel in Bezug auf ihre endokrine Wirksamkeit. Zudem kennen wir heute weitere Risiken, wie die Neurotoxizität. Zahlen zeigen, dass Verhaltensauffälligkeiten mit der Belastung durch Chemikalien einhergehen. Das Thema ist sehr schwierig zu fassen, denn wir wissen noch zu wenig über additive oder synergistische Effekte, die auftreten können, wenn mehrere Stoffe zusammenkommen. Hinzu kommt, dass viele Stoffe in der Umwelt gar nicht oder nur unvollständig zu Kohlenstoffdioxid und Wasser abgebaut werden. In radikalischen, ungerichteten Reaktionen in der Umwelt, aber auch bei der erweiterten Abwasserbehandlung, entstehen fünf, zehn oder mehr sogenannte Transformationsprodukte. Diese Stoffe können wir, wenn überhaupt, nur sehr unvollständig erfassen und somit ihre Folgen nicht einschätzen.

Einige Experten sprechen sich daher für eine Positivliste mit gut untersuchten Chemikalien aus, auf deren Basis neue Produkte entwickelt werden. Was halten Sie davon?

K. Kümmerer: Es gibt viele Beispiele für Stoffe, die aufgrund ihrer Toxizität verboten wurden, zum Beispiel Flammschutzmittel oder Biozide für Fassaden. Nach dem Verbot führen Firmen oft einen Ersatzstoff ein, bei dem man schon abschätzen kann, dass er früher oder später auch verboten werden wird. Die Regulatorik hinkt der Praxis hinterher. Eine Positivliste würde dem entgegenwirken, im Interesse der Unternehmen, der Verbraucher und der Umwelt. Sie wäre hilfreich für alle, auch für die Industrie und gäbe ihr mehr langfristige Sicherheit. Unternehmen würden Geld sparen, weil sie nicht immer wieder neue Stoffe in den Markt einführen müssten, sondern auf bewährte Chemikalien zurückgreifen könnten. Eine Positiv­liste würde sich auch positiv auf das Image der chemischen Industrie auswirken.

Die grüne Chemie oder Green Chemistry setzt auf eine Reihe von Prinzipien, um Einsatz und Freisetzung gefährlicher Stoffe bei der Herstellung chemischer Produkte zu reduzieren. Wie wirksam ist dieser Ansatz?

K. Kümmerer: Die Prinzipien der grünen Chemie leisten einen wichtigen Beitrag, um Gefahren der chemischen Produktion und Produkte für Mensch und Umwelt zu reduzieren. Sie wurden basierend auf Vorarbeiten von vielen Beteiligten Ende der 1990er Jahre von Paul Anastas und John Warner publiziert. Grüne Chemie beschäftigt sich mit Synthesen, um chemische Stoffe weniger toxisch und mit weniger Energie- und Ressourcenaufwand herzustellen, oder damit, wie dabei weniger Abfallstoffe entstehen oder häufiger nachwachsende Rohstoffe verwendet werden können. Grüne Chemie befasst sich jedoch nicht mit der Vielfalt von Stoffen und den daraus hergestellten komplexeren Produkten. Auch die molekulare Komplexität oder Mischungen von Stoffen kommen nicht vor. Sie hat auch keine Massenströme von Produkten oder Abfällen und deren Zusammensetzung im Blick. Sie empfiehlt zwar den Einsatz nachwachsender Rohstoffe, befasst sich aber nicht damit, dass für deren Herstellung auch Energie oder Anbauflächen, also Ressourcen, benötigt werden. Es ist nicht automatisch alles nachhaltig, was eines oder gar alle der zwölf Prinzipien der grünen Chemie erfüllt oder was sich recyceln lasst.

Kommt hier die zirkuläre Chemie ins Spiel?

K. Kümmerer: Ja, oder besser: die Chemie eingebettet in eine zirkuläre Wirtschaft, um die Hierarchie klarer darzustellen. Circular Economy ist mehr als Recycling. Es geht zunächst darum, Produkte möglichst lange zu nutzen oder Materialien wiederzuverwerten, erst danach sollte Recycling erfolgen, bevorzugt mechanisch, erst dann chemisch. Verbrennung oder thermische Verwertung ist kein Recycling. Ein thermoplastischer Kunststoff kann umgeformt und wiederverwertet werden. Das gelingt nicht bei Duroplasten, sodass ihr Einsatz wo möglich vermieden werden sollte. Beim mechanischen Recycling werden Stoffe zunächst sortenrein getrennt. Das ist schwierig bei vielen verschiedenen Polymeren, die noch dazu viele verschiedene Additive enthalten. Das heißt, Stoffströme müssen künftig viel besser entlang des gesamten Lebenslaufs getrennt gehalten werden. Ähnliches gilt auch für Metalle. Es gibt zum Beispiel mehrere hundert Sorten Stahl auf dem Markt.

Wenn wir sie alle mischen, entsteht Grauguss, ein Stoff minderer Qualität. Durch chemisches Recycling können, wenn es keine andere der zuvor genannten Möglichkeiten gibt, auch wieder qualitativ hochwertige Kunststoffe entstehen, aber nur mit zusätzlichem Material und Energieeinsatz und der Produktion von zusätzlichen Abfällen. Ein Upcycling ist daher nur im ökonomischen Sinne möglich; thermodynamisch betrachtet bedeutet Recycling immer Downcycling. Denn betrachtet man das Gesamtsystem, entstehen Abfälle, zum Beispiel Schlacke bei der Kupferrückgewinnung, es muss frisches Material hinzugefügt werden, zum Beispiel Additive beim Kunststoffrecycling oder Metalle bei Legierungen, und es wird Energie benötigt. Die Einbettung der Chemie in die Circular Economy ist daher ein wichtiger Schritt, wichtiger noch als die grüne Chemie. Aber auch sie ist nicht die vollständige Lösung. Wir brauchen ein breiteres Konzept: die nachhaltige Chemie.

Was unterscheidet die nachhaltige Chemie von der zirkulären Chemie?

K. Kümmerer: Nachhaltige Chemie denkt nach klassischem Verständnis von hinten her. Sie setzt ein bei den Fragen: Welche Funktion oder welchen Service hätte ich gerne? Und gibt es hierfür Lösungen ohne Stoffe, zum Beispiel die Anwendung von Wissen, ein anderes Verhalten oder andere bauliche Konstruktionen. Wie müssen Produkte und Prozesse als Teil dieser breiteren und übergeordneten Sichtweise aussehen? Mit anderen Worten, nachhaltige Chemie betrachtet nicht nur einzelne Produkte und die isolierten Stoff- und Materialströme, die damit verbunden sind, sondern bezieht – im Sinne des Systemdenkens – auch alternative Geschäftsmodelle, alle Beteiligten sowie ethische und soziale Standards mit ein.

Ein Beispiel: Die Fassade eines Hauses bleibt nicht zuletzt aufgrund von Dämmmaßnahmen oft feucht und es wachsen Algen und Pilze auf ihr. Eine chemische Lösung wäre, die Fassadenfarbe mit Bioziden zu versetzen. Doch Biozide und ein ganzer ‚Zoo‘ ihrer Abbauprodukte sind zwischenzeitlich im Grundwasser nachweisbar. Ein Dachüberstand, wie man ihn in vielen Kulturen seit langem kennt, oder der Einsatz von Materialien, wie Sandstein, mineralische Putze oder Holz, das natürliche Fungizide enthält, würde die Fassade vor Algenwachstum schützen und die Umwelt nicht belasten. Alternativ könnte man die Fassaden auch in grün oder grau streichen, dann fallen die Verfärbungen nicht so auf, oder sie einfach akzeptieren als Zeichen guter Dämmung.

Ein weiteres Beispiel: In einer Klinik werden Desinfektionsmittel verbraucht, um Hygienestandards aufrechtzuerhalten. Und um den geht es, nicht um den Verbrauch an Desinfektionsmitteln. In einem Projekt konnte durch Einbau runder Kanten, gezielte Desinfektion und Schulung des Personals über einen Desinfektionsmittelhersteller der Verbrauch an Desinfektionsmitteln um 40 % reduziert werden. Die Klinik profitiert davon, dass sie Hygieneschulungen nicht mehr selbst anbieten muss. Der Hersteller verkauft sein Wissen und kann mit weniger Kosten für Rohstoff, Einkauf und Abfüllen genauso viel Geld verdienen – eine Win-Win-Situation für alle.

 

Nachhaltige Chemie stellt immer die Frage:
Chemie für wen, wofür und warum?


Durch das Systemdenken der nachhaltigen Chemie – wie wir sie mit dem ISC3 und an der Leuphana Universität verstehen und vorwärtsbringen – entstehen alternative Geschäftsmodelle, bei denen chemisches Wissen oder Services angeboten werden, ohne dass immer ein chemischer Stoff verkauft werden muss. Nachhaltige Chemie stellt immer die Frage: Chemie für wen, wofür und warum? Ihr Beitrag kann auch die Antwort sein: Hier brauchen wir keine Chemie. Für dieses Denken brauchen wir interdisziplinäre Teams mit Menschen, die offen sind und über den Tellerrand hinausschauen. Oder, um es mit den Worten des Naturphilosophen Georg Christoph Lichtenberg zu sagen: ‚Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.

Sie forschen nicht nur an Konzepten für nachhaltige Chemie, sondern engagieren sich auch in der Lehre. Welche Angebote gibt es an der Universität Leuphana?

K. Kümmerer: Aktuell bieten wir einen Master Sustainability Science an, der im regulärem Studium Inhalte zur nachhaltigen Chemie umfasst. Ab dem kommenden Jahr wird es einen neuen Studiengang ‚Sustainable Chemistry & Material Resources‘ an der Leuphana geben. Aber wir sind ungeduldig und wollen nicht warten bis unsere ersten Absolventen in die Unternehmen oder Behörden kommen und ihre Entscheidungen wirksam werden. Deshalb haben wir gemeinsam mit dem ISC3 die beiden – übrigens weltweit einmaligen – berufsbegleitenden Online-Studiengänge Master of Sustainable Chemistry und MBA Sustainable Chemistry Management entwickelt.

Das ISC3 engagiert sich nicht nur in der akademischen Bildung, sondern bringt Menschen weltweit zusammen, die sich für nachhaltige Chemie engagieren und fördert den Ideenaustausch. Sie stärkt das Gefühl, wir sind nicht alleine, sondern Teil einer proaktiven Zukunft. Dies gelingt zum Beispiel durch Veranstaltungen wie die Weltchemikalienkonferenz ICCM5 im September in Bonn.
Die Zusammenarbeit mit jungen Chemikern und die Aktivitäten des ISC3 stimmen mich optimistisch in Bezug auf die Zukunft einer nachhaltigen Chemie wie auch der Chemie als Ganzes. Sie wird dazu beitragen, dass die Chemieindustrie und die Chemie als Wissenschaft ein völlig neues und positives Ansehen gewinnen werden.

ZUR PERSON
Klaus Kümmerer ist seit 2010 Professor für Nachhaltige Chemie und stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Jahr 2017 wurde er zudem Direktor des Research & Education Hub am International Sustainable Chemistry Collaborative Center (ISC3). Er ist und war Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien und berät regelmäßig die EU und UNEP sowie die nationale und internationale Politik und Unternehmen in Nachhaltigkeitsfragen. Er setzt sich dafür ein, dass nachhaltige Themen in die Ausbildung von Chemikern zu integrieren und hat entsprechende Studiengänge etabliert.

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