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Neue Wurzeln für die Chemie

Wege zu einer klimaneutralen deutschen Chemieindustrie

19.08.2022 - Wie kann die Transformation der Chemie in die Treibhausgasneutralität gelingen? Was kommt nach Erdöl und Erdgas?

Klimaschutz ist ein zentrales Anliegen der Gesellschaft. Auch die deutsche Chemieindustrie unterstützt die nationalen Klimaschutzziele. Doch wie kann die Transformation der Branche in die Treibhausgasneutralität die gelingen? Welche Technologien gewinnen an Bedeutung? Und wie sieht die Rohstoffbasis der Chemieindustrie in der Zukunft aus? Andrea Gruß befragte Professor Ferdi Schüth, Direktor des Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung, zu seiner Vision für die Transformation der deutschen Chemieindustrie.

CHEManager: Herr Professor Schüth, die deutsche Chemieindus­trie will bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Wie kann das gelingen?

Ferdi Schüth: Es gibt zwei Extrempositionen: Wir können für jedes Produkt der chemischen Industrie einen neuen, nachhaltigen Syntheseweg entwerfen oder wir konzentrieren uns darauf, die wenigen Chemikalien, die die Rohstoffbasis der chemischen Industrie bilden, nachhaltig herzustellen und belassen alle nachgelagerten Synthesen wie sie sind und stellen die für diese Schritte erforderlich Prozessenergie auf erneuerbarer Basis bereit. Ich bevorzuge den zweiten Weg für die Transformation der chemischen Industrie. Denn sie verfügt über ein ausgetüfteltes System der Synthese, das über 150 Jahre entwickelt wurde. Am Ende werden aber beide Ansätze zur Transformation der chemischen Industrie beitragen.

Welche Basischemikalien müssten dafür künftig aus erneuerbaren statt fossilen Rohstoffen produziert werden?

F. Schüth: Der Synthesebaum der Chemie hat wenige Wurzeln: Ethylen, Propylen und einige C4-Olefine bilden die Basis sowohl für Polymere als auch einen erheblichen Anteil anderer Produkte der chemischen Industrie. Hergestellt werden sie aus Erdöl im Steamcracker. Eine weitere wichtige Grundchemikalie ist Methanol, das aus Erdgas oder Kohle gewonnen wird und über das sich nahezu die gesamte C1-Chemie erschließt. Da­rüber hinaus gibt es Aromaten, die als Plattformchemikalien Ausgangspunkt für viele Synthesen sind. Und der letzte große Block, der für einen erheblichen Teil des CO2-Fußabdrucks der chemischen Industrie verantwortlich ist, ist Ammoniak.

Welche alternativen, erneuerbaren Ausgangsstoffe gibt es für diese Grundchemikalien?

F. Schüth: Fangen wir mit dem Ethylen an: Es kann nahezu CO2-neutral durch Dehydratisierung von Bioethanol hergestellt werden. Eine andere Option, mit der gleichzeitig auch Propylen hergestellt werden kann, ist das katalytische Methanol-to-Olefins oder kurz MTO-Verfahren. Durch geschickte Prozessführung lässt sich das Verhältnis von Ethylen zu Propylen, das dabei entsteht, steuern.

Aromaten erhalten wir über den ­Lignin-Strom aus Biomasse. Der Pflanzenstoff bleibt heute weitgehend ungenutzt und wird meist verbrannt. Es wäre schön, wenn wir daraus selektiv Toluol, Benzol oder Xylole herstellen könnten.

Ausgangsstoffe für Ammoniak sind Stickstoff, den wir durch Luftzerlegung nach dem Linde-Verfahren gewinnen, und Wasserstoff – die Schlüsselkomponente, die wir für alle Prozesse benötigen, die ich gerade vorgestellt habe. Wir brauchen Wasserstoff, um Stickstoff zu hydrieren oder um CO2 zu Methanol umzusetzen. Im Moment ist Wasserstoff auf nachhaltiger Basis nicht konkurrenzfähig. Das wird sich ändern, wenn die CO2-Preise steigen und Wasserstoff für seinen CO2-Fußabdruck bezahlt werden muss.

Heute werden bei der konventionellen Herstellung von 1 t Wasserstoff etwa 10 t CO2 emittiert. Bei einem CO2-Preis von 100 EUR/t – und von dem sind wir in Europa nicht mehr weit entfernt – ergeben sich so zusätzliche Kosten von 1.000 EUR. Abhängig vom Gaspreis werden sich die Herstellkosten CO2 Wasserstoff ungefähr verdoppeln. Gleichzeitig sinkt der Preis für Elektrolysewasserstoff. Denn die Preise für Fotovoltaik-Strom sinken in sonnenreichen Regionen der Welt mittelfristig auf unter 1 ct/kWh. Damit wird nachhaltig hergestellter Wasserstoff wirtschaftlich und uns stehen alle eben geschilderten Wege offen.

 

„Damit wir die Chemieproduktion in Deutschland halten, müssen wir intelligent mit dem Wandel umgehen."

 

Demnach lassen sich Erdöl, Erdgas und Kohle im Wesentlichen durch CO2, Biomasse und Wasserstoff ersetzen?

F. Schüth: Ja, das wären die neuen Wurzeln der Chemie. Es gibt jedoch einen weiteren Stoffstrom, den man nicht vernachlässigen sollte: Kunststoffabfälle. Pro Jahr fallen weltweit über 350 Mio. t davon an. Sie bestehen zum größten Teil aus Kohlenstoff und Wasserstoff, enthalten aber auch Heteroatome wie Chlor, Sauerstoff oder Stickstoff. Kunststoffabfälle müssten sortenrein getrennt und stofflich recycelt werden. Alternativ könnten die Heteroatome entfernt werden, damit sie rohstofflich zum Beispiel als Pyrolyse-Öl im Steamcracker genutzt werden können. Doch solange es billiges Rohöl gibt, wird das nicht geschehen.

An welchen Stellen lohnt es sich, die Wertschöpfungskette der Chemie neu zu denken?

F. Schüth: Bei Ammoniak sollte man über Alternativen nachdenken. Es dient in erster Linie zur Produk­tion von nitrathaltigen Düngemitteln. Das heißt, wir synthetisieren Ammoniak nach dem Haber-Bosch-Verfahren und oxidieren dies dann über den Ostwald-Prozess zu Salpetersäure. Bei der Luftverbrennung nach dem Birkeland-Eyde-Prozess – der vor über 100 Jahren in Norwegen entwickelt wurde – wird Stickstoff durch einen Lichtbogen geleitet und zu Stickoxiden oxidiert. Das war bislang wenig effizient und sehr energieintensiv. Doch in Regionen, in denen elektrische Energie aus erneuerbaren Quellen für 0,80 ct/kWh verfügbar ist, könnte der Prozess oder ein ähnliches Verfahren wieder attraktiv werden, zumal sich die Technologie in den letzten 100 Jahren deutlich weiterentwickelt hat.

Gibt es weitere Beispiele?

F. Schüth: Polyethylenterephthalat, PET, ist ein wichtiger Massenkunststoff. In der jetzigen Wertschöpfungs­kette wird die Terephthalsäure dafür aus p-Xylol, einem Aromaten, hergestellt. Mit Furan-Dicarbonsäure könnte ein Kunststoff mit ähnlichen Eigenschaften hergestellt werden, basierend auf Zucker, der aus Stärke oder direkt aus Zuckerrüben gewonnen werden kann. Auf diese Weise hätte man eine völlig neue Wertschöpfungskette aufgesetzt, mit einem neuen Produkt auf Basis nachwachsender Rohstoffe.

Auch Elektrosynthesen könnten in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Auch hier ergeben sich völlig neue Synthesewege. Im Moment entsteht bei der elektrolytischen Herstellung von Wasserstoff an der Anode Sauerstoff. Den lassen wir in die Atmosphäre und „verbessern“ damit den Sauerstoffgehalt der Luft. Wir könnten auch daran arbeiten, an der Anode Wertprodukte herzustellen, zum Beispiel die bereits genannte Furan-Dicarbonsäure oder wir könnten Adipinsäure, das Monomer von Nylon, elektrolytisch aus Zucker herstellen. So ließen sich bekannte Wertschöpfungsketten durch elektrische Energie neu gestalten und nachhaltiger machen.

 

 

Die Chemieindustrie nutzt fossile Energieträger nur zu etwa einem Drittel als Rohstoff. Ein größerer Anteil wird zur Energieerzeugung eingesetzt. Wie kann dies klimaneutral gelingen?

F. Schüth: Der Energiebedarf der Chemieindustrie ist eng mit der Rohstoffbasis verknüpft. Die Ammoniak-Produktion benötigt Energie, ebenso wie die Dampfreformierung und viele weitere Reaktionen. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, den Energiebedarf der chemischen Industrie, der im Wesentlichen ein thermischer Energiebedarf ist, elektrisch abzudecken. Natürlich kann auch elektrolytisch hergestellter Wasserstoff statt Erdgas zur Erzeugung von Prozesswärme verbrannt werden. Was günstiger ist, muss für den Einzelfall geprüft werden.

BASF, Linde und Saudi Aramco haben eine Pilotstudie zu einem elektrisch betriebenen Steamcracker gestartet. Es ist grundsätzlich auch möglich, eine mit Fotovoltaik-Strom beheizte Reverse-Water-Gas-Shift-Reaktion zu realisieren, um Synthesegas aus CO2 herzustellen. Die Reaktion verläuft auf einem hohen Temperaturniveau und wäre bei Beheizung mit Erdgas nicht nachhaltig.

Voraussetzung für eine klimaneutrale Chemie ist kostengünstige elektrische Energie. Leider sind wir in Deutschland in einer wenig bevorzugten Weltregion für deren Produktion.

Branchenexperten befürchten, dass die Basischemie deshalb aus Deutschland abwandern könnte. Teilen Sie diese Bedenken?

F. Schüth: Ja, sie sind berechtigt. Damit wir die Chemieproduktion in Deutschland halten, müssen wir intelligent mit dem Wandel umgehen. Rein über den Preis werden wir mit Billiglohnländern oder Ländern mit günstigen Strompreisen nur schwer mithalten können. Doch das Know-how, die laufenden Anlagen, in die hier investiert ist, und die vielfachen Verbundstrukturen bringen der deutschen chemischen Industrie einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Diese Strukturen müssen wir intakt lassen, um weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Deshalb sollten wir früh in der Wertschöpfungskette ansetzen und wenige Basischemikalien aus erneuerbaren Rohstoffen herstellen. Hierfür könnten wir Steamcracker etwa teilweise durch MTO-Anlagen ersetzen und künftig statt Rohöl Methanol als Rohstoff aus aller Welt beziehen.

 

„Wir sollten früh in der Wertschöpfungskette ansetzen und wenige Basischemikalien aus erneuerbaren Rohstoffen herstellen."

 

Zusätzlich zu den Herausforderungen beim Klimaschutz drohen der deutschen Chemieindustrie Versorgungsengpässen bei Erdgas aufgrund des Russland-­Ukraine-Kriegs. Sollte es kurzfristig zur Gasknappheit kommen, wo kann die Chemieindustrie sich einschränken?

F. Schüth: Grundsätzlich gibt es genügend Gas auf der Welt. Wir haben aktuell das Problem, dass wir kurz- und mittelfristig auf andere Quellen zugreifen müssen, die nicht immer schnell verfügbar sind. Sollte dies nicht gelingen, hat die chemische Industrie vor allem dort Probleme, wo Gas als Rohstoff genutzt wird, zum Beispiel für die Wasserstoffherstellung bei der Ammoniaksynthese. Heizkraftwerke können dagegen teils auf andere Brennstoffe umgestellt werden, wenn es sich um Multi-Fuel-Anlagen handelt. Unser Institut betreibt zum Beispiel eine Heizungsanlage mit Gas. Wir haben aber noch einen 30.000 Liter Öltank und können problemlos auf Ölfeuerung umstellen. Das ist aber nicht bei jeder Anlage möglich. Wenn zum Beispiel Schott gasgefeuerte Prozesse für die Herstellung von Hightech-Gläsern auf einen anderen Brennstoff umstellt, mag die Qualität des Produkts leiden.

Wie wird sich die Umstellung der Energieträger auf Öl beim Heizen oder Kohle bei der Stromerzeugung auf das Klima auswirken?

F. Schüth: Wenn der CO2-Zertifikathandel funktioniert, muss die Stromerzeugung mit Kohle nicht mit höheren Emissionen verbunden sein. Denn die Zahl der Zertifikate ist gedeckelt. Für jede Tonne CO2, die Sie emittieren, müssen Sie ein Zertifikat haben. Wenn Sie von Gas auf Kohle umsteigen, brauchen Sie pro Kilowattstunde erzeugter elektrischer Energie mehr Zertifikate. Das wird auf jeden Fall höhere Stromkosten mit sich bringen.

Werden all die genannten Maßnahmen ausreichen, um die Klimaziele zu erreichen?

F. Schüth: Ich denke nein. Wir werden zusätzlich zu den bereits genannten Technologien in einigen Bereichen für negative Emissionen sorgen müssen, zum Beispiel durch Landnutzungsänderungen, das heißt, die Aufforstung von Wäldern, um CO2 zu absorbieren oder die Einlagerung von CO2 in geologische Formationen durch Carbon Capture and Storage (CSS).

Werden sich die Klimaziele allein durch technische Innovationen umsetzen lassen? Oder müssen wir auch unseren Konsum und unser Verhalten überdenken?

F. Schüth: Wenn ich einen pessimistischen Tag habe, sage ich, Menschen werden ihr Verhalten nicht ändern. Technologien müssen uns Produkte und Dienstleistungen mit einem CO2-Fußabdruck von null zur Verfügung stellen. An optimistischen Tagen denke ich, Menschen sind klug und werden es zumindest teilweise schaffen, ihre Nahrungs- und Mobilitätsgewohnheiten zu verändern oder weniger zu düngen. Obwohl Verhaltensänderungen schneller wirken könnten, werden es wahrscheinlich die Klimaschutztechnologien sein, die früher wirken werden. Doch letztlich muss beides zusammenkommen, damit wir es schaffen.

 

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