Chemie & Life Sciences

Rethinking Chemistry

Chemie neu denken und die Herausforderungen als Chance begreifen

12.07.2022 - GDCh-Präsident Karsten Danielmeier über die Herausforderungen, denen sich die Menschheit und auch die chemische Community stellen müssen.

Klimawandel, Umweltzerstörung und geopolitische Konflikte sind einige der globalen Herausforderungen, denen sich die Menschheit und auch die chemische Community stellen müssen. Rethinking Chemistry – unter dieses Motto hat der Vorstand der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) die Arbeit in den Jahren 2022 und 2023 gestellt. Darunter kann man eine ganze Menge verstehen und tatsächlich soll es auch ein Ansatz sein, Chemie an vielen Stellen gleichzeitig neu zu denken.

Die Industrialisierung der letzten mehr als 150 Jahre hat der Welt zahllose Innovationen und in der westlichen Hemisphäre Wohlstand gebracht. Die Chemieindustrie hat einen bedeutenden Anteil daran, Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum zu unterstützen. Darauf dürfen wir Chemikerinnen und Chemiker zwar stolz sein, aber weitermachen wie bisher können wir so nicht. Jetzt gilt es, umzudenken und tradierte Modelle aufzubrechen, um künftig technologische Entwicklungen und Nachhaltigkeit miteinander zu verknüpfen. Wir müssen dieses Kapitel so schnell wie möglich einleiten, sonst begibt sich die Menschheit sehenden Auges in eine Katastrophe.

Vor wenigen Wochen schreckte uns die Meldung der Weltwetterorganisation WMO auf, dass bereits im Jahr 2026 die globale Durchschnitts­temperatur eines Jahres erstmals mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau liegen könnte, und natürlich sind die Folgen des Klimawandels schon heute weltweit spürbar.
Und dazu hat uns der Krieg im Osten Europas neben dem unermesslichen Leid für die Menschen in der Ukraine auch drastisch vor Augen geführt, dass unsere Energieversorgung und damit unsere gesamte Wirtschaft von Ländern abhängt, die unsere Werte von Demokratie, (Meinungs-)Freiheit und Gleichberechtigung nicht teilen.

Mit aller Kraft neue Wege finden

Das sind mindestens zwei Gründe, um mit aller Kraft neue Wege zu finden, regenerative Energien weiterzuentwickeln und von der Verbrennung fossiler Rohstoffe wegzukommen. Dies ist auch das Ziel des EU Green Deals, des Übergangs zu einer klimaneutralen und kreislauforientierten Wirtschaft, den die Europäische Union bis 2050 anstrebt. Ja, der Green Deal mit der angestrebten Senkung der Netto-Treibhausgas­emissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 % gegenüber 1990 ist ein ziemlich dickes Brett. Aber über weniger dürfen wir gar nicht erst nachdenken, wenn wir unseren Planeten und damit unsere Lebensgrundlage schützen wollen. Und deshalb unterstützt auch die chemische Industrie den geplanten Green Deal mit Nachdruck.

„Weiter so“ funktioniert nicht mehr

Rethinking Chemistry heißt, dass es nicht mehr bloß reicht, immer bessere Produkte zu entwickeln und bessere Synthesen auszuarbeiten. Es heißt zuallererst, unsere eta­blierten Verfahren der Energie- und Rohstoffgewinnung auf Basis von Erdöl, Erdgas oder Kohle als das anzusehen, was sie sind: Auslaufmodelle, die so schnell wie möglich durch nachhaltige Alternativen abgelöst werden müssen.
Die fossilen Rohstoffe und Energieträger haben uns viele Jahrzehnte dazu gedient, unseren Wohlstand zu sichern. Aber für Wehmut haben wir keine Zeit. Geben wir ihnen nun ihren verdienten Platz in den Technikmuseen dieser Welt. Es ist nun höchste Zeit, die regenerativen Energien aus ihrem Nischendasein herauszuholen und mit aller Kraft die Energiewende umzusetzen.

Nicht nur bei der Energieerzeugung müssen wir umdenken, sondern auch beim Recycling. Vor zwei Jahren feierten wir auch bei der GDCh 100 Jahre Makromoleküle und würdigten Hermann Staudinger, dessen Arbeiten die Grundlage der Makromolekularen Chemie bildeten. Wir alle wissen, wieviele heute unverzichtbare Dinge aus Kunststoffen hergestellt werden. Selbst wenn wir auf Einwegbecher und Plastiktüten verzichten können, sind Kunststoffanwendungen bspw. im Bereich Medizintechnik lebenswichtig und unverzichtbar. Dazu gehören auch viele Hochleistungsmaterialen, die wir für unser modernes Leben benötigen. Dennoch müssen wir auch hier umdenken.

Übergang in die Kreislaufwirtschaft

Rethinking Chemistry heißt, nicht mehr die gewünschten Eigenschaften eines Materials an erste Stelle zu setzen, sondern auch dessen Wiederverwertbarkeit zu berücksichtigen und schon bei der Synthese der Materialien auf den CO2-Fußabdruck zu achten. Wir müssen die Forschung zum Recycling existierender Kunststoffe massiv ausbauen, um vom Downcycling wegzukommen und Kunststoffabfall als wertvollen Rohstoff neu einzusetzen.

 

„Die Angst vor Neuem
darf uns nicht im Wege stehen.“

 

 

Der Übergang in die Kreislaufwirtschaft bedarf neben wissenschaftlicher Durchbrüche auch einer gesellschaftlichen Akzeptanz sowie der Unterstützung aus der Politik. Nur durch smarte Regulierung und Förderung können ein verlässlicher gesetzlicher Rahmen gesetzt und ein innovationsfreundliches Umfeld geschaffen werden, um Schritt zu halten im globalen Wettbewerb: Die Angst vor Neuem darf uns nicht im Wege stehen.

Die Beispiele zeigen, dass Rethink­ing Chemistry nicht bedeutet, die Zeit zurückzudrehen. Es geht darum, neugierig zu bleiben, technologischen Fortschritt zu unterstützen und mit Innovationen aus der Chemie die Lebensbedingungen der Menschen auf unserem Planeten zu verbessern – im Einklang mit der Umwelt. Ohne moderne Düngemittel können wir nicht acht Milliarden Menschen ernähren. Ohne innovative Medikamente, etwa auf mRNA-­Basis, hätten wir die Pandemie nicht so schnell bekämpfen können – und es gibt noch zahlreiche weitere Krankheiten, die erforscht und behandelt werden müssen. Ohne moderne Materialien für automobilen Leichtbau oder Brennstoffzellen können wir unsere Mobilität nicht auf elektrische Energien umstellen. Die Aufzählung von Beispielen ließe sich beliebig weiterführen.

Ziele neu ausrichten

Rethinking Chemistry heißt auch, alle unsere Forschungs- und Entwicklungsziele im Hinblick auf Nachhaltigkeit neu auszurichten. Die Erreichung der Ziele erfordert jedoch, moderne wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationen zu nutzen und klug mit etablierten Methoden zu kombinieren. So sind moderne Windkraftanlagen eine Weiterentwicklung von seit vielen hundert Jahren genutzten Windmühlen mit deutlich höherer Leistung durch Hightech-Materialien und technische Innovationen. Der Einsatz von Big Data und künstlicher Intelligenz hilft nicht nur bei der Entwicklung neuer Medikamente, sondern auch bei der Erforschung neuer Katalysatoren, die ihrerseits nachhaltigere Synthesen ermöglichen.
Rethinking Chemistry ist auch das Motto des nächsten GDCh-Wissenschaftsforums Chemie (WiFo) vom 4. bis 6. September 2023 in Leipzig. Die zuvor beschriebenen Themen werden dort eine wichtige Rolle spielen. Für die beiden Ple­narsitzungen Rethinking Chemistry – Concepts und Rethinking Chemistry – Sustainability Strategies werden wir hochkarätige Vortragende einladen. Weitere Bausteine des WiFo-Programms werden gerade erarbeitet und ich freue mich darauf, viele von Ihnen vor Ort persönlich zu treffen und mit Ihnen zu diskutieren.

Herausforderungen als Chancen sehen

Ja, wir haben große Herausforderungen zu schultern. Die Klimakrise wäre schon genug gewesen für unsere Generation. Aber dann kam die Coronapandemie dazu und nun auch noch ein Krieg in Europa. Und wir, genau WIR, müssen diese Probleme angehen, und zwar genau JETZT und nicht in den kommenden Jahren. Aber anstatt uns von den Herausforderungen erdrücken zu lassen, sollten wir sie als Chance begreifen.

Das ist nicht nur wissenschaftlich und technologisch eine Herausforderung. Auch unser Kommunikationstalent und unsere Empathie sind hierbei gefordert, denn dieser Weg wird von vielen Menschen Opfer fordern. „Wir werden ärmer werden“, hat Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Ende März klipp und klar gesagt. Das wird insbesondere die Teile unserer Gesellschaft hart treffen, denen bereits der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die steigenden Energiepreise Angst vor der Zukunft machen. Wir müssen auch diese Menschen mitnehmen und ihnen auf Augenhöhe erklären, dass ein „weiter so“ mittelfristig auf ihre Kosten und vor allem auf Kosten ihrer Kinder und Enkel gehen wird. Auch hier bedarf es der Unterstützung durch die Politik.

 

„Die großen Herausforderungen unserer Zeit
können nicht im nationalen Alleingang
gelöst werden“

 



Es liegt auf der Hand, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht im nationalen Alleingang gelöst werden können, sondern nur gemeinsam im Verbund mit der internationalen Staatengemeinschaft. So schwierig es ist, Kompromisse zu finden, die von allen Ländern akzeptiert und dann auch umgesetzt werden: Wenn wir nicht die Erde für nachfolgende Generationen unbewohnbar machen wollen, dann gibt es keine Alternative. Daher sollten wir alles tun, was in unserer Macht steht, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Es gibt viel zu tun, also lassen Sie uns anfangen!

Autor: Karsten Danielmeier, Präsident, Gesellschaft Deutscher Chemiker e.V. (GDCh)

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