Strategie & Management

Strategische Alternativen für deutsche Chemieunternehmen in China

De-Risking oder aufs Ganze gehen?

18.10.2023 - Deutsche Chemiekonzerne stehen vor einem Dilemma

Trotz der zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen westlichen Staaten und China sind sie vergleichsweise abhängig von China als dem weltweit größten Chemiemarkt, auf den etwa 43 % des weltweiten Chemikalienumsatzes entfallen – weit mehr als der kombinierte Anteil der EU und der USA von zusammen 26 %.

Da Chinas Chemieproduktion zwischen 2011 und 2021 jährlich um etwa 7,3 % gestiegen ist, während in der EU und den USA praktisch kein Wachstum zu verzeichnen war, sind Schätzungen, dass China bis 2030 die Hälfte des weltweiten Chemieumsatzes ausmachen wird, realistisch – trotz des sich verlangsamenden Wachstums. Für Chemieunternehmen, die eine globale Präsenz anstreben, ist es daher nahezu undenkbar, China zu ignorieren.

Ein weiterer Faktor für ein starkes Engagement in China ist für deutsche Chemieunternehmen die sinkende Attraktivität der Chemieproduktion in Deutschland, wo Faktoren wie hohe Energiepreise, regulatorische Hürden und ESG-Kosten die Kapitalrendite senken. Deutsche Chemieunternehmen investieren daher seit jeher in Produktionskapazitäten im Ausland, wobei China aufgrund des großen Binnenmarktes besonders beliebt ist. In gewisser Weise könnte man sogar argumentieren, dass deutsche Chemieunternehmen immer noch nur einen (zu) niedrigen Anteil ihres weltweiten Umsatzes in China haben – für die meisten Unternehmen liegt dieser Anteil zwischen 5 % und 15 % (z. B. Evonik 8 %, BASF 14 %), wobei der Anteil bei einigen Unternehmen bereits deutlich höher liegt (z. B. Covestro 20 %, Wacker 30 %). Dennoch könnten selbst diese hohen Anteile im Vergleich zu Chinas Anteil am globalen Chemiemarkt (43 %) als eher gering angesehen werden.

 

„Deutsche Chemieunternehmen investieren seit jeher in Produktionskapazitäten im Ausland.“

 

Komplexe Situation

Allerdings haben die politischen Spannungen zwischen China und dem Westen in den letzten Jahren zugenommen. Die Kombination aus einer erstarkenden chinesischen Wirtschaft und protektionistischen Maßnahmen, insbesondere in den USA, hat zu einem Handelskrieg auf niedriger Ebene geführt, der durch gegenseitige Beschränkungen gekennzeichnet ist, bspw. bei US-Halbleitern für China oder bei Gallium- und Germanium-Exporten aus China. Diese Beschränkungen würden im Falle eines offenen Konflikts um Taiwan massiv eskalieren. Ein zusätzliches Risiko für die Chinaaktivitäten deutscher Chemieunternehmen ist der mögliche Imageschaden, wenn die Unternehmen z. B. in Xinjiang produzieren oder von dort Rohmaterialien beziehen, da die dortige Situation der Uiguren in westlichen Ländern kritisiert wird.

Angesichts der Komplexität der Lage ist es daher fast verwunderlich, dass sich größere deutsche Chemiekonzerne bei ihren Investitionen in China bisher weitgehend unbeirrt zeigen. BASF setzt die 10-Mrd.-EUR-Investition in den neuen Verbundstandort in Zhanjiang fort, der nach Ludwigshafen und Antwerpen der weltweit drittgrößte BASF-Standort sein wird. Kritisiert wurde diese Investition nicht nur wegen ihrer Chinafokussierung, sondern auch wegen der möglichen Arbeitsplatzverluste in Ludwigshafen. Kritische Stimmen innerhalb der BASF scheinen jedoch überstimmt worden zu sein, wie der unerwartete Abgang von BASF-Vorstandsmitglied Saori Dubourg Anfang dieses Jahres zeigt – angeblich eine Folge ihres Widerstands gegen die starke Chinafokussierung der BASF. CEO Martin Brudermüller brachte auf einer Bilanzkonferenz die Gründe für Investitionen in China auf den Punkt: „Ohne das Geschäft in China wäre die notwendige Umstrukturierung hier nicht so möglich … Nennen Sie mir nur eine Investition in Europa, mit der wir Geld verdienen können“.

 

„Die politischen Spannungen zwischen China und dem Westen haben in den letzten Jahren zugenommen.“

 

Steigende Investitionen

Ebenso hat Merck weitere Investitionen in China angekündigt, bspw. eine Kapazitätserweiterung der Produktion hochreiner Reagenzien am Standort Nantong. In einem Interview lehnte Merck-Chefin Belén Garijo die Forderung, die Aktivitäten in China zu reduzieren, ausdrücklich ab und betonte stattdessen die Bedeutung Chinas für das Wachstum von Merck: „Wir erwarten eine Beschleunigung unserer operativen Dynamik in China.“

Weitere Beispiele sind Covestro, das in Zhuhai seinen weltweit größten Produktionsstandort für thermoplastisches Polyurethan (TPU) errichten wird, Evonik, das kürzlich in einen chinesischen Batteriehersteller investiert hat, und Henkel, das 120 Mio. EUR in eine neue Klebstoffproduktion investiert.

 

„Nicht nur deutsche Chemieunternehmen konzentrieren ihre Investitionen auf China.“

 

Nicht nur deutsche Chemieunternehmen konzentrieren ihre Investitionen auf China. Laut der UN Conference on Trade and Development (UNCTAD) ist Chinas Anteil an den weltweiten Chemieinvestitionen von 40 % im Jahr 2011 auf 48 % im Jahr 2021 gestiegen, und sogar mehrere US-Unternehmen verfolgen enorme Investitionen – trotz der steigenden Spannungen zwischen China und den USA. ExxonMobil treibt bspw. den Bau eines milliardenschweren Petrochemie-Komplexes in Huizhou voran.

Optionen zur Risikoreduzierung

Allerdings stimmen die Chinaaktivitäten deutscher Chemieunternehmen nicht unbedingt mit der offiziellen Politik der Bundesregierung überein, wie sie im Juli 2023 in einem Positionspapier dargelegt wurde. Dieses Papier nennt China als Partner, Konkurrenten und systemischen Rivalen und empfiehlt eine Risikoreduzierung.

Daher sind deutsche Chemieunternehmen gut beraten, zumindest Optionen zu prüfen, die das Risiko einer übermäßigen Abhängigkeit von China verringern. Ein sinnvoller erster Schritt ist die Einrichtung einer De-Risking Task Force, die Risiken analysiert, bewertet und gegebenenfalls risikoreduzierende Maßnahmen plant. Zur Risikoreduzierung gibt es mehrere Optionen:

  • Fokussierung auf China als Produktionsstandort für den chinesischen Markt und nicht für den globalen Markt („in China für China“)
  • Reduzierung der Beschaffung aus China, Auswahl mehrerer Lieferanten aus verschiedenen Regionen (z. B. „China plus eins“), Erhöhung des Pufferbestands an Rohstoffen aus China
  • Feinabstimmung der Zusammenarbeit mit chinesischen Institutionen und Universitäten (sofern nicht strikt auf chinesische Unternehmen beschränkt)
  • Reduzierung des Technologietransfers nach China (z. B. im Bereich von Prozesstechnologien)
  • Einschränkungen bei der Durchführung global relevanter Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in China (obwohl dies für Bereiche, in denen China führend ist, z. B. Batterien für Elektrofahrzeuge, nicht praktikabel ist)
  • Reduzierung der Menge sensibler globaler Daten, die in China gespeichert werden, da diese potenziell für die chinesische Regierung zugänglich sind
  • Lokalisierung des chinesischen Geschäfts (z. B. in Bezug auf Personal, Wertschöpfungsketten usw.) und Trennung und Lokalisierung von Overhead-Funktionen (z. B. IT, Recht, Steuern)

Der „In China für China“-Ansatz

Der zuerst genannte Ansatz wird von den meisten deutschen Chemieunternehmen bereits verfolgt. Während in den chinesischen Werken deutscher Firmen in der Vergangenheit häufig nur eine begrenzte Vielfalt an Chemikalien produziert und die Produkte in kleineren Mengen importiert wurden, werden jetzt in China mehr und mehr auch Spezialitäten produziert.

So hat bspw. Byk-Chemie, Teil der Altana-Gruppe, kürzlich seinen zweiten chinesischen Produktionsstandort eröffnet. In der entsprechenden Pressemitteilung wird spezifisch die Erweiterung des lokal produzierten Portfolios mit Fokus auf lokale Kunden hervorgehoben. Ebenso begann BASF vor einem Jahr die Produktion von Kraftstoffadditiven in Schanghai, um die lokale Nachfrage zu bedienen und die lokale Produktion auf kleinvolumige Produkte auszuweiten.

Dieser „In China für China“-Ansatz erstreckt sich auch auf Forschung & Entwicklung (F&E). Evonik gibt bspw. an, sich auf „Innovation in China für China“ zu fokussieren. Und tatsächlich konzentrieren sich viele der von deutschen Chemieunternehmen in China und insbesondere in Schanghai gegründeten Forschungszentren weniger auf die Grundlagenforschung (das „F“ in F&E) als vielmehr auf die Entwicklung, also die Anwendung und Adap­tion vorhandener Kenntnisse und Materialien an die örtlichen Gegebenheiten und Kundenanforderungen. Obwohl deutsche Chemieunternehmen grundsätzlich optimistisch gegenüber China sind, berücksichtigen sie mit ihrem „In China für China“-Ansatz somit bereits einige der entsprechenden Risiken ihrer Chinaaktivitäten.

Worst-Case-Szenario

Dennoch kann es sich lohnen, ein Worst-Case-Szenario vorzubereiten, das einen Verkauf des chinesischen Geschäfts oder – was wahrscheinlicher ist – eine Abspaltung beinhalten könnte. Dies wurde bereits in anderen Branchen praktiziert – z. B. wird die US-Risikokapitalgesellschaft Sequoia Capital ihr Geschäft in drei geografische Einheiten aufteilen – und in einer der Chemieindustrie näherliegenden Industrie zumindest überlegt: Das britische Pharmaunternehmen AstraZeneca erwägt eine Ausgliederung seines Chinageschäfts, um sich vor zunehmenden geopolitischen Spannungen zu schützen. Laut Financial Times ist ein weiterer Grund für die Überlegung, dass AstraZeneca in den kommenden Jahren mit einem schwächeren Wachstum in China rechnet und das Unternehmen damit zu den ersten Unternehmen gehört, die China offen skeptisch gegenüberstehen. Während eine solche Ausgliederung für deutsche Chemieunternehmen sicherlich keine wünschenswerte Option ist, könnte es im Falle eines offenen Konflikts zwischen den USA und China und daraus resultierenden US-Restriktionen für Unternehmen mit großer Chinapräsenz durchaus die einzige realistische Option sein. Und wenn die Trennung im Vorfeld gut vorbereitet wurde und sich das abgespaltene chinesische Unternehmen bereits explizit auf den heimischen chinesischen Markt konzen­triert, sind die wirtschaftlichen Folgen möglicherweise beherrschbar.

Volker Schlüter und Simon Heckmeier, ChemAdvice, Wiesbaden
Kai Pflug, ChemAdvice und Management Consulting - Chemicals, Schanghai, China

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