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Was bedeutet die Energiewende für die chemische Industrie?

22.12.2023 - Die Jahreskonferenz der Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW) brachte Ende Oktober hochrangige Beteiligte aus Industrie, Forschung, Anwendungsentwicklung und von Technologieanbietern zusammen, um den Einfluss der Energiewende auf die Transformation der Chemie zu beleuchten und zu diskutieren.

Die globale Erwärmung scheint offensichtlich und hat mit Kohlendioxid (CO2) einen Hauptverursacher. Hauptquellen von CO2 sind Stromerzeugung, Mobilität, Haushalte und (Prozess-) Industrien. Die Politik in Deutschland und Europa und die Finanzindustrien steuern mit Emissionszielen gegen die damit verbundenen Risiken. Wo steht die chemische Industrie bei der Übersetzung in eigene Ziele und deren Umsetzung? Mit dieser Frage befasste sich die Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW) Ende Oktober.

Wasserstoff als Energiespeicher und Chemikalie

Das deutsche System der Stromversorgung war bis ca. 1960 von Kohle dominiert, hat sich dann mit Kernenergie und Gas diversifiziert und verfügt heute bereits kapazitätsbezogen über fast 60% regenerative Leistung auf Basis staatlicher Angebotssteuerung (Atomausstieg, EEG). Anna Grevé, Professorin am gastgebenden Fraunhofer-Institut UMSICHT, Oberhausen, erläuterte. die Herausforderung bestehe nun im gemeinschaftlichen Betrieb stabiler Netze bei schwankendem Angebot, das weitgehend ungenutzte installierte Redundanzleistung erfordert. Nach Analyse der Acatech verläuft die Energiewende in vier Phasen: In Phase 2 wurden Flexibilitäten und neue Märkte geschaffen. In den nun anstehenden Phase 3 geht es um  massive Investitionen in nicht-fossile Energieumwandlung und deren Verteilung sowie die Lösung der Konflikte in der Sektorenkopplung über Wasserstoff oder dessen chemischen Substitute (Methanol, Ammoniak u.a.): Industrie, Verkehr und andere konkurrieren mit sehr unterschiedlichen Preiselastizitäten und damit verbundenem Verdrängungspotential.

Wasserstoff (H2) kennt viele Einsatzgebiete. Die derzeit noch begrenzt verfügbaren erneuerbaren Mengen an Strom erfordern eine Priorisierung. Unstrittig sind H2 als Reduktionsmittel und Rohstoff sowie für Flugverkehr und Energiespeicherung. Die stoffliche Nutzung wird nach der regulatorisch gesetzten Nutzung im Flugverkehr zuerst in der Lage sein, die hohen Kosten zu tragen. Für Niedertemperaturwärme und im Bereich individueller Mobilität ist die direkte Elektrifizierung der zu bevorzugende Weg (Effizienz und Kosten). Nach intensiver Forschung in den letzten Jahrzehnten, gefördert durch das BMBF und auch durch das BMWK, stehen nun die Investitionen in den Aufbau von Elektrolysekapazitäten und von Wasserstoff-Infrastruktur (Terminals, Pipelines, Speicher) an. Florian Ausfelder, Dechema, gab eine Übersicht über derzeit laufende Projekte, wie H2Giga, (massenproduktionstaugliche Zellfertigung), H2Mare (Kopplung von Offshore-Windstrom und Wasserelektrolyse) und GreeN H2-Namibia, eine Machbarkeitsstudie zur Wasserstoffwirtschaft in ariden Regionen. Pro Tonne Wasserstoff sind real über 16 m3 Wasser erforderlich. Die Dechema identifizierte Regionen mit günstiger Sonneneinstrahlung und geringem Wasserstress. Dort sollten H2-Gestehungskosten besonders günstig und die sozialen Folgen vertretbar sein. Grüner Wasserstoff bleibt auch unter Idealbedingungen deutlich teurer als blauer Wasserstoff. Besonders die politische Wasserstoff-Farbenlehre wurde als Hemmnis für die nachhaltige Entwicklung genannt.

Technologien für eine Chemie ohne fossile Energieträger

Die Interaktion der neuen Energieformen (Fotovoltaikanlagen, Batteriespeicher, H2-BHKW, Brennstoffzellen) im Enerport auf der ehem. Kohleinsel im Hafen Duisburg wird von Fraunhofer UMSICHT als Reallabor untersucht. Marcus Budt berichtet ferner über verschiedene Optionen zur Bereitstellung von Prozesswärme (Abwärmenutzung, Tiefengeothermie, Elektrifizierung und alternative Energieträger, wie grüner H2, Biomasse). Aus Tiefengeothermie kann bis über 200°C Prozessdampf erzeugt werden – mit einem Potential von bis zu 150 TWh, was etwa einem Viertel des industriellen Nutzwärmebedarfs in Deutschland entspricht.

Eine große Bandbreite an Technologien für die CO2-arme Stromerzeugung, Verteilung und Nutzung stehen bereits heute zur Verfügung. Stefan Diezinger, Siemens Energy, beschrieb die gesamte Wertschöpfungskette der industriellen Elektrifizierung, von Wind, Fotovoltaik und Wasser-stoff in Gasturbinen über die Verteilung, Speicherung und intelligente Stromverbrauchssteuerung bis hin zu elektrisch angetriebenen Pumpen und Kompressoren, Wärmepumpen und elektrische Wärmeproduktion sowie Elektrolyseure für die Wasserstoff-Produktion. Wenn ein Brennstoff-getriebener Verdichter durch einen Elektromotor ersetzt wird, steigt beispielsweise der Wirkungsgrad von 35% auf 94%. Solch eine Maßnahme kann sich in zwei Jahren amortisieren. Die Fertigung von Elektrolyseuren wird gerade in Berlin im GW-Maßstab hochgefahren. Für elektrische Wärme stehen diverse Technologien bis über 1000°C zur Verfügung. Die Induktionsheizung für Temperaturen oberhalb 500°C befindet sich allerdings noch im Entwicklungsstadium.

Um einen Crackerofen zu betreiben sind Temperaturen von 850°C notwendig. Michael Reitz, BASF, stellte das öffentlich geförderte und gemeinsam mit SABIC und Linde betriebene Projekt zum Bau von zwei elektrisch beheizten Crackeröfen in Ludwigshafen vor. Die Pilotanlage mit einer elektrischen Leistung von 6 MW soll auf Basis von CO2-neutral erzeugtem Strom den CO2-Ausstoß um mehr als 90% reduzieren. Das Projekt prüft zwei Heizkonzepte: Ein indirektes mit Strahlungswärme und ein Direktheizkonzept mit Hochstromtechnik. Durch die elektrische Beheizung der Öfen ändert sich das gesamte Energiekonzept des Crackers: heiße Rauchgase zur Energieintegration fehlen und der Cracker wird zum Dampfimporteur. Dies lässt sich durch elektrische Antriebe und Wärmepumpen kompensieren.

Professor Ulf-Peter Apfel, Fraunhofer UMSICHT, sieht die Elektrolyse als Schlüsseltechnologie. Einfache Moleküle sind energieintensiv – und ‚überschüssige‘ Energie gibt es nicht. Auch sind viele CO2-Quellen für die elektrochemische Reduktion so verunreinigt, dass sie erst einmal aufgereinigt werden müssen. Elektrochemie mit geschickter Kopplung von Anoden- und Kathodenprozess kann schneller und selektiver sein als die klassische Chemie. Als Beispiel wird die Reduktion von 2-Dimethylbutinol als Zwischenschritt auf dem Weg zu Vitamin A präsentiert).

Frank Prechtl, BASF Stationary Energie Storage, sieht in der Natrium-Schwefel- (NaS)  Batterie einen sicheren und zuverlässigen Stromspeicher zur Netzstabilisierung bei schwankendem Angebot an Strom im Netz, insbesondere der PV-Anlagen. Das mit japanischen Partnern entwickelte und dort produzierte System wird bei knapp über 300°C betrieben und ist kostengünstiger als Li-Ionen-Zellen, langlebig, praktisch wartungsfrei und basiert nicht auf kritischen Rohstoffen. Solche Batteriespeicher-Projekte ermöglichen die vollständigere Nutzung des erzeugten grünen Stromes.

Wärmewende und Integration der Chemie in ein neues Energiesystem

Die Chemieproduktion hat einen enorm hohen Wärmebedarf und hat deshalb bereits viel in Wärmeintegration und Abwärmenutzung investiert. Der Vergleich von Covestro (F. Frankenau) und Evonik zeigt, wie sehr Ziele und Roadmaps auf dem Weg dorthin vom Portfolio der Unternehmen abhängen. Covestro mit im Vergleich zu Evonik relativ fokussiertem Produktportfolio und vergleichsweise weniger Standorten möchte bei den Scope-1- und 2-Treibhausgasemissionen bereits 2035 die Netto-Null erreichen. Für die Wärmewende stehen der Einsatz von Biogas, die Elektrifizierung sowie den Einsatz energiereicher synthetischer Gase (H2, NH3, Methan) als Optionen zur Verfügung.

Die Spezialchemie befindet sich in einer marktgetriebenen Transformation, bei der große Teile des Produktportfolios zu Lösungen für die nächste Generation umgebaut werden (bei Evonik z.B. Lipide für mRNA, Batteriematerialien, aber keine Batterien). Heiko Mennerich beschrieb die Methodik der Priorisierung der Maßnahmen und die Roadmap, wie Evonik bereits 2030 nur noch grünen Strom einsetzen möchte und 25% weniger Emissionen nach Scope-1 und 2 erreicht haben wird. Der Vergleich zeigt, dass die Chemiewirtschaft nicht nur eine „Energiewende“ organisieren muss, sondern viele individuelle.

Professor Christian Doetsch (Fraunhofer-Institut UMSICHT) diskutierte abschließend mit Wolfgang Huebinger (Experte für Verbundstrukturen & Wertschöpfungsketten bei BASF und Mitglied im Vorstand der VCW) sowie Ausfelder, Prechtl und Diezinger Priorisierungen und Restriktionen sowie Vorbedingungen für die Umstellung der Chemiewirtschaft auf Energie aus nicht-fossilen Quellen.

Bei Mobilität und Wärme gibt es eingeführte energiesparende Techniken: Das batterieelektrische Auto und die Wärmepumpe können bis zu drei Viertel der bisher eingesetzten Primärenergie einsparen. Dezentrale Speicherlösungen unter Einbezug der Autobatterien können Netze bereits auf der untersten Ebene entlasten. Die smarte Kombination aus Wind und Solar in einem großen, europaweiten Bilanzraum reduziert den Bedarf an Speichern. Um die Sektorenkopplung Strom, Wärme und chemische Speicherung werden wir zur Überwindung der Dunkelflaute nicht herumkommen – und auch weiterhin von Energieimporten (Ammoniak, Wasserstoff) in Europa abhängig bleiben. Erforderlich sind tragfähige Geschäftsmodelle, die die Netzstabilisierung unterstützen und den Strompreis für die notwendige Elektrifizierung niedrig halten. Verbraucher, Versorger und Technologieanbieter müssen mit der Politik eine technologieoffene, selbststeuernde Regulatorik aushandeln. Dabei sollte, so Doetsch, der soziale Zusammenhalt im Auge behalten werden, wenn die Chance besteht, dass sich einzelne Haushalte, aber auch ganze Gemeinden durch dezentrale Konzepte, von den gemeinschaftlich betriebenen und finanzierten Systemen abkoppeln können.

Wolfgang Huebinger, Rolf. Albach; Willis Muganda und Julian Vogel, Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW)

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GDCh - Fachgruppe VCW (Vereinigung für Chemie und Wirtschaft)

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