Anlagenbau & Prozesstechnik

All Electric Society und Wasserstoffwirtschaft

Gemeinsame Ziele und Zusammenarbeit von Prozess- und Elektroindustrie

22.02.2021 - Über gemeinsame Ziele von VCI und ZVEI, die All Electric Society und die Wasserstoffwirtschaft äußert sich Gunther Kegel, Präsident des ZVEI, im CHEManager-Interview.

„VCI und ZVEI koordinieren im BDI ihre gemeinsamen wirtschaftspolitischen Interessen, die in vielen Punkten deckungsgleich sind.“

 

CHEManager: Herr Kegel, ihr Unternehmen Pepperl+Fuchs ist in der Automatisierungswelt sowohl in der Fertigungsindustrie als auch der Prozessindustrie zuhause. Wo gibt es Gemeinsamkeiten und wo unterscheiden sich diese beiden Branchen auf dem Weg der Digitalisierung hin zur Industrie 4.0?

Gunther Kegel: Prozessindustrien und Fertigungsindustrien unterscheiden sich auf der Ebene des Shopfloors in Bezug auf die Warenströme, die Produktionsmittel, die Automatisierungstechnik, aber auch in den abzusichernden Risiken. Auf dieser Ebene unterscheidet sich auch die Umsetzung der Digitalisierungskonzepte. Auf den darüber liegenden, abstrakten Ebenen des Office Floors und der digitalen Geschäftsmodelle gleichen sich die Strategien dann immer weiter an. Digitale Geschäftsmodelle, wie zum Beispiel KI-basierte „Predictive Mainte­nance“, also die vorausschauende Wartung, finden sich in beiden Welten, auch wenn die reale Implementierung auf Geräteebene im Shopfloor deutlich unterschiedlich ist. Auch der Schutz des eigenen geistigen Eigentums kann unterschiedlich sein. In der Prozessindustrie lassen sich Erkenntnisse zur Rezeptur auch aus Daten der Produktionsmittel ableiten, sodass Schutzkonzepte hier weiter oder zumindest anders ausgelegt werden müssen als in der klassischen Fertigungsindustrie. Die Security-Konzepte zum Schutz gegen Cyber-Angriffe sind dagegen weitgehend identisch.

Corona hat die Digitalisierung ­vorangebracht – so wird es oft formuliert. Bestimmt haben wir alle gelernt, professioneller mit diversen Tools für Videokonferenzen umzugehen. Profitiert aber auch die Prozessautomatisierung von den vielen vorhandenen Möglichkeiten, zum Beispiel beim Asset Management oder der Predictive Maintenance?

G. Kegel: Die Pandemie hat das Ausrollen und die Weiterentwicklung von Digitalisierungsprojekten auf der Ebene des Shopfloors eher gebremst, weil der Zugriff auf den Shopfloor pandemiebedingt stark eingeschränkt ist und zusätzlich Kostenreduktionsmaßnahmen auch vor Investitionen in die Digitalisierung nicht halt gemacht haben. Hinzu kommt, dass gerade im Bereich Digitalisierung beispielsweise in der Begriffswelt der „Predictive Maintenance“ auch überzogene Erwartungen geschürt wurden, die jetzt einer gewissen Ernüchterung weichen. Vielleicht sollte man die Digitalisierung der präventiven Wartung und den Einsatz digitaler, zustandsbasierter Wartung zunächst forcieren, bevor man sich mit prädiktiver, KI basierter Wartung auf Neuland mit ungewissem Ausgang begibt.

Ihr Unternehmen Pepperl+Fuchs ist eines der Gründungsmitglieder der Industrial Digital Twin Association, genauso wie der Branchenverband ZVEI, dem Sie seit Oktober 2020 als Präsident vorstehen. Gemeinsam mit dem VDMA, Bitkom und 20 anderen namhaften Unternehmen wollen Sie so die bis dato parallel verlaufenden Entwicklungsstränge bündeln und tragfähige Open-Source-Lösungen entstehen lassen. In wieweit ist diese Initiative international aufgestellt und strebt die Zusammenarbeit zum Beispiel mit dem Digital Twin Consortium in den USA an?

G. Kegel: Zunächst einmal hat die IDTA die Aufgabe, den rechtlichen und normativen Rahmen für die Realisierung digitaler Geschäftsmodelle in der Industrie zu gestalten. Die IDTA ist also eine Art Katalysator, der den industriellen Mitgliedsunternehmen hilft, ihre datengetriebenen Geschäftsmodelle in standardisierter Form – und damit investitionssicher – zu implementieren. Ein Beispiel: Wir wünschen uns anstelle eines unlesbar kleinen Typenschilds und eines überflüssigen Beipackzettels ein digitales Typenschild in Form eines QR-Codes auf jedem Produkt – die Digitalisierung des Typenschilds. Der QR-Code und die dahinterliegende Basisdatenstruktur müssen in einer Norm verbindlich festgelegt werden, um Hersteller und Anwender nicht vor ungelöste Kompatibilitätsprobleme zu stellen. In den Richtlinien, Normen und Implementierungs-Guidelines ist häufig noch die verbindliche Beilegung eines Beipackzettels vorgeschrieben. Erst nach Verfügbarkeit einer Norm und der Anpassung rechtlicher Vorgaben kann das „digitale Typenschild“ zum Erfolg werden. Zunächst einmal ist die IDTA auf Europa ausgerichtet, aber es macht durchaus Sinn, erarbeitete Inhalte mit anderen, vergleichbaren Gruppierungen auszutauschen.

Digitalisierung bedeutet, dass Software eine bedeutende Komponente bei der Innovationsschöpfung ist. Welche Rolle spielt dabei jetzt und in Zukunft der Einsatz von Open Source Tools?

G. Kegel: Open-Source-Projekte sind in der Industrie nur relevant, wenn die Fragen des geistigen Eigentums und der Produkthaftung eindeutig geklärt sind. Wenn – wie hier – eine Assoziation IP in Form von Software schafft, reden wir in der Regel von Common Software Components, die von Anfang an zur Erreichung einer herstellerübergreifenden Kompatibilität eingesetzt werden können, für deren Implementierung und Fehlerfreiheit der Hersteller haftet, der diese Common Software Components in seine Software integriert.

Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit des ZVEI mit Verbänden der Prozessindustrie wie dem VCI oder der NAMUR, der Interessengemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie?

G. Kegel: VCI und ZVEI sind beides tragende Mitglieder des BDI und koordinieren dort ihre gemeinsamen wirtschaftspolitischen Interessen, die in vielen Punkten deckungsgleich sind. Mit der NAMUR herrscht ein reger fachlicher und strategischer Austausch. Uns verbindet eine langjährige und erfolgreiche Zusammenarbeit, die uns enorm hilft, die Anforderungen der Anwender besser zu verstehen.

 

„Die Pandemie hat das Ausrollen und die Weiterentwicklung von Digitalisierungsprojekten auf der Ebene des Shopfloors eher gebremst.“

 

Vor 18 Monaten waren Begriffe wie „Corona“ und „Pandemie“ quasi Fremdworte für uns, aber sie haben im Handeln und in der Kommunikation das Jahr 2020 beherrscht und andere Megathemen etwas verdrängt. Wie geht es mit den wichtigen Herausforderungen beim Klimaschutz und beim digitalen Wandel weiter?

G. Kegel: Viele Themen sind durch Corona für den Moment in den Hintergrund getreten und werden erst nach einer signifikanten Eindämmung der Virusinfektionszahlen wieder bestimmend. Aber natürlich gehen Digitalisierung und die Anstrengungen gegen den sich vollziehenden Klimawandel weiter. Die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen, ist sowohl zur Effizienzsteigerung existierender Prozesse als auch für den Aufbau von neuen Geschäftsmodellen attraktiv. Außerdem auch notwendig: Die He­rausforderungen des Klimawandels anzunehmen heißt, den Lebensraum unseres Globus zu sichern. Dabei kommt es auf die Elektroindustrie in besonderer Weise an. Wie kaum eine andere Branche bietet sie technische Lösungen für nahezu alle Fragen des Klimawandels an. Nur über den Weg in eine „All Electric Society“ wird der Klimaschutz Realität.

Sie bezeichnen die „All Electric Society“ als einen holistischen Ansatz für nachhaltiges Handeln und Wirtschaften. Welche Rolle kann die Wasserstoffwirtschaft dabei spielen?

G. Kegel: Holistisch, weil eine „All Electric Society“ für den Klimaschutz mehr sein kann als die Summe der Bemühungen der einzelnen Sektoren. In diesem Zusammenhang kann grüner Wasserstoff perspektivisch eine Technologie werden, die genau diese Sektorenkopplung voranbringt. Wasserstoff, der ausschließlich mit Hilfe erneuerbarer Stromquellen gewonnen wird, ist beispielsweise die Basis für die Herstellung synthetischer Brennstoffe, die einen CO2-neutralen Flug-, Schiffs- und Lkw-Verkehr ermöglichen.

Wasserstoff wird Erdöl und Erdgas nicht nur als Energieträger in der Prozessindustrie ersetzen, sondern mehr und mehr auch zur Basis der Grundstoffe für die chemische Industrie werden.
In Brennstoffzellen kann Wasserstoff ohne Umwege zur Stromerzeugung in mobilen Anwendungen eingesetzt werden und den Bedarf an großen, materialintensiven Batteriekapazitäten deutlich reduzieren und bei entsprechend hoher Verfügbarkeit auch für den Pkw-Bereich eine saubere Alternative werden.

Schlussendlich kann Wasserstoff als ideales Speichermedium für die schwankende Versorgung mit Strom aus erneuerbaren Quellen dienen und einen Beitrag zur Grundlastsicherheit in der Stromversorgung leisten. Dabei ist es möglich, Wasserstoff auch in Regionen außerhalb Deutschlands und Europas zu produzieren, um so zum Beispiel die Standortvorteile zur effizienteren Erzeugung erneuerbarer Energien zu nutzen.

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