Märkte & Unternehmen

Aufbruch in neue Chemiesegmente

Chinesische Chemieunternehmen investieren verstärkt in innovative Bereiche

13.09.2023 - Chinas chemische Industrie konzentrierte sich ursprünglich hauptsächlich auf Basischemikalien.

Chinas chemische Industrie konzentrierte sich ursprünglich hauptsächlich auf Basischemikalien. Dies entsprach den lokalen Bedürfnissen und der vorhandenen eher limitierten Technologiekompetenz. Mittlerweile dominiert das Land den Weltmarkt für viele dieser Chemikalien – und inzwischen haben einige der größten chinesischen Chemieunternehmen begonnen, ihre Aktivitäten auf neue, anspruchsvollere Wachstumssegmente auszuweiten. Westliche Chemieunternehmen laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren – und ihr Innovationsvorsprung schmilzt.

China verfügt über etwa 55 % der globalen Kapazität für Essigsäure, etwa 50 % der globalen Kapazität für Ruß und etwa 45 % der globalen Kapazität für Titandioxid. Für viele dieser Basischemikalien begann China als Nettoimporteur, baute dann umfassende inländische Kapazitäten auf und wurde schließlich zu einem wichtigen Exporteur.
Ein weiteres Segment, in dem chinesische Unternehmen früh eine starke Präsenz aufbauten, sind Feinchemikalien – relativ komplexe organische Moleküle, die jedoch nur nach Spezifikation verkauft werden können, ohne dass Anwendungskenntnisse erforderlich sind. Beispiele hierfür sind Vitamin C (China-Anteil ca. 80 %), ausgewählte Agrochemikalien wie Glyphosat (China-Anteil ca. 58 %) und pharmazeutische Wirkstoffe wie Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin.
Dabei handelt es sich um Chemikalien, die nur ein begrenztes Maß an Technologie und Innovation erfordern. Kunden wissen in der Regel mit ihnen umzugehen und erwarten daher von den Anbietern keine Anwendungskenntnisse. Darüber hinaus werden diese Chemikalien in großen Mengen produziert, sodass chinesische Hersteller von starken Skaleneffekten profitieren können.
Allerdings schränken diese Faktoren auch die Rentabilität und die Wachstumsaussichten für diese Materialien ein. Viele chinesische Hersteller, die sich auf solche Chemikalien konzentrieren, leiden unter dem intensiven Wettbewerb, der durch Überkapazitäten und ein verlangsamtes Nachfragewachstum verursacht wird. Verschärft wird dies durch immer strenger werdende Umweltvorschriften.
Daher haben einige der größten chinesischen Chemieunternehmen begonnen, ihre Aktivitäten auf neue, stark wachsende Segmente auszuweiten. Dies gilt insbesondere für Chemikalien mit Bezug zur Energiewende, aber auch für andere innovative Segmente.

Investitionen in Wachstumssegmente
Ein Beispiel ist Hengli, ein Polyesterhersteller mit der weltweit größten Kapazität an Terephthalsäure (PTA), dem Rohstoff für die Herstellung von Polyethylenterephthalat (PET). Das Unternehmen investiert derzeit rund 2,5 Mrd. EUR in einen Chemiepark direkt neben seinem Petrochemiewerk in Dalian – sicherlich in dem Bewusstsein, dass die Chancen für eine weitere Expansion im Polyesterbereich begrenzt sind. Der neue Park wird sich auf die Produktion von Lithiumbatterieseparatoren, Elektrolyten für Lithium-Ionen-Batterien, Harzmaterialien, abbaubaren und technischen Kunststoffen konzentrieren. Einige dieser Anlagen nehmen bereits in diesem Jahr die Produktion auf. 
Wanhua, der weltweit führende Hersteller von MDI, kann auf eine lange Erfolgsgeschichte auf der Basis intensiver Investitionen in die Forschung zurückblicken. Die jüngsten Aktivitäten des Unternehmens weiten dieses Engagement aus. So erwarb Wanhua bspw. einen Hersteller von Lithiumbatteriematerialien, gefolgt von der Integration und dem Aufbau eines Projekts für ternäre Materialien. Im Jahr 2023 plant Wanhua Chemical, 3,34 Mrd. RMB (rund 420 Mio. EUR) in Batteriematerialprojekte zu investieren – eine Steigerung von 174 % gegenüber dem Vorjahr. Wanhua entwickelt außerdem Produktionskapazitäten für Beta-Ionon, einem Duftstoff, und für Polyamid 12 (PA 12, Nylon 12), einen hochwertigen technischen Kunststoff mit einer Vielzahl unterschiedlicher industrieller Anwendungen.

„Es ist nicht sicher, ob der Ansatz westlicher Unternehmen in China „Wettbewerbsvorteil durch Innovationsvorsprung“ zukunftsfähig ist.“


Sheng Hong, ein Produzent von Chemiefasern, investiert nicht nur massiv in die Produktion von Rohstoffen für Lithiumbatterien, sondern hat auch mehrere Projekte im Bereich Energiespeicher mit einer Gesamtinvestition von 12 Mrd. RMB (ca. 1,5 Mrd. EUR) aufgenommen.
Vielleicht noch überraschender ist die Expansion von Chinas größtem Ölunternehmen und Basischemikalienproduzenten, Sinopec, in den Bereich hochwertiger Chemikalien. Von besonderem Interesse ist die Investition in Ethylvinylacetat (EVA) in Fotovoltaikqualität, ein Material, das bei der Herstellung von Solarmodulen verwendet wird. China muss derzeit einen erheblichen Teil der für diese Anwendung erforderlichen höheren EVA-Qualitäten importieren. Weitere chemische Zielsegmente von Sinopec sind hochwertige Kohlefasern, die in Industrieprojekten wie Windkraft, Solarenergie, Hochgeschwindigkeitszüge und Luftfahrt angewandt werden. 

Expansion in strategische und/oder innovative Märkte
Solche großen Investitionen eines Staatsunternehmens wie Sinopec deuten auf einen weiteren Grund für den Einstieg in diese Segmente hin, der über die rein kommerzielle Logik der Fokussierung auf wachstumsstarke Bereiche hinausgeht. Es gibt starke politische Unterstützung für Aktivitäten in Bereichen, die von der Regierung als strategisch und/oder innovativ erachtet werden. Tatsächlich fördert die Version 2023 des „Leitkatalogs zur industriellen Strukturanpassung“, einem Regierungsdokument, gezielt die Entwicklung und Produktion einer Reihe neuer chemischer Materialien. Dazu gehören Klebstoffe mit niedrigem VOC-Gehalt, Wasseraufbereitungsmittel, Katalysatoren, elektronische Chemikalien, Silikonmaterialien und Fluormaterialien.
Während diese Bereiche direkt von der Regierung unterstützt werden, kann die indirekte Unterstützung noch wichtiger sein. Die Regierung treibt die Nachfrage nach vielen der neuen Materialien durch ihre Politik voran – sei es durch Subventionen für Elektrofahrzeuge, Investitionen in Solaranlagen oder Umweltvorschriften zur Begrenzung der VOC-Emissionen.

„Westliche Chemieunternehmen laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren.“


Die staatliche Unterstützung hat zwei Hauptgründe. Einerseits zielt China darauf ab, seine Abhängigkeit von Importen zu verringern, ein Ziel, das angesichts der zunehmenden Spannungen mit den USA immer wichtiger wird. Andererseits bieten diese neuen Segmente China die Chance, als größter Hersteller von Produkten wie Elektrofahrzeugen, Batterien und Solarpaneelen zum weltweiten Technologieführer zu werden. Dies kann angesichts der Hindernisse, mit denen die chinesische Chemieindustrie aufgrund der Politisierung des Welthandels konfrontiert ist, besonders relevant sein. Das wurde in einer kürzlich veröffentlichten Erklärung des Handelsministeriums deutlich. Als mögliche Abhilfemaßnahme empfahl diese Erklärung den betroffenen Chemie­unternehmen, sich auf innovative Bereiche wie Elektrofahrzeuge, erneuerbare Energien und Hightech-Materialien zu konzentrieren.
Was bedeuten die steigenden chinesischen Investitionen in High-End-Chemiesegmente für westliche Chemieunternehmen? In einer schwierigen Lage befinden sich Unternehmen, die in den gleichen Bereichen tätig sind – wie bspw. BASF: der Ludwigshafener Chemiekonzern tätigt nicht nur in China, sondern auch weltweit mehrere Investi­tionen in verwandten Segmenten. Angesichts der enormen Größe und des führenden Entwicklungssta­diums Chinas in Segmenten wie der Fotovoltaik ist es nicht realistisch, Aktivitäten in relevanten Segmenten aufzugeben – tatsächlich hat BASF kürzlich eine Erweiterung der EVA-Kapazität in Fotovoltaikqualität in China angekündigt. Es besteht jedoch die Gefahr, dass lokale Produzenten, die von großzügiger staatlicher Unterstützung und direktem Zugang zum größten Markt der Welt profitieren, nicht nur in China, sondern weltweit dominanter werden. Genau das ist in der Vergangenheit für viele andere Chemikalien geschehen.

Aufbau kompletter Wertschöpfungsketten
Große chinesische Chemieproduzenten sind generell stark daran interessiert, komplette Wertschöpfungsketten aufzubauen – ein Unterschied zu westlichen Unternehmen, die es oft vorziehen, sich nur auf die Schritte näher an den Endkunden zu konzentrieren, die als profitabler gelten. Dies stellt insbesondere für kleinere ausländische Chemikalienhersteller – sowohl in China als auch anderswo – ein weiteres Risiko dar, da sie zunehmend von Rohstoffen chinesischer Hersteller abhängig werden, die langfristig auch in den späteren Schritten der Wertschöpfungskette mit ihnen konkurrieren werden.
Ein weiterer Vorteil chinesischer Unternehmen besteht darin, dass diese in der Regel schneller auf Markttrends reagieren können. Ein Beispiel ist der Markt für Nitrilhandschuhe, der während der Pandemie stark wuchs. Während China vor der Pandemie einen Weltmarktanteil von etwa 15 % hatte, ist dieser mittlerweile auf etwa 40 % gestiegen. Chinesische Hersteller investierten viel schneller in Kapazitätserweiterungen, nutzten die Angebotsengpässe in Malaysia und wandelten Kapazitäten um. Das Endergebnis ist erhöhter Wettbewerbsdruck und niedrigere Preise in diesem Markt – ein häufiges Phänomen für Chemikalien, sobald chinesische Akteure in Erscheinung treten. Betroffene Segmente sind nach dem Eintritt chinesischer Unternehmen daher für westliche Unternehmen häufig nicht mehr sehr attraktiv.

Fazit
In der Vergangenheit kam der chinesische Druck auf die westliche Chemieindustrie von unten – China eroberte immer mehr Marktsegmente, die durch eher begrenzte Komplexität und Innovation charakterisiert waren. Neu an der aktuellen Welle chinesischer Chemieinvestitionen im eigenen Land ist, dass diese nun genau auf die Chemiesegmente abzielen, die am innovativsten sind und tendenziell auch am schnellsten wachsen. Bisher sicherten sich westliche Unternehmen ihren Wettbewerbsvorteil durch Innovationsvorsprung. Angesichts der hier beschriebenen Entwicklung ist nicht sicher, ob dieser Ansatz zukunftsfähig ist. Im schlimmsten Fall bliebe westlichen Unternehmen in China dann nur noch die Produktion von Nischenchemikalien, an denen die größenorientierten chinesischen Akteure weniger interessiert sind.


Kai Pflug, CEO, Management Consulting – Chemicals, Schanghai, China

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Zur Person

Kai Pflug lebt seit fast 20 Jahren in Schanghai, zunächst als Berater und Generalbevollmächtigter von Contrium/Stratley, seit 2009 als CEO seiner eigenen Strategieberatungsfirma. Er bietet unabhängige Managementberatung für die chemische Industrie an, die auf seiner knapp 25-jährigen Erfahrung in der Unternehmensberatung (u. a. Arthur D. Little, MCC) fußt. Der promovierte Chemiker (Universität Hamburg und University of California, Berkeley) sammelte fünf Jahre Berufserfahrung in der Chemieforschung und im Marketing (Dentsply), bevor er einen Masterabschluss in Wirtschaftswissenschaften erwarb und in die Beratungsbranche wechselte.

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