Strategie & Management

Balanceakt mit ungewissem Ausgang

Chemieindustrie will und muss Transformation und Wettbewerbsfähigkeit in Einklang bringen

14.09.2022 - Die Chemieindustrie will und muss die Transformation hin zur Klimaneutralität und ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten in Einklang bringen.

Bald beginnt der Herbst und die dunkle Jahreszeit kommt. Und Putins Kälte wird uns noch mehr als bisher zu schaffen machen. Mit seiner Energie als Waffe versucht der Kriegstreiber, seine Gegner in die Knie zu zwingen. Ich glaube, niemand in Deutschland hat daran gedacht, dass eine solche Form des kalten Krieges – im wörtlichen Sinne – auf uns persönlich, unsere Industrie und unsere Gesellschaft zukommen könnte. Leider ist es Realität geworden, und viele bezahlen einen hohen Preis dafür.

Dieses Jahr begann mit der Hoffnung, dass wir das Coronavirus besiegen, uns wieder häufiger persönlich begegnen und alle anderen Herausforderungen wie immer irgendwie meistern. Unsere Gesellschaft und unsere Unternehmen sind schließlich krisenerprobt. Doch statt auf die noch immer hohen Coronazahlen schauen wir ähnlich gebannt auf die Füllstände unserer Gasspeicher. 
Viele Pläne für dieses Jahr, viele Kurzfristziele haben wir mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukra­ine begraben müssen. Putin hat mit seinen Bomben und dem Finger am Gashahn Brücken abgebrochen – gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche. Aber auch Brücken, die wir auf unserem Weg zur Klimaneutralität gebaut haben. Die Stimmung ist gedrückt. In weiten Teilen der Industrie herrschen Unsicherheit und Angst vor einer Rezession. 

Transformation vorantreiben
Zu den Zielen des Chemieverbands am Jahresanfang gehörte, die Transformation unserer Branche hin zur Klimaneutralität weiter voranzutreiben. Nachhaltigkeit ist schon lange – und umso mehr in Zukunft – ein Schlüssel zum Erfolg. Unsere Unternehmen haben das schon seit Jahrzehnten auf der Agenda. Und doch bringen sie jetzt, mit dem ausdrücklichen Segen eines grünen Klimaschutzministers, ausrangierte Kohlekraftwerke wieder zum Laufen. Für die Klimabemühungen unseres Landes ist das ein Rückschlag. Aber ich halte es für die richtige Entscheidung der Bundesregierung. 
Wir leben in einer Zeit, in der ein Autokrat die Welt erpresst und Zwietracht säen will.

„Die Krise kann ein Transformationsturbo werden.“
 

Wir leben aber auch in einer Zeit, in der sich die Reihen schließen, neue Allianzen entstehen und scheinbar unüberbrückbare Gegensätze auflösen. „Wirtschaft und Green­peace begrüßen Entscheidung“, titelte die Tagesschau Ende Juni: Es ging um die von der Bundesregierung ausgerufene Gasalarmstufe. BASF-Chef Brudermüller versprach Wirtschaftsminister Habeck am Tag der Industrie: „Wir stehen auf Ihrer Seite.“ Auch unser Verband wird von der Bundesregierung gehört, deren Sanktionen wir zu einhundert Prozent mittragen. Dieser Schulterschluss ist sichtbarer Ausdruck der Zeitenwende, von der Kanzler Scholz gesprochen hat. 
Die chemische Industrie ist das Herz unserer Wirtschaft. Sie sichert viele Millionen Arbeitsplätze und den Wohlstand unseres Landes. Auch die Bundesregierung und selbst Menschen, die bisher mit Chemie nichts am Hut hatten, haben verstanden, dass man den Chemiebetrieben nicht einfach den Gashahn zudrehen kann.
Für unsere Industrie war die Lage schon vor Kriegsbeginn angespannt, bspw. durch lange Lieferzeiten, hohe Frachtkosten und Engpässe bei Materialien. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine explodieren die Preise für Energie und Rohstoffe, die weltweit ohnehin schon zu den höchsten gehörten. Im Vergleich zu 2019 hat sich der Gaspreis für die Industrie mehr als verdreifacht. Für unsere Unternehmen, unsere exportorientierte Nation bedeutet das gravierende Nachteile im internationalen Wettbewerb und für unsere Anstrengungen beim Klimaschutz. 
Den Unternehmen fällt es zunehmend schwerer, die kräftig steigenden Produktionskosten an ihre Kunden weiterzugeben. In dieser Abwärtsspirale sinken die Produktion ebenso wie die Verkaufsmengen und am Ende auch die Gewinne. Und wer sparen muss, hält sich leider auch bei Investitionen und Innovationen zurück.
Und dennoch halten wir an unseren Zielen fest. Wir lassen uns nicht vom Weg der Transformation abbringen, den wir bereits vor Jahren begonnen haben. Mag er auch steinig sein. Klimaschutz, Ressourcenschonung, Kreislaufwirtschaft sind Mega-Aufgaben. Und wir gehen sie an, heute und in Zukunft. Zum Beispiel durch den Einsatz grüner Energien und Rohstoffe, Investitionen in nachhaltige Verfahren und weitere Effizienzsteigerungen, die durch die zunehmende Digitalisierung möglich werden. 

„Krise ist nicht die Zeit der Bedenkenträger.“


Das ist kein Lippenbekenntnis! Unsere Unternehmen investieren gewaltige Summen in neue Technologien, bspw. um klimaschonender zu produzieren oder um das chemische Recycling weiter voranzutreiben. Damit dies gelingt, brauchen wir riesige Mengen an grünem Strom und schnelle Genehmigungen. Hier hat die Politik leider eine Riesenchance verpasst, als sie den geplanten Bund-Länder-Pakt zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren in die Warteschleife gestellt hat.

Falsche Prioritäten gefährden Arbeitsplätze
Die EU-Kommission hat mit dem Green Deal die Richtung vorgegeben und wir folgen ihr. Gemeinsam mit dem VDI und 80 Stakeholdern aus Industrie, Politik und Zivilgesellschaft erarbeitet der VCI auf der Plattform „Chemistry4Climate“ einen konkreten Transformationsweg.
Ziel ist, bis 2030 die Emissionen um 55 % zu reduzieren. Bis 2045 soll die Wirtschaft in Deutschland klimaneutral sein. Dafür müssen aber auch die Rahmenbedingungen stimmen. Sorge macht uns, dass die EU-Kommission in ihrer Regulierungswut immer höhere, kaum noch leistbare Anforderungen stellt. Und diese weitreichenden Legislativmaßnahmen kommen gleichzeitig, ohne sichtbare Priorisierung. Beispiele, die uns aktuell umtreiben, sind:
Die Chemikalienverordnung REACh, die in den Unternehmen zu hohen Kosten führen wird und die Stoffvielfalt einschränkt. 
Der von Teilen der Politik gepriesene CO2-Grenzausgleich – Stichwort CBAM. Für unsere Branche funktioniert diese Maßnahme als Alternative zu kostenlosen CO2-Zertifikaten nicht. Sie würde unsere Wettbewerbsfähigkeit empfindlich treffen.

„Deutschland braucht massenhaft Grünstrom, um von fossilen Energien und von Diktatoren unabhängiger zu werden.“


Das Lieferkettengesetz, bei dem Abnehmer nicht nur für den direkten Zulieferer haften sollen, sondern auch für die Lieferanten der Lieferanten.
Die Richtlinie zu Industrieemissionen, die – wenn der Entwurf durchgeht – Genehmigungen von Industrieanlagen erheblich verzögern wird. Welch Anachronismus: Verfahren zu verlangsamen, wenn wir Tempo brauchen!
Die Debatte um Sustainable Fi­nance, die eine Lenkung der Kapitalströme nach recht willkürlichen politischen Kriterien vorsieht und damit die Transformation behindern wird.

Es ist ein schwieriger Balanceakt mit ungewissem Ausgang. Wenn die Politik falsche Prioritäten setzt und zu radikale Umbrüche von unseren Unternehmen fordert, gefährdet sie Arbeitsplätze in Deutschland und in Europa. Die Chemiebranche will und muss Transformation und Wettbewerbsfähigkeit in Einklang bringen. Es hilft niemandem und schon gar nicht dem Klima, wenn die Unternehmen wegen monströser Auflagen aus der EU flüchten und ihre Produktion in Länder mit 08/15-Standards verlagern.
Unsere Unternehmen brauchen Energie wie die Luft zum Atmen, deshalb dürfen sie mit steigenden Energiekosten nicht allein gelassen werden. Wir begrüßen des-
halb das vorzeitige Aus der EEG-­Umlage und das 5 Mrd. EUR schwere Hilfsprogramm für die energieintensive Industrie, das noch nachgebessert werden muss, damit mehr Unternehmen davon Gebrauch machen können. Auch die Vorfahrtsregel für erneuerbare Energien ist ein richtiger Schritt. Deutschland braucht massenhaft Grünstrom, um unabhängiger zu werden – von fossilen Energien und von Diktatoren.

Krise als Transformationsturbo 
Die Krise kann ein Transformationsturbo werden. Die Coronapandemie hat z. B. unsere Gesellschaft hart getroffen, aber durch den dadurch ausgelösten Digitalisierungsboom auch vorangebracht. Krise ist nicht die Zeit der Bedenkenträger, sondern die Zeit der Macher. Und das müssen wir in Deutschland jetzt: Machen. Nicht in Marathongeschwindigkeit, sondern im Sprint. Bei der Planung und Genehmigung von Anlagen und beim Ausbau erneuerbarer Energien. 
Unsere Unternehmen haben auf dem Weg der Transformation schon viel erreicht, und wir können gemeinsam noch mehr erreichen. Unsere Branche hat ihre Ärmel schon lange hochgekrempelt. Wir haben nicht vor, uns von Autokraten erpressen zu lassen. Wir haben nicht vor, uns beim Klimaschutz ausbremsen zu lassen. Wir haben vor, gute Lösungen zu finden – für die Menschen in unserem Land, für unsere Gesellschaft und unsere Unternehmen.

Wolfgang Große Entrup, 
Hauptgeschäftsführer, Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI), Frankfurt am Main

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