Strategie & Management

Daten als Unternehmenswert

Evonik auf dem Weg zur „Data Driven Company“

18.05.2022 - Die digitale Transformation der Chemieindustrie nimmt Fahrt auf. Kaum ein Unternehmen kommt um die Digitalisierung seiner Prozesse herum, aber die Ausprägung und Geschwindigkeit der Digitalisierungsprojekte sind je nach Geschäftsmodell, Unternehmensgröße und Marktsegment unterschiedlich.

Evonik will Vorreiter sein und hat sich auf den Weg zur „Data Driven Company“ gemacht. Dem Spezialchemiekonzern geht es darum, Daten auch als Unternehmenswert zu begreifen und als einen Hebel für Wachstum und zur Optimierung des eigenen Geschäfts zu nutzen. Für seine beispielhafte Datenmanagement-Initiative ist der Essener Konzern Ende 2021 vom Competence Center Corporate Data Quality (CDQ) ausgezeichnet worden und verwies namhafte B2C-Unternehmen wie Adidas und Tesa auf die Plätze. Michael Reubold sprach mit Gunnar Weider, Head of IT Strategy, Processes & Architecture bei Evonik, über den Stand der Initiative und die weiteren Pläne.

CHEManager: Herr Weider, die Digitalisierung beschleunigt sich und bezieht immer mehr Prozesse in einem Unternehmen ein. Wie hat sich die Bedeutung von Daten insbesondere für Chemieunternehmen in den letzten Jahren geändert?

Gunnar Weider: Daten bekommen durch die digitale Transformation eine neue Wichtigkeit. Nehmen wir das Beispiel des Warenem­pfängers: Innerhalb kürzester Zeit sind dessen Anforderungen an die Datenqualität deutlich gestiegen. Die betreffenden Daten, etwa das Empfangsdatum, spielen eine wichtige Rolle bei neuen Funktionalitäten des Supply-Chain-Managements, zum Beispiel bei der integrierten Geschäftsplanung oder dem Transportmanagement. Die zunehmende Integration der Geschäftsprozesse, das Nutzen der Informationen über Unternehmensgrenzen hinweg, rückt damit den Umgang mit Daten stärker in den Fokus. Ganz zu schweigen von den steigenden Anforderungen des Datenschutzes, der Datensicherheit, der Integrität und der Verfügbarkeit der Daten.

Evonik hat einen, zumindest für ein im B2B-Markt tätiges Unternehmen, neuen Weg eingeschlagen, um die Nutzung und den Umgang mit Daten besser zu organisieren. Was macht den Kern Ihrer konzernweiten Datenmanagement-Initiative aus?

G. Weider: Evonik steuert auf ein eigenständiges Datenmanagement zu und hat dafür ein Rahmenwerk, ein Exzellenzmodell, definiert. Zentrales Element ist die Datenstrategie „Be a data-driven company“, zu der das klare Verständnis gehört: „We treat data as an enterprise asset to grow and optimize our business“. Es geht im Kern darum, Daten an sich als Mehrwert für das Geschäft zu sehen und für die Möglichkeiten der digitalen Transformation zu nutzen. Aufbauend auf der Datenstrategie beschreibt das Evonik Data Excellence Model grundsätzlich die Prozesse, die Organisation, die Architektur und die Performance, also KPIs beim Umgang mit Daten.

Was ist das Neue daran, und wie wird es die Geschäftsprozesse bei Evonik verändern?

G. Weider: In der Praxis zeigt sich das an den neu etablierten Verantwortlichen für Datenqualität und Datendomänen bei Evonik. Während erstere die Qualität der Daten aus Sicht der jeweiligen Geschäftseinheiten im Blick behalten, sorgen letztere für gemeinsame Standards und Definitionen im Konzern. Beide Blickwinkel, Qualität und Standards, sind zentrale Voraussetzung für die Automatisierung von Geschäftsprozessen.

Ich erläutere das mal an einem Beispiel: Eine Geschäftseinheit möchte die Kundenauftragsbearbeitung automatisieren, damit weniger händische Bearbeitung notwendig ist, und deshalb sogenannte Low- oder No-Touch Orders einführen. Das funktioniert nur, wenn die dafür notwendigen Daten wie Stammdaten, Preise oder Verfügbarkeiten einheitlich und in ausreichender Qualität zur Verfügung stehen. Daneben gibt es eine Vielzahl von weiteren Anwendungsfällen, bei denen Daten eine besondere Rolle spielen. Beispiele wären die vorbeugende Instandhaltung oder andere Möglichkeiten der Advanced Analytics.

Warum macht sich ausgerechnet ein Unternehmen aus der chemischen Industrie jetzt an eine solch umfassende Aufgabe?

G. Weider: Wir haben in den vergangenen Jahren unsere Geschäftsprozesse harmonisiert, diese in einem zentralen SAP-ERP-System konsolidiert und im letzten Jahr auf den modernsten Stand mit SAP S/4HANA gebracht. Eine schlechte Datenqualität fällt bei harmonisierten Geschäftsprozessen sehr schnell auf.

 

„Eine schlechte Datenqualität fällt bei
harmonisierten Geschäftsprozessen sehr schnell auf.“

 

Deshalb haben wir schon früh im Rahmen der ERP-Konsolidierung die Verantwortlichkeit für Stammdaten von Kunden, Lieferanten oder Materialien gebündelt. Außerdem haben wir über eine zentrale Organisation gemeinsame Methoden und Werkzeuge bis hin zur Pflege und zum Monitoring der Stammdaten etabliert. Diese Erfahrung im Stammdatenmanagement übertragen wir nun schrittweise auf alle Daten.


An welchen Vorbildern orientieren Sie sich dabei?

G. Weider: Bei unserem Daten-Exzellenz-Modell und der Umsetzung in die Praxis haben wir oft über den Tellerrand geschaut: Das Modell orientiert sich an dem CDQ Excellence Model des Competence Center Corporate Data Quality. Bei der praktischen Umsetzung haben wir insbesondere beim Erfahrungsaustausch mit Unternehmen aus der Automobilbranche und dem Einzelhandel viel gelernt

Kann die Digitalisierung auch dazu beitragen, die gesamte Wertschöpfungskette quasi „from cradle to cradle“ zu optimieren?

G. Weider: Warum sollte es bei der Digitalisierung da eine Ausnahme geben? Als IT-Fachmann verstehe ich Digitalisierung als Möglichkeit für Unternehmen und Wirtschaft, vielfältige Vorteile zu erschließen und Dinge besser zu machen. Digitalisierung ist kein einzelner Schritt, sondern ein Prozess, der sich immer weiterentwickelt. So sehen wir neben dem Wert und der Nutzung von Daten für unsere eigenen Geschäftsprozesse zunehmend Anwendungsfälle, bei denen wir mit Daten die Geschäftsprozesse unserer Kunden, Partner und Lieferanten unterstützen.

 

„Digitalisierung ist kein einzelner Schritt,
sondern ein Prozess,
der sich immer weiterentwickelt.“

 

Ein Beispiel sind Dosiersysteme, ausgestattet mit intelligenter Sensorik, um die Produkte von Evonik zielgenau einzusetzen. Ebenso im Einsatz sind Diagnostiksysteme, die den Kunden Informationen für den optimalen Einsatz unserer Produkte bieten.

Binden Sie auch Daten Ihrer Zulieferer oder Kunden ein?

G. Weider: Daten von Kunden und Lieferanten nutzen wir in vielen Fällen schon länger, zum Beispiel beim elektronischen Datenaustausch über die Elemica-Integration oder durch die Einbindung der Lieferanten über das SAP-Ariba-Katalogwesen. Diese klassischen Methoden funktionieren gut, vorausgesetzt die Datenqualität passt auf beiden Seiten. Neu und richtig spannend sind externe Daten aus Data-Sharing­-Angeboten. Evonik ist Mitglied bei einem solchen Datenaustausch mit Peers, damit können wir unsere eigene Datenqualität erhöhen.

Wie organisieren Sie deren Nutzung?

G. Weider: Die Nutzung solcher externen Daten wird bei Evonik über einen agilen Projektansatz stetig weiterentwickelt und ausgebaut, unterstützt durch unser Enterprise Data Management Team.

Welche digitalen Technologien finden für die Realisierung der „Data Driven Company“ Anwendung?

G. Weider: Um sich bei der Vielzahl an digitalen Technologien und Möglichkeiten nicht zu verlieren, müssen Standards vorgegeben werden. So nutzen wir im IoT-Umfeld PTC ThingWorx als zentrales Datenwerkzeug. Analog haben wir Standardwerkzeuge für Automatisierung und Enterprise Analytics. Als besondere Säule der „Data Driven Company“ haben sich unsere Citizen Developer in den Geschäftsbereichen und Funktionen von Evonik etabliert. Die Zahl der Citizen Developer ist mittlerweile im mittleren dreistelligen Bereich, nach einer kleinen Schulung mit Prüfung erhalten die Citizen Developer Zugriff auf die Microsoft Power Tools und können sich ihre Datenanwendungen und -auswertungen nach ihren spezifischen Bedürfnissen erstellen.
Blockchain als sehr innovative Lösung haben wir bereits als Partner in einem Pilotprojekt aufgegriffen. Dabei ging es darum, notwendige Geschäftstransaktionen zum Waren- und Zahlungsverkehr deutlich zu vereinfachen. Allen diesen Beispielen ist eines gemeinsam: Eine hohe Datenqualität und gemeinsame Standards sind unverzichtbare Voraussetzung.

Mindestens genauso wichtig wie Technologie ist die Weiterbildung. Hier setzen wir zum einen auf Trainings im Umgang mit Daten für generelle Anwender ebenso wie für Experten wie Data Scientists. Zum anderen bieten wir gezielt Trainings für die Handhabung unserer Datenwerkzeuge an. Über 1.000 Kolleginnen und Kollegen, die die Trainings bereits durchlaufen haben, bilden so die Basis unserer Data Driven Company.

Sehen Sie aufgrund des Geschäftsmodells konkrete Vorteile für Spezialchemieunternehmen, die Unternehmen aus anderen Segmenten wie der Petro- oder Basischemie nicht generieren können?

G. Weider: Ja, definitiv. Spezialchemie bedeutet, dass es um komplexere, sozusagen schwierigere Chemie geht. Diese Komplexität kann sich vielfältig äußern, sei es in der Forschung, bei der Produktion, im Marketing, in der Lieferkette oder in der Anwendung beim Kunden. Ganz grundsätzlich kann Informationstechnologie beim Bewältigen von Komplexität helfen. Vereinfacht ausgedrückt: Je schwieriger die Chemie, desto enger die Zusammenarbeit mit Kunden und desto mehr Einsatzmöglichkeiten für digitale Lösungen. Das findet sich in unserem Purpose: „Leading Beyond Chemistry – To improve life today and tomorrow“. Wir denken über die Chemie hinaus, die Nutzung und der Umgang mit Daten ist ein Beispiel dafür.

Wie unterstützt Sie die Digitalisierung beim Thema Nachhaltigkeit mit seinen unterschiedlichen fachlichen Aspekten wie der Kreislaufwirtschaft?

G. Weider: Die Digitalisierung beziehungsweise das Datenmanagement spielt beim Thema Nachhaltigkeit eine wachsende Rolle. Wir nutzen spezielle Anwendungen, um zum Beispiel Nachhaltigkeitsberichte zu erstellen. Die dazu benötigten Daten kommen aus den verschiedensten Quellen, was einigen, teilweise manuellen, Aufwand verursacht. Evonik hat sich dafür entschieden, ein Sustainability Data Management aufzubauen, das die Geschäfte zukünftig nicht nur beim Berichtswesen, sondern auch bei der Planung und Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen unterstützt. Weiterhin spielt die Digitalisierung beim Konzept des Digital Chemical Leasing eine zen­trale Rolle. Hier wird dem Kunden nicht nur das Produkt, sondern ein Lösungspaket angeboten, das zum Beispiel zusätzlich Dosiersysteme mit Nachfüllfunktion enthält.

Wie weit sind Sie bei der Umsetzung des Programms fortgeschritten und was werden die nächsten Schritte sein?

G. Weider: Unser Programm hat basierend auf dem Evonik Data Excellence Model vier Handlungsfelder identifiziert: Data Governance, Architektur, Organisation und Prozesse sowie Data Literacy – also Datenkompetenz – und Kultur. Richtschnur für alle Aktivitäten ist die Compliance: Datenschutz, Sicherheit, Qualität, Transparenz und die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften müssen jederzeit gewährleistet sein. Derzeit liegt der Fokus auf Data Governance und Architektur, ein Beispiel ist die Einführung eines integrierten Datenkatalogs. Aus dem für Governance und Architektur erarbeiteten Vorschlag wird dann ein Konzept für die beiden anderen Handlungsfelder abgeleitet.

Welche Erkenntnisse und Lehren können Sie aus Ihren bisherigen Erfahrungen für andere Unternehmen ableiten?

G. Weider: Entscheidend war es, praktische Erfahrung im Stammdatenmanagement zu sammeln. Wir haben organisatorische, methodische und technische Wege etabliert und über KPIs die Vorteile aufgezeigt, wie zum Beispiel kürzere Durchlaufzeiten, weniger Doubletten, weniger Fehler und bessere Analysen. Hilfreich ist es auch, rechtzeitig Standards und Zuständigkeiten festzulegen, etwa wenn es darum geht, Daten bereitzustellen oder aufzubereiten. Für neue Datenanwendungen braucht man außerdem ausreichenden Freiraum zum Ausprobieren und die entsprechende Expertise. Wir arbeiten einerseits konzernübergreifend an gemeinsamen Schwerpunktthemen, wie zum Beispiel der Nutzung der künstlichen Intelligenz, und haben zum anderen spezielle Teams, die die Geschäfte bei ihren konkreten Datenprojekten unterstützen. Datenmanagement ist ein Dauerthema.

Das Interview mit Gunnar Weider führte Michael Reubold, CHEManager

ZUR PERSON
Gunnar Weider studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Darmstadt und begann 1995 in der IT-Abteilung der damaligen Röhm, die später Teil von Evonik wurde. Nach Stationen als Business Information Officer, der Segmentleitung IT Applications sowie der Leitung der IT Services Supply Chain wechselte er 2013 zur Konzerninitiative Process & Value Excellence und war mitverantwortlich für den Aufbau der globalen Evonik SAP-Plattform. 2015 übernahm er das Prozess- & IT-Management des Segments Nutrition & Care. Seit April 2019 leitet er konzernweit IT-Strategie, Prozesse & Architektur.

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