Anlagenbau & Prozesstechnik

Maßgeschneidert, sicher und wirtschaftlich

Leittechnik-Migration bei Linde Gas

02.02.2010 -

Linde Gas, ein Geschäftsbereich von Linde, ist der führende Industriegase-Anbieter in Deutschland und Europa. Auch weltweit gehört das Unternehmen zu den Top-Versorgern. Linde Gas verdankt seine Position modernen Produktionsanlagen, regelmäßigen Qualitätskontrollen und höchster Versorgungssicherheit. Bei der leittechnischen Modernisierung seines Gase-Produktionszentrums in Leuna stellte Linde Gas dieselben Anforderungen an die Migration, die auch der eigenen Servicephilosophie zugrunde liegen: ein maßgeschneidertes Konzept kombiniert mit einer sicheren und wirtschaftlichen Umsetzung.

Ob flüssiger Wasserstoff für die Halbleiterindustrie, reiner Sauerstoff für Raffinerien und Stahlwerke oder flüssiger Stickstoff für kryogene Verfahren - bedarfsgerechte Gasversorgung ist für fast alle Industriezweige unverzichtbar. In seinem europaweit größten Gase-Produktionszentrum in Leuna (Sachsen Anhalt) produziert Linde technische, medizinische, Lebensmittel- und Spezialgase für zahlreiche Branchen. Die Herstellung von reinem Sauerstoff, Stickstoff und Edelgasen basiert dabei noch heute auf den Prinzipien eines thermischen Trennverfahrens, das Dr. Carl von Linde entwickelte und 1902 zum Patent anmeldete: die Verflüssigung und Fraktionierung von Luft in ihre Bestandteile durch Rektifikation in der sogenannten Linde'schen Luftzerlegungsanlage (LZA). Im Jahr 1916 errichtete Linde am Industriestandort Leuna die erste LZA. In den letzten 90 Jahren folgten mehrere Anlagengenerationen, die jüngste Luftzerlegungsanlage LZA 8 produziert heute zuverlässig, effizient und energiesparend 33.000 m3 Sauerstoff pro Stunde. Der größte Abnehmer des hergestellten Sauerstoffs ist die nahe gelegene Raffinerie der Firma Total. Bei der Verarbeitung von Erdöl werden hier mithilfe des über Rohrleitungen direkt angelieferten Gases schwere und komplexe Kohlenstoffverbindungen in leichtere Kohlenwasserstoffe und Methanol umgewandelt. Für eine störungsfreie Produktion ist die Raffinerie auf eine kontinuierliche Sauerstoffversorgung durch Linde Gas angewiesen.

Systemwechsel für höhere ­Verfügbarkeit

Um die zugesicherte Versorgung auch in Zukunft garantieren zu können, entschied sich Linde Gas für eine grundlegende ­Modernisierung der in die Jahre gekommenen Anlagenleittechnik. Engpässe bei der Ersatzteilversorgung des bisher eingesetzten Systems von Hartmann & Braun (heute ABB) und eine erhöhte Ausfallwahrscheinlichkeit von Baugruppen stellten ein zunehmendes Risiko für die reibungslose Produktion dar.

Die Anforderungen an ein Nachfolgesystem und die Migration waren hoch: Der Umbau musste innerhalb einer möglichst kurzen Stillstandszeit erfolgen und die angeschlossene Raffinerie danach sofort wieder unterbrechungsfrei mit Gas versorgt werden. Installierte Sensoren und Aktoren sollten weitestgehend übernommen werden. Da Linde in Zukunft den sicherheitsgerichteten Teil des Systems nicht ­umständlich über Kopplungen anbinden wollte, war ein Leitsystem mit integrierter Sicherheitstechnik gefragt. Außerdem waren diverse Luftzerleger leittechnisch einzubinden: Neben der zu modernisierenden LZA 7 sollten LZA 8 und eine weitere Anlage im wenige Kilometer entfernten Buna über eine zentrale Leitwarte in Leuna bedient und beobachtet werden. Dies machte die komplette Modernisierung des bestehenden Leitstandes notwendig. Zudem wollte Linde eine Wasserstoff-Abfüllanlage leittechnisch modernisieren und sicherheitstechnisch auf den neuesten Stand bringen.

Mit PCS7 von Siemens fand Linde ein Prozessleitsystem, das den Ansprüchen genügte: Es steuerte bereits seit geraumer Zeit LZA 8 und den Luftzerleger in Buna. Neben der erforderlichen Offenheit für die Anbindung bestehender Sensoren und Aktoren und der leittechnischen Integration der einzelnen Anlagen bietet es viele Vorteile, wie z. B. eine integrierte Sicherheitstechnik mit einheitlichem zen­tralem Engineering. Linde beauftragte die Siemens AG mit dem umfangreichen Modernisierungsprojekt und sicherte sich damit maßgeschneiderte Migrationsstrategien sowie das Know-how zertifizierter Siemens-Solution-Partner wie Finze & Wagner EMSR Ingenieurgesellschaft mbH (FiWa).

Hardware-Migration vom Spezialisten

Finze & Wagner hat bereits in mehreren Migrationsprojekten sein Know-how unter Beweis gestellt. Neben Specialist-Zertifikaten für Simatic PCS7 und andere Simatic-Produkte kann das Unternehmen auch Prädikate als Industry Partner für die Branchen Chemie und Pharma vorweisen. So unterstützten die Ingenieure Linde bei der Erstellung der Migrationsstrategie für die Leit- und Sicherheitstechnik sowie die Automatisierungssysteme und auch bei der Umsetzung. Die alten fehlersicheren Steuerungen und Not-Aus-Relais wurden gegen hochverfügbare Simatic-S7-400-Controller ausgetauscht, Peripheriegeräte durch dezentrale Peripheriebaugruppen ersetzt und sowohl der Feld- als auch der Anlagen- und Terminalbus komplett neu aufgebaut. Die gesamte Sensorik und Aktorik, die bei einem Umfang von ca. 8.000 Messstellen einen enormen Anlagenwert darstellt, blieb weitgehend erhalten. Da bei der Modernisierung der Wasserstoffabfüllung eine neue HAZOP-Studie („Hazard and Operability") umgesetzt werden sollte, mussten hier einige Temperatur-, Druck- und Füllstandsensoren gegen SIL 1- oder SIL 2-fähige Geräte getauscht werden (SIL = Safety Integrity Level). Die Technik, die SIL 1 bzw. SIL 2 entsprechen muss, wurde auf fehlersichere Baugruppen gelegt. Mit dem Einsatz der Siemens-Technik konnte auf umständliche Bus-Kopplungen verzichtet werden. Insgesamt sind nun elf Automatisierungssysteme - neun davon in hochverfügbarer Ausführung - in unterschiedlichen Anlagenteilen wie der Luft-, der Sauerstoff- und der Stickstoffverdichtung, dem Kühlwerk, der Wärmeauskopplung, der Wasserstoff-­Abfüllung und dem Tanklager im Einsatz. Als Feldbus wird Profibus verwendet. Der Anlagenbus, der sich über elf Gebäude erstreckt, wurde komplett neu in Ring-Topologie aufgebaut, der Ring ist in getrennten Wegen verlegt. Insgesamt 28 Industrial Ethernet Switches liefern nun zuverlässig sämtliche Daten an die entsprechenden Adressaten. Auf Bedien- und Beobachtungsebene dient Industrial Ethernet als Terminalbus. Um eine möglichst hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten, setzt man auf redundante Serverpaare. Prozessdaten werden auf insgesamt acht Clients visualisiert. Außerdem wurde die komplette Leitwarte nach den Vorgaben von Linde erneuert. Getrennte Server-Räume sowie moderne Großbildtechnik mit Kamera-Aufschaltung für Zutrittskontrolle machen die Arbeit für das Wartungspersonal spürbar komfortabler.

Bewährungsprobe: Factory Acceptance Test (FAT)

Die Migration der Applikationssoftware stellte bei einem Umfang von über 10.000 I/Os eine Herausforderung für die Projektierungsexperten dar. ­Da sich altes und neues Leitsystem in den Grundlagen und in der Philosophie zu sehr unterschieden, war eine komplette 1:1-Migration nicht möglich bzw. nicht sinnvoll. Die Umsetzung der Software erfolgte vielmehr weitgehend funktional: Für bestimmte Regelungen, wie z. B. für Ventilansteuerungen, wurden standardisierte Typicals eingesetzt. Damit kann Linde die Vorteile des Prozessleitsystems Simatic PCS7 bei Bedienung und Verschaltung voll nutzen. Alte komplizierte Logiken konnten durch Standardbausteine aus der Linde-Bibliothek abgelöst werden. Das vereinfacht nicht nur die Fehlersuche, sondern erlaubt außerdem eine komfortablere Projektierung und spart Kosten bei späteren Updates. Für bestimmte Applikationsbereiche ließen sich die Daten des Altsystems auch rücklesen. Dazu nutzte man ein von FiWa für solche Migrationszwecke entwickeltes Software-Tool, mit dem die Altdaten eingelesen, aufbereitet und über den Import-Export-Assistenten direkt in die Simatic-PCS7-Umgebung importiert werden konnten. Die Bilddaten des Altsystems konnten ebenfalls automatisiert ausgelesen und über spezielle Rasterlayouts im neuen System erstellt werden. So sind alle ­Bedienelemente auf den Operator Stations wieder wie gewohnt angeordnet.

Der Factory Acceptance Test (FAT), mit dem die neue Technik auf Vollständigkeit und Funktio­nalität geprüft wurde, erfolgte auf Kundenwunsch direkt vor Ort. Die Umschlusszeit durfte auf keinen Fall länger als 20 Tage dauern, daher wurde besonderes Augenmerk auf diesen Systemtest gelegt. In einem ersten internen FAT testete man die komplette I/O-Ebene. Mithilfe eines Simulationstools konnten sämtliche Einzelsteuerfunktionen und zusammenhängende Funktionen der Anlage simuliert und geprüft werden. Ein anschließender FAT zusammen mit dem Kunden ermöglichte bereits konkrete Prozessoptimierungen. Mit diesen intensiven Vorarbeiten wurde sichergestellt, dass die Anlage nach dem Umschluss zu 100 % fehlerfrei lief - und nicht nur das: Statt der geplanten 20 Tage benötigte man nur 17. Das erlaubte den Anlagenbetreibern ein um drei Tage vorgezogenes Kaltfahren und damit eine erhebliche Verkürzung unerwünschter Stillstandszeit. Linde zeigte sich daher zufrieden: „Die gute Projektkoordination und die Technologie des Prozessleitsystems Simatic PCS7 haben uns überzeugt", lobte Hans-Jochen Schneeloch, Head of Electrical Services bei Linde Gas. Ein weiterer Schlüssel für die erfolgreiche Projektabwicklung war die hervorragende und kompetente Mitarbeit des Betreibers in Leuna sowie die Projektleitung der Engineeringabteilung von Linde Gas in Pul­lach bei allen Detail- und Konzeptfragen während Planung, FAT und Inbetriebnahme.

„Die Migration hat die Systemlandschaft vereinheitlicht und zugleich die Leistungsfähigkeit, die Verfügbarkeit und die Sicherheit der Anlage erhöht. Zudem profitieren wir von geringeren Wartungskosten durch einheitliche Ersatzteilhaltung und Verwendung standardisierter Bausteine", fasst Schneeloch zusammen. Mit neuer Regelungstechnik und der zeitgemäßen Bedien- und Beobachtungsphilosophie von Simatic PCS7 ist für Linde Gas in Leuna auch die zentrale Bedienung verteilter Anlagen möglich. Der LZA Buna ist über Richtfunk an den Terminalbus angebunden. So können von jeder Operator Station die LZAs 7, 8 und Buna bedient werden. Damit sichert sich Linde eine Know-how-Bündelung und mehr Flexibilität in einer zentralen Warte und kann so auch in Zukunft alle Kunden zuverlässig mit Industriegasen versorgen.

Dipl.-Ing. Alexander Mack,
Siemens AG


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