Märkte & Unternehmen

Zwischen Teufelswerk und Lösungsindustrie

Studie des Rheingold-Instituts zum öffentlichen Bild der chemischen Industrie

04.05.2021 - Wie tickt Deutschland in der Krise? Was bewegt Menschen, wenn sie auf die Chemieindustrie blicken? Diese Fragen untersuchte Stephan Grünewald, bekannt als „Psychologe der Nation“.

Wie tickt Deutschland in der Krise? Wie sehen die Menschen die Chemieindustrie? Und was denken und fühlen die Beschäftigten der Branche? Diese Fragen untersuchte das Rheingold-Institut unter Leitung von Stephan Grünewald, bekannt als „Psychologe der Nation“, im Auftrag des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) und der Industriegewerkschaft Berg­bau, Chemie und Energie (IG BCE). Andrea Gruß sprach mit dem Bestsellerautor und Geschäftsführer des Kölner Marktforschungsinstituts darüber, was Menschen im Blick auf die Chemiebranche tatsächlich bewegt.

CHEManager: Herr Grünewald, wie wirkt die Covid-19-Pandemie auf uns?

Stephan Grünewald: Die Coronakrise ist für die Menschen eine große Ohnmachtserfahrung, weil sie einer diffusen Gefährdung ausgesetzt sind, einem Feind, den man nicht sehen kann. Um etwas gegen diese lähmende Ohnmacht auszurichten, haben die Menschen zu Beginn der Pandemie die Baumärkte gestürmt und sich mit Hämmern und Zangen hochgerüstet. Toilettenpapier wurde in Massen gekauft, um zu zeigen, dass man in der Krise im doppelten Sinne noch geschäftstüchtig ist. Auch der Frühjahrsputz fiel im letzten Jahr gründlicher aus, weil man hier in privaten Bodenoffensiven sichtbare Feinde zur Strecke bringen konnte. Die Ohnmachtserfahrung konfrontiert die Menschen mit der eigenen Verletzlichkeit. Insbesondere die zweite Welle der Pandemie wurde unbewusst als himmlische Strafe für einen expansiven Lebensstil erlebt und auch sprachlich mit der biblischen Sintflut assoziiert. Dies führt zu Läuterungswünschen. Die Menschen wollen ihr Leben nach anderen Werten gestalten.

Demnach beschleunigt die Krise den gesellschaftlichen Wertewandel?

S. Grünewald: Eine Krise ist immer einerseits eine Entwicklungsbeschleunigung, andererseits auch eine Problemverstärkung. Bestimmte Probleme, die es bereits vor der Krise gab, sind durch die Pandemie verstärkt worden – wie die Spaltung in der Gesellschaft. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung leiden sehr unter dem Lockdown, unter der räumlichen Enge, unter den Freiheitsbeschränkungen oder der Überforderung durch Homeschooling. Sie haben existenzielle Sorgen. Ein knappes Drittel der Bevölkerung hat sich dagegen mit der Lebensform Lockdown arrangiert. Sie erleben ihn als entschleunigend und entlastend. Viele Zumutungen oder Anforderungen der modernen Welt entfallen. Selbstbezüglichkeit ist auf einmal zur Staatsräson geworden. Dieses Drittel – das meist gut alimentiert ist – richtet sich in einer Corona-Biedermeier-Idylle ein.

„Die Chemieindustrie sollte sich als innovativer Problemlöser
mit gesellschaftlichem Commitment positionieren.“

Die veränderten Werte und Haltungen wirken auch auf das öffentliche Bild der Chemie. Wie wird diese während er Coronakrise wahrgenommen?

S. Grünewald: Die Wahrnehmung der Chemieindustrie in der Öffentlichkeit ist ambivalent. Ihre überlebenswichtigen Produkte, wie Desinfektionsmittel und vor allem Impfstoffe, bieten den Menschen Schutz und Sicherheit und mildern ihr Gefühl der Verletzbarkeit. Die Branche wird daher einerseits als „Retter in der Not“ erlebt. Andererseits sehen die Menschen die Chemieindustrie als „Läuterungsersatz“. Die Menschen wollen ihr altes Leben zurück, spüren aber auch, dass sich nach der Pandemie etwas verändern muss. Das fällt ihnen schwer. Deshalb erwarten sie, dass die Branche die von ihnen erwünschten Wert- und Verhaltensänderungen an ihrer Stelle vollbringt. Sie fordern ein Umdenken der Branche – analog zu ihrem eigenen Wertewandel – hin zu mehr Umweltschutz, Nachhaltigkeit sowie zur Besinnung auf wirklich Wichtiges. Den Ursprung dieser Erwartungshaltung der Menschen an die Chemieindustrie besser zu verstehen, war ein Ziel unserer Studie. 

Die Studie zum öffentlichen Bild der Chemieindustrie soll der Branche Orientierung zur Positionierung nach der Pandemie geben. Welche Methodik haben Sie angewandt? 

S. Grünewald: Schwerpunkt der Studie waren zweistündige psychologische Tiefeninterviews. Insgesamt haben wir 140 Bürger, Mitarbeiter der Chemiebranche, aber auch Journalisten und Influencer sinnbildlich auf die Psychologencouch gelegt und die Probanden ermuntert, alles was ihnen zur Chemieindustrie einfällt, mit eigenen Worten und möglichst alltagsnah zu beschreiben, und dabei auch Gefühlsqualitäten zu äußern. Es werden keine vorgegebenen Fragenkataloge abgearbeitet, sondern man begibt sich mit dem Befragten auf eine Forschungsreise mit offenem Ergebnis. Durchführung und Auswertung dieser Interviews unterliegen expliziten Regeln. Auf diese Weise werden Wirksamkeiten und Einflussfaktoren aufgedeckt, die menschliches Verhalten bestimmen. 

Was ergab die Analyse der Interviews? Welches Bild hat die Öffentlichkeit von der Chemieindustrie?

S. Grünewald: Es zeigte sich ein sehr komplexes, zum Teil paradoxes Bild mit vier zentralen Facetten. Zu Beginn der Tiefeninterviews beschrieben die Menschen die Chemie als abstrakt und unfassbar. Sie erinnerten sich an ihre Schulzeit, in der sie keinen Zugang zur formelhaften Welt der Chemie fanden. Schüler, die gut waren in Chemie, galten als Nerds. Danach tritt im Gespräch schnell ein zweiter Aspekt in den Vordergrund. Die Chemieindustrie wird dann von den Menschen als finstere Macht gesehen, als Teufelswerk. Es werden Bilder geschildert von rauchenden Schloten, gelbem Schnee, von Smog, verunreinigten Gewässern und Umweltkatastrophen oder Warnsymbolen mit Totenkopf. 
Der dritte Aspekt ist positiver: Wenn sie sich tiefer mit ihr auseinandersetzen, erleben die Menschen die chemische Industrie als Lösungsindustrie. Sie realisieren, wie wichtig deren Innovationen für Fortschritt und Entwicklung sind, zum Beispiel für die Heilung von Krankheiten oder umweltfreundliche Technologien. Manche Probanden sagen dann: Ohne die chemische Industrie wären wir noch im Mittelalter.
Im weiteren Verlauf der Interviews zeigt sich ein vierter Aspekt. Dabei fällt es den Menschen wie Schuppen von den Augen, dass die Chemieindustrie ein lebensnotwendiger Alltagsbegleiter ist. Ohne sie gäbe es keine Kühlschränke, keine Plasmafernseher, keine Glühbirnen oder Plastikflaschen. Auch Elektro­autors, Windräder oder Smartphones wären ohne Chemie nicht möglich. 

Welche Gefühle sind mit diesen Bildern verbunden?

S. Grünewald: In dem Maße, wie die Menschen die chemische Industrie als Lösungsindustrie und damit als machtvoll oder übermächtig erleben, desto kleiner und unmündiger fühlen sie sich. Ähnliches haben wir mit Versicherungen erlebt. Versicherungsgesellschaften sind wie die chemische Industrie psychologisch betrachtet eine Schutzmacht. Diese Schutzmacht ist unverzichtbar, wirkt gleichzeitig aber auch kränkend, denn obwohl wir volljährig und im Beruf erfolgreich sind, sind wir auf sie angewiesen. Damit erzeugt das eigentlich positive Attribut Lösungsindustrie bei Verbrauchern das Gefühl, ich bin abhängig und unmündig.
Verstärkt wird dieses Kleinheits- und Abhängigkeitsgefühl durch die elementare Lebensnotwendigkeit der Chemieindustrie. Zum Teil geraten die Menschen dabei auch in Schuldgefühle, weil sie nicht auf Kühlschränke, Plastikflaschen oder Handys verzichten möchten und damit selbst zur Belastung der Umwelt beitragen. All das führt mitunter dazu, dass man sich lieber mit dem Teufelswerk Chemie­industrie auseinandersetzt – und so als Oberrichter die chemische Industrie abkanzeln kann – als sich die eigene Abhängigkeit einzugestehen, die mit Lösungsindustrie auch verbunden ist. 

Das heißt, Slogans wie „Chemie steckt überall drin!“ sind nicht zielführend, um Vertrauen aufzubauen? 

S. Grünewald: Genau. Die chemische Industrie darf nicht den Fehler begehen, sich weiter als Schutzmacht aufzublasen und die Kleinheitsgefühle des Verbrauchers verstärken. Sondern sie sollte demonstrieren, wir sind an deiner Seite und auf Augenhöhe. Wir verstehen dich und arbeiten gemeinsam an einer besseren Welt.

Was ergaben die Tiefeninterviews mit Mitarbeitern der Chemieindustrie? 

S. Grünewald: Die Wahrnehmung der Mitarbeiter ist stark geprägt von einem Drinnen-Draußen-Effekt. Innerhalb der Chemieindustrie herrscht ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt. Die Mitarbeiter fühlen sich wie in einer Wagenburg geborgen. Gelobt werden das gute Verhältnis zu den Vorgesetzten, die Sozialpartnerschaft, die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die im Vergleich guten Gehälter. Man fühlt sich fürsorglich behandelt und erlebt die eigene Industrie als gut organisiert und finanzkräftig. Die Mitarbeiter sind stolz auf die Branche und haben das Gefühl, am Schalthebel einer explosiven Macht zu sitzen und etwas zu bewegen.

Aber es gibt auch eine Kehrseite dieses tollen Drinnens. Man hat als Mitarbeiter der chemischen Industrie das Gefühl, angekettet zu sein. Man kann nicht wie andere Arbeiter streiken, weil die Anlagen immer bewirtschaftet werden müssen. Es gibt eine große Konsenspflicht. Es gibt einen peniblen und einengenden Arbeitsschutz, der durch die Pandemie nochmals verstärkt wurde. Mitunter fehlt auch der Produktstolz, wenn nur Rohstoffe verarbeitet werden. 
Der positiven Innenwahrnehmung steht die Skepsis und teils die feindliche Stimmung gegenüber, die den Beschäftigten draußen entgegenschlägt, wenn sie sich als Mitarbeiter der chemischen Industrie zu erkennen geben. Sie fühlen sich schuldig, wenn in der Öffentlichkeit über Tierversuche, Umweltprobleme oder Verlagerungen ins Ausland gesprochen wird. 

Wie gehen die Beschäftigten der Chemieindustrie mit der Spannung um?

S. Grünewald: Hier beobachten wir unterschiedliche Strategien und Handlungsoptionen. Der Reaktionstyp „beleidigte Leberwurst“ fühlt sich missverstanden, zu Unrecht verurteilt und zieht sich zurück. Andere verfolgen eine Rechtfertigungsstrategie und betonen bei jeder Party oder bei jedem Treffen mit Verwandten oder Bekannten, warum die Chemie doch wichtig wäre. Stillere Typen schwelgen in latentem Größenwahn und sind stolz auf die Potenz der Chemieindustrie. Wieder andere wählen den Weg der manifesten Machtdemonstrationen und protzen im Bekanntenkreis damit, wie wichtig man als Arbeitgeber ist oder wie viel Desinfektionsmittel dem Bundesgesundheitsminister in Rekordzeit bereitgestellt wurde. Die Strategie, mit der am ehesten ein Miteinander mit der Innen- und Außenwelt zustande kommt, ist die der Verantwortungsübernahme. Dieser Reaktionstyp bekennt sich zu den Stärken und Schwächen der Chemieindustrie, zeigt Dialogbereitschaft und thematisiert auch Dinge, die in der Vergangenheit schiefgelaufen sind oder auch aktuell noch schieflaufen.

Wie sollte sie sich die chemische Industrie in Zukunft positionieren?

S. Grünewald: Um die paradoxe Wahrnehmung der Chemieindustrie in der Öffentlichkeit aufzulösen, sollte sie nicht als Schutzmacht auftreten, sondern als Wachstumsförderer, der sich in den Dienst der Gesellschaft und des Einzelnen stellt. 
Die Menschen wollen nach der Krise eine neue Sinnstiftung erleben. Sie wollen eine Mission erfahren. Man traut der chemischen Industrie zu, dass sie einiges, zum Beispiel in den Bereichen Klimaschutz, Ressourcenschonung, Gesundheit und Ernährung, verändern kann. Das sollte aber mit Sinn und mit einer höheren gesellschaftlichen Mission verbunden sein.

Die Chemieindustrie sollte sich daher als innovativer Problemlöser mit gesellschaftlichem Commitment positionieren. Commitment kann auch heißen: Komm-mit-Mentalität, also die Menschen mitzunehmen. Insgesamt haben wir zehn Handlungsempfehlungen in unserer Studie für die Neupositionierung formuliert. 

Wie kann die Chemieindustrie eine neue Dialogkultur mit ihren Stakeholdern schaffen? 

S. Grünewald: Es braucht eine Tonalität geprägt von stolzer Selbstbescheidung und souveräner Selbstrelativierung. Denn nicht Stolz allein, sondern die Bereitschaft Schwächen anzuerkennen und Dinge zu hinterfragen, zeugt von wahrer Souveränität. Nahbare Repräsentanten, die – wie „Herr Kaiser“ von Hamburger-Mannheimer – auf Augenhöhe ebenso selbstbewusst wie selbstkritisch die öffentliche Auseinandersetzung suchen und nicht von oben herab die dummen Bürger abkanzeln, können Beziehungsangebote schaffen. Schließlich sollte die Chemie bei aller rationaler Argumentation auch ihren Zauber zum Klingen und die Menschen zum Staunen bringen. 

Weitere Informationen zur Studie:

„Das öffentliche Bild der Chemie: Zwischen Teufelswerk und Lösungsindustrie“ finden Sie hier.

                                                                                                                                                                                                                       
ZUR PERSON
Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe, Autor der Bestseller „Deutschland auf der Couch“, „Die erschöpfte Gesellschaft“ und „Wie tickt Deutschland?“ sowie Mitbegründer und Geschäftsführer des Rheingold-Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit zählt die Trend- und Gesellschaftsforschung. Grünewald studierte Psychologie an der Universität Köln.
                                                                                                                                                                                                                       

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