Chemie & Life Sciences

Biobasierte Rohstoffe aus organischen Reststoffen

Mikroalgen als bioökonomisches Bindeglied zwischen Abfallwirtschaft und Chemieindustrie

26.01.2023 - Neue Rohstoffe als Alternativen zu Petrochemikalien und resiliente Lieferketten werden für den Produktionsstandort Deutschland immer wichtiger.

Die Bioökonomie will mittels biobasierter Rohstoffe die Grundlage für nachhaltigen Wohlstand schaffen. Ein innovatives Verfahren zur flächenschonenden Produktion von Chemikalien mittels Mikroalgen und organischer Reststoffverwertung kann Teil der Lösung sein und die Gesamtrohstoffproduktivität deutlich erhöhen. Extrakte aus den Algen versprechen dabei attraktive Eigenschaften für Produktinnovationen und konkurrenzfähige Produktionsprozesse. Ein Pilotprojekt in der Abfallwirtschaft soll das unter Beweis stellen.

Mit dem Fokus auf grünen Wandel innerhalb der planetaren Grenzen werden durch politische Instrumente wie dem Green Deal oder von Industrie- und Ressourcenstrategien in Europa und Übersee die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts adressiert. Von der Bioökonomie erhofft sich die Politik und Industrie neue Technologien sowie biobasierte Produkte und Prozesse, für einen Paradigmenwechsel zu Produktkreisläufen nach dem Vorbild der Natur.

Recycling als Mission der Bioökonomien

Die Nutzung von Biomasse als Quelle für biobasierte Rohstoffe und Produkte steht dabei in Flächen- und Ressourcenkonkurrenz mit bspw. der Nahrungsmittelproduktion. In Zeiten des Klimawandels gerät die Biomasse­produktion stark unter Druck und Importe von z. B. Proteinfutter bringen Deutschland in globale Verantwortung. Das Recycling von bereits genutztem Material spielt dabei eine zentrale Rolle, um die Gesamtrohstoffproduktivität flächenschonend zu erhöhen und Nutzungskonflikte zu vermeiden.

Laut dem World Ressource Institute werden global ein Drittel der produzierten Lebensmittel zu Abfall, mit jährlichen Schäden von 940 Mrd. USD und Emissionen von 4,4 Mrd. t CO2-eq. In Deutschland fallen etwa 12 Mio. t Lebensmittelabfälle pro Jahr an, die gebührenfinanziert mit geringer Wertschöpfung energetisch oder landwirtschaftlich verwertet werden. Dabei bleiben die in großen Mengen enthaltenen funktionalen Moleküle weitestgehend ungenutzt und chemisches ­Potenzial geht verloren. Eine höherwertig stoffliche Verwertung, wie im Abfallrecht und Ressourcenstrategien gefordert wird, bleibt aus.

Algen-Bioraffinerie für die Verwertung organischer Reststoffe

Im Rahmen von Förderprogrammen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurde am Institut für Lebensmittel- und Umweltforschung (ILU) eine Algen-Bioraffinerie für die Produktion von biobasierten Produkten aus organischen Reststoffen entwickelt. Schlüsselorganismus der Anlage ist die extremophile Mikro­alge Galdieria sulphuraria, die unter stark sauren Bedingungen in Dunkelheit heterotroph wächst und organisches Material konsumiert. Durch ihr robustes Wachstum und hohen Zelldichten von bis zu 80 g/L, kann die Mikroalge in kompakten, konventionellen Bioprozessen kultiviert werden. Das breite metabolische Spektrum der Alge sowie die sauren Kultivierungsbedingungen machen den Prozess robust für die Verarbeitung heterogener sowie nicht steriler Reststoffe.

In der Algen-Bioraffinerie werden Reststoffe in einem ersten Schritt enzymatisch aufgebrochen (hydrolysiert). Verbleibende Feststoffe und Fette werden abgetrennt und einer Biogasanlage zugeführt. Dabei reduziert sich der Volumenstrom, der über den konventionellen Entsorgungsweg behandelt wird, um bis zu 80 %. Der spezifische Methan­ertrag erhöht sich hingegen um bis zu 30 % durch eine Steigerung des hoch-kalorischen Fettanteils im Vergleich zum Ausgangsmaterial. In der verbleibenden nährstoffreichen Flüssigphase werden die Mikroalgen kultiviert und damit Nährstoffe verbraucht.

Lebensmittelabfälle mit einem Wassergehalt von bis zu 70 % werden so in einem kompakten Prozess zu Algenbiomasse, Abwasser und zu einer fettreichen Reststofffraktion für die Biogasproduktion (Grafik). In einem Downstream-Prozess werden aus der Algenbiomasse Stärke und Pigmente abgetrennt und eine proteinreiche Biomasse produziert.

Einzigartige Produkte der extremophilen Mikroalge

Die Mikroalge Galdieria sulphuraria ist bisher wenig kommerzialisiert und mit Prozessen wie mechanisch-wässriger Extraktion können verschiedene Koppelprodukte gewonnen werden. Die neuartigen Werkstoffe können als innovative Rohstoffe u. a. in der Textil-, Kunststoff-, Papier-, Verpackungs-, Lebens- und der Futtermittelindustrie vermarktet werden. Für alle Rohstoffe sind kurz und mittelfristig jährliche Wachstumsrate (CAGR) der Märkte von 7% bis 9,5 % prognostiziert.

Phycocyanin, ein natürlicher blauer Farbstoff in Galdieria sulphuraria, der in Food- und Non-Food-Bereichen zum Einsatz kommt, ist hitze- und säuretoleranter als das bisher auf dem Markt verfügbare Pigment. Amylopektin in Form von Florideen-Stärke wird ausschließlich in Rotalgen gefunden und zeigt bessere Verkleisterungs- und Pastentemperaturen als bisher kommerziell genutzte Stärken. Es wird als Dickungsmittel, Filmbildner, Kleber oder Emulsionsstabilisator sowie Kohlenhydrat für Diätnahrung eingesetzt.

Der Proteingehalt von ca. 30 % der Algenbiomasse zeigt eine attraktive Zusammensetzung von essenziellen Aminosäuren und kann z. B. als Lebens-, Futter-, Düngemittel oder Zuschlagsstoffe in Biokunststoffen oder Kosmetika verwendet werden.

Einbindung in die Praxis

Das entwickelte Verfahren soll nun in einer Kooperation zwischen dem Institut für Lebensmittel- und Umweltforschung (ILU) und dem Entsorgungsunternehmen Nehlsen sowie weiteren Industriepartnern skaliert und aus dem Labormaßstab in den Pilotmaßstab überführt werden. Ziel dabei ist die Erschließung neuer, lokaler Rohstoffquellen aus bisher nur begrenzt genutzten Abfallströmen im Sinne der Sicherstellung einer nachhaltigen Rohstoffversorgung.
Durch das Verfahren soll die bisher gängige Praxis und Wertschöpfungsketten zur Verwertung von Biomasse um einen essenziellen Baustein erweitert werden. Für die Einbindung in die Praxis werden notwendige Anforderungen an die optimale Erfassung und Vorbehandlungen der verschiedenen Biomasseströme weiterentwickelt und die Verwertung der Produkte getestet. Praktische Erprobung der Wertschöpfung und Innovationspotenziale in bestehender Entsorgungsinfrastruktur und Logistik stehen dabei im Vordergrund.

Langfristig ist angedacht, das Verfahren in Strukturen für die Biomasseverwertung flächendeckend und dezentral zu integrieren. Durch eine Integration in bestehende Verwertungswege im Sinne einer Verlängerung der Wertschöpfungstiefe kann eine schnellere Marktetablierung erfolgen und für die Industrie eine neue Rohstoffquelle mit signifikanter Produktmenge aufgebaut werden.

Fazit

Mikroalgen, die heterotroph wachsen, können die Brücke für die biobasierte Wirtschaft der Zukunft bilden. Die Verwertung von ortsnah verfügbaren organischen Reststoffen, die bisher nur geringer Wertschöpfung zugeführt werden konnten, sind für die Produktion innovativer Rohstoffe von zentraler Bedeutung. Das im Labormaßstab erprobte Verfahren einer Algen-Bioraffinerie soll in Zusammenarbeit zwischen dem ILU und Nehlsen in die Praxis überführt werden. Eine funktionale Einbindung des Verfahrens in bisherige Entsorgungswege für z. B. Lebensmittelabfälle verspricht eine Erweiterung der werkstofflichen Verwertung und Wertschöpfungskette sowie Synergien mit der Biogasproduktion und entspricht damit europäischen und nationalen Strategien für eine kreislauforientierte nachhaltige Wirtschaft.

Autoren:
Wolf Raber, Senior Projektleiter, Institut für Lebensmittel- und Umweltforschung (ILU) e.V. und
Kai Bastuck, Leiter Business Development, Nehlsen AG

ZUR PERSON
Wolf Raber ist Umweltingenieur und arbeitet seit 2021 als Senior Projektleiter am Institut für Lebensmittel- und Umweltforschung (ILU). Zuvor war er seit 2011 am Inter 3 Institut für Ressourcenmanagement tätig mit Arbeitsschwerpunkt auf Wassermanagement und der Anpassung an den Klimawandel in der angewandten Forschung. Er studierte Umwelttechnologie an der Technischen Universität Berlin und erwarb einen Masterabschluss in International Land and Water Management an der Universität Wageningen.

ZUR PERSON
Kai Bastuck ist seit 2021 Leiter im Bereich Business Development bei Nehlsen. Zuvor war er seit 2005 in verschiedenen leitenden Positionen für Geschäftsfeldentwicklung und Innovationen in der Recyclingwirtschaft, u. a. bei Interseroh und PreZero, tätig. Er studierte Geografie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und erwarb einen Executive Master of Business Administration (MBA)

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