Chemie & Life Sciences

Deutscher Chemiehandel: Rückblick und Aussichten getrübt

Interview mit den Vorstandsmitgliedern des Verbands Chemiehandel (VCH)

15.05.2020 -

Der Verband Chemiehandel (VCH) hat berichtet, dass der deutsche Chemikalien-Groß- und Außenhandel 2019 mit einem Umsatzrückgang von 7,1 % auf rund 13,7 Mrd. EUR zum Vorjahr abgeschlossen hat. Für den Bereich der Industriechemikalien wurde ein Rückgang von 8,6 % notiert und der Spezialchemikalienhandel musste im Vergleich zu 2018 einen Rückgang um 6,4 % hinnehmen. Bei den Mengen zeigte sich eine leicht positive Veränderung zum Vorjahr mit einem Plus von insgesamt 1,7 %. Zum Geschäftsverlauf im Einzelnen und zu weiteren branchenrelevanten Themen befragte Birgit Megges den Verbandsvorstand: Christian Westphal (Präsident), Robert Späth (stellvertretender Präsident und Schatzmeister), Thomas Sul (stellvertretender Präsident und Vorsitzender der FA Außenhandel), Bastian Geiss (Vorsitzender der FA Chemiehandel und Recycling), Frank Edler (Vorsitzender der FA Binnenhandel), die Vorstandsmitglieder Thorsten Harke und Volker Seebeck sowie Ralph Alberti (geschäftsführendes Vorstandsmitglied) und Michael Pätzold (Geschäftsführer).
Aufgrund der Coronakrise wurden die Fragen schriftlich gestellt und beantwortet.

 

CHEManager: Der deutsche Chemikalien-Groß- und Außenhandel musste 2019 einen Umsatzrückgang hinnehmen. Für den Bereich der Industriechemikalien waren dies -8,6 %. Welche Gründe führten zu diesem Ergebnis?
 

Volker Seebeck: Als Grund für den Umsatzrückgang ist im Wesentlichen der starke Preisrückgang bei den großen Commodities zu nennen. Dies lag an einem Rückgang des Ölpreises zur Zeit des Jahreswechsels, dem Handelskrieg zwischen USA und China, einer allgemein geringeren Nachfrage und dem Aufstarten neuer Kapazitäten einiger Produkte in den USA.
 

Frank Edler: Der deutsche Chemika­lienhandel spiegelt mit seiner negativen Umsatzentwicklung im Jahr 2019 im Wesentlichen das Gesamtbild seiner Kunden und Lieferanten wider. So war der Umsatz der deutschen Chemieindustrie in ähnlichen Größenordnungen rückläufig und auch andere im Fokus des Chemiehandels stehende traditio­nelle Hauptbranchen wie zum Beispiel die Lack- und Farbenindustrie waren von diesem Trend betroffen. Beispiele gibt es genug, so dass die prognostizierte globale Abkühlung bereits spürbar war.

 

Thorsten Harke: Entgegen dem Trend konnten wir in 2019 im Vergleich zu 2018 einen etwas höheren Umsatz erzielen, jedoch spürten auch wir den Preisdruck in verschiedenen Bereichen, wie beispielsweise bei den Industriechemikalien, Farben und Lacken und Polymeren.
 

Auch für den Spezialitätenhandel, der sich in der Regel positiver entwickelt, wurde ein Rückgang von 6,4 % verzeichnet. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück? 

 

Christian Westphal: Im zweiten Halbjahr 2019 waren vor allem stark fallende Verkaufspreise für einige Rohstoffe ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung. Dieser Trend wurde zusätzlich noch durch die von den USA erlassenen Einfuhrzölle verstärkt, weil viele asiatische Produzenten versuchten, ihre Produkte zusätzlich in Europa abzusetzen, was zu weiteren Preisreduktionen führte.

 

Thomas Sul: Wir waren ebenfalls überrascht und gehen davon aus, dass die sehr schwache Automobilindustrie – insbesondere in der zweiten Jahreshälfte – der Hauptgrund für diese Entwicklung war. 

 

Robert Späth: Im zweiten Halbjahr 2019 deutete sich schon eine nahende Rezession an. Das war noch unbeeinflusst von der Coronakrise. Der Bedarf reduzierte sich auch bei den Spezialitäten. Diese negative Entwicklung erfuhr zum Jahreswechsel eine Abschwächung hin zum Optimismus. Leider konnte dieser sich durch die derzeitige Krise nicht fortsetzen.
 

T. Harke: Bei den Spezialitäten konnten wir in 2019 die Umsätze leicht steigern. Die Margen standen jedoch unter Druck und es gab weniger Neuentwicklungen bei unseren Kunden aufgrund der sich allgemein etwas verschlechternden Wirtschaftslage. Generell ist der Trend festzustellen, dass sich mehr Distributoren auf den Bereich der Spezialchemikalien fokussieren, was dort zu einem stärkeren Verdrängungswettbewerb führt.
 

Gab es grundsätzlich unterschiedliche regionale Entwicklungen im Chemikalienhandel? 
 

C. Westphal: Im Jahr 2019 waren bei den Nachfragerückgängen weniger regionale, dafür aber eher zeitliche Unterschiede spürbar. Während das 1. Halbjahr durchweg zufriedenstellend verlief, schwächte sich im 2. Halbjahr die Nachfrage sowohl in Europa als auch in Asien ab.

 

T. Sul: In Asien hat sich das Geschäft generell sehr gut entwickelt, wobei die Wachstumsraten von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Die geschäftliche Entwicklung in Korea und Japan war eher verhalten; Thailand und Malaysia wuchsen nur in geringem Maße. Vietnam profitierte vom Handelskrieg am meisten, aber auch in Indonesien und auf den Philippinen liefen die Geschäfte gut. Indien hatte 2019 Probleme, weil es einen sehr starken Rückgang in der Automobilindustrie gab. Covid-19 hat die erwartete Erholung für Indien in 2020 im Keim erstickt. China hat durch den Handelskrieg sicher am meisten verloren, aber viele chinesische Hersteller haben reagiert und ihre Waren in Asien und Europa in den Markt gedrückt.  
 

V. Seebeck: Für die Basischemie war es eine globale, zum Teil regional zeitversetzte Entwicklung.

 

R. Späth: Die Rückgänge im letzten Quartal 2019 waren im internationalen Geschäft weniger stark ausgeprägt. 

 

F. Edler: Innerhalb Deutschlands waren diese Entwicklungen branchen-, aber nicht regionsabhängig.

 

T. Harke: Deutschland, UK, Russland und Rumänien haben sich bei uns in allen Bereichen relativ gut entwickelt. Dies gilt auch für Polen, jedoch herrscht dort nach wie vor ein sehr hoher Preisdruck. In Italien und der Türkei hatten wir im Industriebereich Probleme wegen Zahlungsschwierigkeiten der Kunden. Der Life-Sciences-Bereich lief dort jedoch gut. Ungarn stand ebenfalls wegen einer schwachen Nachfrage unter Druck.


Der Mengenabsatz konnte insgesamt gesteigert werden. Allerdings mussten Rückgänge von 4,8 % bei den Feststoffen und von 0,6 % bei den Spezialitäten hingenommen werden. Welche Erklärungen haben Sie hierfür?
 

F. Edler: Der Trend hinsichtlich des Mengenabsatzes bei Feststoffen ist seit Jahren zu verzeichnen. Innerhalb der letzten drei Jahre beträgt er sogar nahezu 10 %. Ein Grund dafür ist, dass die Kunden mehr und mehr auf bereits in Lösung befindliche Feststoffe setzen, um eigene Formulierungskapazitäten einzusparen.

 

R. Späth: Zum Teil lässt sich das mit Versorgungsengpässen begründen. 

 

T. Harke: Bei uns standen die Mengen insbesondere in den Bereichen Farben und Lacke und bei den Kunststoffrohstoffen unter Druck. In anderen Bereichen wie Wasch- und Reinigungsmittel, Pharma und Food konnten wir jedoch einen gewissen Mengenanstieg verzeichnen.
 

Das Recycling-Geschäft hat sich in den vorangegangenen Jahren stets positiv entwickelt. Wie sah es 2019 aus?
 

Bastian Geiss: Auch 2019 war ein sehr stabiles Jahr, wenn man die Mengen­entwicklung betrachtet. Bei einzelnen Produkten war jedoch ein Preisrückgang zu verzeichnen. Die Nachfrage nach Recyclingkapazitäten für die Aufarbeitung von Produkten hat das Angebot sowie die Anlagenkapazität deutlich überstiegen.

Gerade bei Lieferengpässen von primär erzeugten Frischwaren ist das Recycling und die Aufarbeitung von Altwaren ein probates Mittel, um die Produktion von solchen Engpässen unabhängig aufzustellen. Dies konnten wir auch im letzten Jahr wieder bei einigen Produkten feststellen.

Eine immer stärker werdende Entwicklung, die sich in der chemischen Industrie abzeichnet, ist der ökologische Gedanke. Hierbei wird der Mehrwert der Circular Economy sowie daraus resultierende Effekte auf den CO2-Footprint in den Vordergrund gestellt und gelebt.
 

Welchen Beitrag leisten Chemiedistributoren entlang der Liefer- und Wertschöpfungsketten für eine nachhaltige Zukunft?
 

C. Westphal: Wir sind fest davon überzeugt, dass nachhaltiges Arbeiten in der Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Bei Ter Chemicals arbeiten wir seit Längerem intensiv an den Themen Green Chem­icals und werteorientierter Unternehmensführung. Green Chemicals hat das vorrangige Ziel, bestehende Chemikalien durch nachwachsende natürliche Rohstoffe zu ersetzen oder zumindest durch umweltverträglichere Chemikalien auszutauschen. Hierzu gibt es bereits eine Reihe positiver Umsetzungsbeispiele.

 

R. Späth: Das Thema Nachhaltigkeit bekommt zunehmend auch in der Chemiedistribution Bedeutung. Die Chemiedistribution trägt durch ihre Kundennähe und die Vielfalt an bedarfsgerechten Gebindegrößen viel zu einer effizienten Logistik bei. Das Pfandsystem des Chemiehandels und die Rücknahme von Grundchemikalien zum Recycling sind Parade­beispiele für Circular Economy. Auch das Responsible-­Care-Programm der Branche integriert die Themen der Nachhaltigkeit in seine Maßnahmenpakete. Dies greift Hand in Hand mit der zunehmenden Teilnahme von Mitgliedern unserer Branche an Systemen wie TfS. Dabei arbeiten wir permanent daran, die Vielfalt der Systeme auf gemeinsame Nenner zu bringen, damit die damit verbundene Bürokratie nicht ausartet.

 

T. Harke: Als Distributor haben wir immer schon große Anstrengungen unternommen, die Warenströme zu optimieren, Lieferungen möglichst zu kombinieren und auf den ökologisch sinnvollsten Verkehrsträger zu setzen, wo immer es geht. Dies sehen wir als eine wichtige Funktion als Distributor für unsere Kunden und Lieferanten. Auch in Zukunft werden wir in unseren Bemühungen hier nicht nachlassen.
 

Welche Einflüsse haben sich im letzten Jahr als besonders hinderlich für Ihre Geschäfte herausgestellt?
 

V. Seebeck: Für Helm war dies mit ­Sicherheit der Fachkräftemangel. In besonderem Maße fehlten Fahrer für den Gefahrguttransport.

 

R. Späth: In der Tat ist nach wie vor der Mangel an qualifizierten Fahrern ein Thema. Das bringt nicht nur Probleme bei der Rekrutierung des eigenen Fahrerpersonals, sondern auch Qualitätsprobleme bei der Lieferung über Speditionen. Teilweise wurden schon Anlieferungen verweigert, weil der Fahrer weder Deutsch noch Englisch konnte. Das ist bei Gefahrgutlieferungen in Deutschland nicht akzeptabel. Entsprechende Vorgaben bei der Beauftragung der Speditionen laufen oft ins Leere, wenn diese an Logistikpartner in Speditionsnetzen nicht weitergegeben werden. Aktuell sind durch den Lockdown genug Fahrer vorhanden, aber das ist nur ein temporärer Effekt.
 

T. Harke: Auch bei uns stellt der Mangel an qualifizierten Fahrern bei gleichzeitig steigenden Anforderungen der Kunden an die Fahrer, zum Beispiel in sprachlicher Hinsicht, ein Problem dar, zumal mehr und mehr Fahrer aus Osteuropa stammen und mit Deutsch und Englisch Probleme haben. Aufgrund dieses Fachkräftemangels konnten wir ein Ansteigen der Logistikkosten verzeichnen.
 

In den letzten Jahren gab es immer wieder Einschränkungen durch neue Regularien oder Gesetze. Ist dies weiterhin der Fall?
 

Ralph Alberti: Ein zunehmendes Hemmnis für die Unternehmen stellt die schleppende behördliche Umsetzung neuer Vorschriften, verbunden mit dadurch verursachten Rechtsunsicherheiten und äußerst kurzen Umsetzungsfristen, dar. Die neue EU-Explosivstoffverordnung zum Beispiel sieht erstmals auch umfangreiche Dokumentationspflichten bei der Abgabe im B2B-Bereich vor. Hierbei sind aber sowohl die Verordnung als auch die Guidelines interpretationsfähig. Es steht zu befürchten, dass die Anforderungen so ausgelegt werden, dass diese zwar im B2C-Bereich möglicherweise zu erfüllen sind, aber den Gepflogenheiten im B2B-Geschäft ebenso widersprechen wie dem tatsächlich Leistbaren und auch – aus dem Sicherheitsaspekt heraus – Verhältnismäßigen. Obwohl nur sehr vereinzelt überhaupt Fälle aus dem B2B-Bereich bekannt sind und hier das freiwillige Monitoring gut funk­tioniert, droht eine Überspannung der Anforderungen zu Lasten derjenigen, die auch bisher ihrer Verantwortung seit Jahren nachkommen. Daher ist eine rechtssichere und verhältnismäßige Umsetzung beziehungsweise Auslegung der Vorschriften wichtig. Bedauerlicherweise sind aber bislang keinerlei Schritte in diese Richtung unternommen worden, obwohl die Zeit bis zum Inkrafttreten der Verordnung im Februar 2021 drängt. Schon die Verordnung von 2013 ist bei vielen offenen Fragen nicht umgesetzt worden.

Eine weitere „Baustelle“ ist die Abstandsfrage nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz. Hier hat der Europäische Gerichtshof bereits 2011 deutlich gemacht, dass die deutsche Praxis dem europäischen Recht widerspricht. Die SEVESO-III-Richtlinie, welche Mitte 2015 in Kraft getreten ist, wurde erst mit einer Verspätung von 18 Monaten umgesetzt, ohne die Frage im Kern anzugehen. Von der in der deutschen Umsetzung enthaltenen Verordnungsermächtigung ist bis heute kein Gebrauch gemacht worden. Erst mit Beginn dieses Jahres sollten Planspiele durchgeführt werden, welche aber aus verständlichen Gründen zurzeit der Coronakrise ausgesetzt sind. So verbleibt für die Unternehmen eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Möglicherweise werden auch die zwischenzeitlich proaktiv von den Unternehmen gemeinsam mit Sachverständigen und den Behörden erstellten Gutachten obsolet und die Genehmigungslagen nachträglich in Frage gestellt.

 

Michael Pätzold: Ein Thema, das uns seit 2019 begleitet, ist die „Harmonisierte Meldung gefährlicher Gemische“ nach Artikel 45 der CLP-Verordnung. Die im Ansatz sinnvolle Harmonisierung in der EU führte aufgrund diverser Unklarheiten bei der Umsetzung und nicht rechtzeitig zur Verfügung stehender Meldeportale zu einer Verschiebung der ersten Meldefrist vom 1. Januar 2020 auf den 1. Januar 2021 bei der Meldung von gefährlichen Gemischen für den Endverbraucher. Aber auch 2020 zeichnet sich ab, dass immer noch Probleme bei der Interpretation und Umsetzung verschiedener Pflichten in der Lieferkette bestehen, bis hin zu Klarstellungen, wie einzelne Gemische zu behandeln sind. Eine zweite Änderungsverordnung steht an, diese wird mitunter neue Regeln einführen, sodass der Handel schlimmstenfalls seine vorbereitenden Arbeiten wieder von vorn beginnen kann. Die sinnvolle Nutzung von Meldungen über miteinander kommunizierende IT-Systeme erweisen sich bisher auch als eine Hürde. 
 

Der Chemiehandel ist durch seine weltweite Vernetzung und gute logistische Konzepte in der jetzigen Situation ein verlässlicher Partner bei der Beschaffung und Versorgung mit Rohstoffen für alle Bereiche. Mit welchen Maßnahmen stellen Sie sicher, dass dies so bleibt?
 

V. Seebeck: Wir stellen dies sicher, indem wir mehr als eine Lieferquelle nutzen und differenzierte Logistikkonzepte – bis hin zur Lagerhaltung an verschieden Orten in Europa – anbieten.

 

R. Späth: Eine gute Vernetzung, sowohl international als auch digital, ist dafür erforderlich. In Zukunft wird es auch unerlässlich sein, die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung bei der Erschließung von Lieferquellen besser zu nutzen. 
 

T. Harke: Wir sind ständig dabei, unser internationales Netzwerk auszubauen und unsere Verbindungen zu intensivieren. Das ermöglicht uns unter anderem auch, in sehr knappen Marksituationen aufgrund guter Verbindungen noch an Ware zu kommen. Ferner sind wir Gesellschafter in Einkaufsverbänden, wie der Penta in Europa und der Omni-­Chem in den USA mit Einkaufsbüros unter anderem auch in China und Indien, die unser Netzwerk noch einmal erweitern und ihre Verbindungen ebenfalls ständig ausbauen. Darüber hinaus wächst auch unser eigenes Netzwerk an Auslandsniederlassungen weiter, über die wir ebenfalls in verschiedenen Ländern Kontakte zu lokalen Herstellern etablieren und ausbauen.
 

Welche Auswirkungen der Coronakrise werden Ihrer Meinung nach den größten Einfluss auf Ihre Branche haben?
 

C. Westphal: Wir standen vor der großen Herausforderung, fast alle unsere Mitarbeiter von „Jetzt auf Gleich“ ins Homeoffice zu schicken und ich kann feststellen, dass diese abrupte Umstellung trotz anfänglicher Skepsis sehr gut funktioniert hat. Besonders erfreulich ist, dass unter den Mitarbeitern ein sehr großer Zusammenhalt und eine enorme Kreativität zu spüren ist, auch wenn sie sich physisch nicht sehen können.

 

T. Harke: Bisher konnten wir noch keine größere Erkrankungswelle oder Coronafälle feststellen. Obwohl auch bei uns eine größere Anzahl von Mitarbeitern im Homeoffice arbeitet, läuft das Geschäft noch relativ stabil und ohne größere Probleme. Jedoch fallen mittlerweile vereinzelt Kunden und Lieferanten durch Werksschließungen aus. Wir befürchten für die kommenden Monate auf jeden Fall Rückgänge durch Nachfrageausfälle.

 

V. Seebeck: Themen sind die Aufrechterhaltung der operativen Einsatzfähigkeit. Dazu gehört die Sicherstellung der Versorgung und die Überwachung der Absatzmöglichkeiten, da Kunden kurzfristig schließen oder in finanzielle Schwierigkeiten geraten könnten.

 

R. Späth: Die aktuelle Krise ist leider sehr weitreichend. Durch die Betroffenheit vieler Lieferketten stehen wir erst am Anfang, um das Ausmaß der Konsequenzen abschätzen zu können. Vollsortimenter haben derzeit noch den Vorteil, dass sie mit den Branchen, die aktuell von der Krise profitieren, die Rückgänge in anderen Bereichen ausgleichen können. Sorge bereitet allerdings, dass wir bereits erste Insolvenzen bei Kunden sehen und das wird zu nachhaltigen Einbrüchen führen. Wir rechnen auf jeden Fall mit höheren Ausfallrisiken. 

Je schneller wir die Krise überwinden, umso höher ist die Chance, dass eine schnelle Erholung gelingt. 

 

R. Alberti: Die Entwicklungen rund um das Coronavirus sind derzeit sehr dynamisch. Der Großhandel ist nicht von Betriebsschließungen betroffen. Der Chemiehandel konnte hier gegenüber den verantwortlichen Stellen seine besondere Systemrelevanz darlegen. Schließlich liefert der Chemiehandel in kritische Infrastrukturen wie Gesundheit und Arzneimittel, Ernährung, Wasserver- bzw. Abwasserentsorgung etc. Aber die getroffenen Maßnahmen mit Betriebsschließungen in vielen Bereichen treffen natürlich auch die Kunden des Chemiehandels. So belastet zum Beispiel der Produktionsstopp in der Automobilbranche viele Unternehmen der Branche sehr. Auch die Tatsache, dass Produkte aus China zunächst wegen des dortigen Ausbruchs und dann wegen fehlender Transportkapazitäten fehlen, macht das Geschäft schwierig. Es kommt sicherlich derzeit auch sehr stark auf den Branchenmix an. So können einige Unternehmen Ausfälle zumindest in Teilen durch die starke Nachfrage nach Desinfektionsmitteln auffangen. Das gilt aber bei Weitem nicht für alle Unternehmen.


Trotz aller Unsicherheiten, die es derzeit gibt. Wie schätzen Sie die Aussichten für 2020 ein?
 

T. Sul: Eine generelle Vorhersage ist nicht möglich. Die Entwicklung wird von Branche zu Branche sehr unterschiedlich sein und hängt auch von der Dauer der Covid-Maßnahmen ab. Die Automobilindustrie ist stark betroffen und es wird erwartet, dass die Nachfrage erst viel später wieder ansteigen wird. Somit sind unsere Kunden, die Hersteller in den Bereichen Farben/Lacke und Kunststoffe, ebenfalls von diesem Rückgang betroffen. Es gibt aber auch Unternehmen, die ihre Produktion erhöht haben, beispielsweise im Bereich der Verpackungsmittel wie Folien, Flaschen etc. Die Lebensmittelindustrie profitiert teilweise sehr stark von der Schließung der Gastro­nomie. Es gibt eine starke Nachfrage nach Rohstoffen und Spezialitäten, insbesondere die Nachfrage nach haltbaren Lebensmitteln ist stark gestiegen. Ebenso profitieren die Kosmetikhersteller, vor allem Hersteller von Reinigungs- und Desinfektionsmitteln sowie die pharmazeutische Industrie.

Insgesamt wird es kein gutes Jahr für die Industrie und somit auch nicht für den Chemiehandel. Prozentuale Vorhersagen sind bei dieser dynamischen Entwicklung nicht möglich und, wie bereits erwähnt, von Abnehmerbranche zu Abnehmerbranche unterschiedlich.

 

T. Harke: Für das 1. und 2. Quartal sehen wir die Nachfrage, selbst in den industriellen Bereichen, noch als erstaunlich stabil. In anderen Bereichen boomt es sogar wie bei Reinigungs- und Desinfektionsmitteln. Auch im Pharmasektor beobachten wir einen Anstieg, wenn auch in geringerem Maße. Dies ließe auf eine V-förmige Entwicklung der Krise mit schneller Erholung schließen. Das 2. Halbjahr wird jedoch mit ­Sicherheit schwieriger werden. Daher halten wir eine U-förmige Entwicklung, bei der eine Erholung länger dauert, aktuell noch für wahrscheinlicher. Unsere ursprünglichen Ziele werden wir somit vielleicht nicht erreichen können. Dennoch halten wir es bis jetzt noch für möglich, dass wir in diesem Jahr trotz allem nicht wesentlich unter dem Vorjahresniveau liegen werden.

 

R. Späth: In Q3 und Q4 sind angesichts der Auftragslage einiger Branchen weitere Einbrüche zu befürchten. Erst 2021 wird zeigen, welche Branchen den Turnaround schaffen.
 

C. Westphal: Das 1. Quartal verlief bisher zufriedenstellend. Allerdings werden wir uns wohl darauf einstellen müssen, das gesamte Jahr 2020 sehr „auf Sicht“ zu fahren. Verlässliche Prognosen sind derzeit gerade einmal für den nächsten Monat möglich.

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