Anlagenbau & Prozesstechnik

Sicher und flexibel produzieren

Der Faktor Mensch beim Fahren von Multipurpose-Anlagen

25.10.2016 -

Die Produktion in Multipurpose-Anlagen birgt Risiken. Bediener müssen die häufigen Rezeptwechsel im Blick behalten. Auch die Automation ist auf die Herstellung unterschiedlicher Produkte anzupassen. TÜV Süd Process Safety zeigt, wie das Fahren dieser Anlagen sicher bleibt.

In der chemischen Prozessindustrie sind zwischen 40 % und 60 % aller Vorfälle auf den Faktor Mensch bzw. menschliches Versagen zurückzuführen. Das zeigen Analysen von Ereignissen wie durchgehende Reaktionen oder Stoffaustritte. Exakt herzustellen ist der Zusammenhang zwischen menschlichem Verhalten und Vorfällen nur dann, wenn eine Fehlbedienung nachweisbar ist. In den meisten Fällen ist es aber viel komplexer: Die Kombination aus Fehlverhalten, technischen Problemen oder Defekten führt in der Summe zu einem Vorfall. Das gilt umso mehr, wenn der Bediener der Anlage zusätzliche Aufgaben übernimmt, weil der hohe Wettbewerbsdruck den Betreiber zu Personaleinsparungen zwingt.

Flexibel in jeder Hinsicht

Multipurpose-Anlagen steigern die Flexibilität und Effektivität verfahrenstechnischer Prozesse – und werden daher immer häufiger eingesetzt. Doch für Mensch und Maschine sind die Herausforderungen enorm: Häufige Rezeptwechsel, stark variierende Prozessparameter und sich ändernde Steuerungsaufgaben müssen sicher beherrscht werden. Der Faktor Mensch und damit auch das Thema „menschliches Versagen“ spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn trotz des hohen Automatisierungsgrades von Multipurpose-Anlagen ist der Einfluss des Bedieners auf Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen groß.

Bediener überwachen die Produktion, welche bei höherem Automationsgrad auch weitgehend von alleine ablaufen kann. Bei Multipurpose-Anlagen ist das Risiko eines Fehlers in der Bedienung besonders groß. Die Lösung: Eine Festlegung der sinnvollen Verteilung von Aufgaben zwischen dem Bediener und der automatisierten bzw. teilautomatisierten Anlage. Sicherheit und Zuverlässigkeit ist die Domäne der Automation. Aber auch sie darf nicht fehlerhaft sein. Denn dann können zusätzliche, vorher nicht betrachtete Risiken entstehen. Wird ein Rezeptwechsel vorgenommen, sind die Prozessparameter und der Grad der Automation anzupassen. Auch die Bediener müssen sich auf ihre neue Produktionsaufgabe einstellen. Die Umstellung kann neue Kennwerte und konfigurierte Alarme, aber auch Anweisungen für den Umgang mit reaktiven Stoffen betreffen. Beim Bediener ist das Vertrauen in die Automation ein entscheidender Aspekt: Ist es zu gering, greift er zu häufig unnötig ein. Er vertraut seiner eigenen Wahrnehmung und seinen Fähigkeiten mehr als der Automation. Was geschieht im umgekehrten Fall? Die „wahre“ Zuverlässigkeit der Automation wird überbewertet und in Folge vernachlässigt der Bediener seine Kontrollaufgaben.

Alarme einordnen und priorisieren

Mehrere hundert Alarme pro Tag sind in manchen Produktionsbetrieben keine Seltenheit. Im Zweifelsfall wird lieber ein Alarm zu viel, als zu wenig ausgelöst. Mit Hilfe moderner Prozessleitsysteme ist es einfach, isolierte Alarme zu konfigurieren. Aber nicht jeder Alarm muss zwangsläufig Konsequenzen für den Bediener haben. Verschmutzte Sensoren, zu eng gesetzte Prozessparameter oder nicht optimal laufende Regelkreise gehören dazu. Die Herausforderung besteht darin, die Priorität richtig einzuschätzen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Daher ist es notwendig, zu priorisieren und kritische Alarme für das Anlagenpersonal auf den ersten Blick leicht erkennbar zu gestalten.

Nicht zu viel und nicht zu wenig fordern

TÜV Süd empfiehlt, die Systemeigenschaften mit Blick auf alle sicherheitsrelevanten Faktoren zu identifizieren: Technik, Organisation und Mensch. Basis sind systematische Sicherheitsbetrachtungen gemäß den Regelwerksanforderungen und Aufgabenanalysen. Ziel sollte sein, den Bediener stets in das Gesamtsystem der Anlage einzubeziehen. Ein weiterer Aspekt ist die stetige Weiterentwicklung der Arbeitsabläufe und deren didaktische Vermittlung an das Personal. Geplante Umstellungen und ihre Auswirkungen müssen von Mitarbeitern stets verstanden und dann auch verinnerlicht werden. Ein Rezepturwechsel sollte so eingeplant werden, dass er den Bediener nicht zu viel und nicht zu wenig fordert. Das gesamte Anlagen- und Prozessdesign ist so auszurichten, dass menschliche Fehler bei der Umstellung vermieden werden. Rein technische Sicherheitslösungen reichen hier nicht aus, weil der Faktor Mensch beim Fahren einer Multipurpose-Anlage eine entscheidende Rolle spielt.

Produktion von Peroxiden und Persulfaten

United Initiators (vormals: Degussa Initiators) stellt am Standort Pullach bei München organische Peroxide und Persulfate her. Die dortige Mehrproduktchemie erfordert ein hohes Sicherheitsniveau. Im Jahre 2001 wurde die technische Realisierung der Produktion überdacht. Gründe hierfür waren der hohe Wettbewerbsdruck und eine damals veraltete Prozessleittechnik. Das eingeführte Automationskonzept sollte auch die geforderte Flexibilität für die Produktion mit Batchprozessen in Multipurpose-Anlagen ermöglichen. Es wurden zwei Produktionsgebäude mit acht Produktionszellen inklusive der verbundenen Messwarten und Arbeitsplätze zusammengelegt. Zudem sollten die Steuerung und Überwachung zentralisiert werden. Bei der Umstellung lag ein wesentlicher Fokus auf der Synchronisierung eines Prozessleitsystems mit einem Sicherheitssystem.

Implementiert wurde ein Scada-System, das dem sicherheitsgerichteten Leitsystem übergeordnet ist. Ein OPC-Server stellt die Verbindung des Scada-Systems zur Sicherheitssteuerung her. Alle Produktionsprogramme und auch die Rezepte sind permanent in der Speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) geladen. Die Auswahl der Programme und Rezepte wurden auf diesem Wege ebenfalls automatisiert. Das implementierte Konzept kommt bis heute erfolgreich zum Einsatz.

TÜV Süd unterstützte den Betreiber beim Implementieren eines sogenannten „Handshake-Verfahrens“, das Scada mit dem Sicherheitssystem verbindet und auf dem 4-Augen-Prinzip basiert. Bei der automatisierten Rohstoffzufuhr funktioniert die Datenkommunikation der Produktionseinheiten über safeethernet. Das Konzept ermöglicht, den Automatisierungsgrad der Multipurpose-Anlage erheblich und nachhaltig zu steigern und eine flexiblere Produktion zu gewährleisten, ohne dabei die Schnittstelle „Mensch-Prozess“ zu vernachlässigen. Zudem ist maximale Prozesssicherheit gewährleistet. Der erreichte Safety Integrity Level 3 (SIL 3) entspricht dem in EN 61508 geforderten Sicherheitsniveau.        

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