Logistik & Supply Chain

Systemische Risiken im Pharma-Einkauf begrenzen

Strategischer Pharma-Einkauf: Freimachung von starker Bindung an bestimmte Lieferregionen

25.02.2021 - Warengruppen­management, Prozess­optimierung, bereichsübergreifende Zusammenarbeit – all dies gehört zum kleinen Einmaleins im strategischen Einkauf.

Die wirkliche Herausforderung ist allerdings die Abhängigkeit von bestimmten Lieferregionen.
Ulrike Holzgrabe wählte klare Worte: „Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe. Sie liefern einfach keine Antibiotika mehr“, so die Professorin für Pharmazie und Medizinische Chemie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in einem TV-Interview. In Europa gibt es z. B. nur noch eine einzige Penicillin-Produktion – in Kandel/Tirol.

Wie weit die Importabhängigkeit inzwischen fortgeschritten ist, zeigt eine Wirkstoff-Studie von Pro Generika. Von 565 Herstellern generischer Active Pharmaceutical Ingredients (API) sind 33 % in Europa ansässig, 59 % in Asien und 8 % in der restlichen Welt. Allein auf China entfallen 26 % und auf Indien 24 %. Ein Wirkstoff kann von mehreren Herstellern produziert werden. Im Jahr 2000 wurden in Asien nur 183 zur Herstellung berechtigende Certificates of Suitability (CEP) vergeben. Im Jahr 2020 sind es zehnmal so viel. In Europa ist die Zahl im gleichen Zeitraum von 348 auf 1.260 gestiegen.

Eine Verlagerung nach Europa ist teuer, was ein Rechenmodell zum generischen Wirkstoff Cephalosporin zeigt. Das Antibiotikum wird seit 2017 nicht mehr in Deutschland produziert. „Um den deutschen Bedarf von 100 t jährlich zu decken, würde laut einer von Pro Generika veröffentlichten Analyse ein negatives EBIT in Höhe von 55 Mio. EUR erzielt. Die Mehrkosten entsprächen 0,25 % der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 2017 und 46 Cent je Tagesdosis. Zum Vergleich: Der Durchschnittspreis pro Tagesdosis für Generika ohne Biosimilars lag 2019 nach Berücksichtigung von Rabattverträgen bei 6 Cent und ohne bei 17 Cent“, so Claudia Klein, Branchenanalystin der IKB Deutsche Industriebank.

Es gibt kaum Aussicht auf schnelle Lösungen, dafür umso mehr auf böse Überraschungen. „Wir haben bereits erleben müssen, dass es bei Produktionsstopps wie im Februar wegen der Pandemie in China zu Engpässen kommen kann. Gleiches gilt, wenn Regierungen aus politischen Gründen vor Ort eingreifen und Materialien oder Rohstoffe für sich beanspruchen“, so Jan-Christoph Kischkewitz, Geschäftsführer von Inverto, der auf Einkauf und Supply Chain Management spezialisierten Tochter der Boston Consult­ing Group. Die Pandemie habe das Abhängigkeitsproblem nicht hervorgerufen, sondern in den Fokus gerückt. Lieferengpässe aufgrund von Qualitätsmängeln, fehlenden Vormaterialien oder Erdbeben habe es schon vorher gegeben.

„Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe. Sie liefern einfach keine Antibiotika mehr.“

Ulrike Holzgrabe, Prof. f. Pharmazie und Medizinische Chemie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

 

Versorgungssicherheit in Einklang mit Kostenoptimierung

Nicht ohne Grund wird dem Einkauf in der pharmazeutischen Industrie von allen Branchen ein signifikanter Einfluss auf die Wertschöpfung zugeschrieben. Vorausgesetzt, er werde früh genug eingebunden, sagt Kischkewitz. In Forschung und Entwicklung anzusetzen, sei besonders sinnvoll, weil dies der kostenintensivste Schritt in der Arzneimittelproduktion überhaupt sei. Ein Multi-Sourc­ing in verschiedenen Weltregionen reduziere die Lieferrisiken bereits erheblich. Durch strategische Partnerschaften mit Lieferanten ließen sich Versorgungssicherheit und Kostenoptimierung in Einklang bringen. Dies könne so weit gehen, dass gemeinsame Produktionswerke in Europa aufgesetzt würden.
„Allerdings sollten Pharmaunternehmen gerade bei Endprodukten auf Eigenproduktionen setzen, um Abhängigkeiten zu verringern“, so der Experte. Zugleich ließen sich neue Standards etablieren. Transformationsprogramme und eine durchgängige Digitalisierung schüfen Transparenz über Kosten, Prozesse und Lieferketten bis hin zu Vorlieferanten. Vor allem aber gelte es, in europäischen Dimensionen zu denken. Würde die Produktion des europaweiten Cephalosporin-Bedarfs von 500 t zusammengelegt, beliefen sich die Mehrkosten auf jährlich 78 Mio. EUR. Das sind 70 % weniger als bei einer nationalen Lösung.

Die am 25. November 2020 veröffentlichte europäische Arzneimittelstrategie nennt aber weder konkrete Projekte noch Fördervolumina. Zu der Liste der Wirkstoffe für den ambulanten Bereich, die analog zur Liste für die Notfall- und intensiv­medizinische Versorgung perspektivisch wieder in der EU produziert werden sollten, wird laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu Jahresbeginn eine Unterarbeitsgruppe gebildet.

Als wirtschaftlicher Anreiz sei eine Änderung des Rabattsystems in der Weise denkbar, dass mindestens drei Unternehmen mit europäischen Produktionsstandorten den Zuschlag erhalten, so IKB-Analystin Klein. Weitere Ausnahmen im EU-Beihilferecht könnten den Mitgliedstaaten erlauben, Investitionen in hochmoderne und digitalisierte Anlagen zu unterstützen, ergänzt Kischkewitz.

Österreich macht Nägel mit Köpfen. Die Regierung bezuschusst eine Investition zum Erhalt der Penicillin-Produktion von Novartis in Tirol in Höhe von 150 Mio. EUR zu einem Drittel aus Forschungsmitteln.

 

Statements einiger Experten zu diesem Thema:

„In der Frage der Wirkstoffe und Zwischenstoffe muss jetzt gehandelt werden. Es geht darum, gemeinsam eine Liste zu erstellen, welche Medikamente essenziell sind und wie wir für diese eine sichere Versorgung in Europa garantieren können. Auf Basis der Risikoanalyse müssen wir dann die Rückverlagerung der Herstellung bestimmter Stoffe nach Europa vorantreiben. Dazu sind entsprechende Investitionen respektive Vereinbarungen notwendig. Der Bau einer Wirkstoffproduktion ist ein sehr langwieriges Vorgehen. Es bedarf deshalb langfristiger Mengen- oder Preisgarantien für die Industrie. Andernfalls wird es keine entsprechenden Investitionen in Europa geben.“

Christoph Stoller, General Manager, Teva Deutschland/Österreich und President Medicines for Europe

 

„Den größten Teil seiner Produkte für den europäischen Markt produziert Fresenius Kabi schon heute in Europa. Es gibt Mittel und Wege, die Versorgungssicherheit zu deutlich niedrigeren Kosten weiter zu erhöhen. Etwa durch eine höhere Bevorratung mit essenziellen Arzneimitteln. Hilfreich wären auch größere regulatorische Spielräume, etwa um schnell auf Engpässe reagieren zu können. So könnten Medikamente vorübergehend mit Verpackungen in Fremdsprachen angeboten werden, sofern die Informationen online in der Landessprache abrufbar sind. Eine Rückverlagerung von Produktionsketten kann die Ultima Ratio sein, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichen.“

Mats Henriksson, Vorstandsmitglied Fresenius, Unternehmensbereich Fresenius Kabi

 

„Ich bin dafür, dass Produktionen zurückgeholt, zugleich aber auch hierzulande bestehende gestärkt werden. Dass auch in Deutschland respektive Europa Wirkstoffe in nicht unerheblichem Umfang hergestellt werden und die Versorgungssicherheit gewährleisten, wird in der politischen Diskussion vielfach übersehen. Unternehmen müssen allerdings wirtschaftlich arbeiten können. Der Corona-Impfstoff ist ein Beispiel dafür, dass viel bewegt werden kann, wenn der politische Wille vorhanden und der Druck der Ereignisse groß genug ist. Man darf sich nicht täuschen: Eine Pandemie ist nur eines von vielen denkbaren Desastern in Lieferketten und wir stehen womöglich in einiger Zeit wieder vor Problemen. Deshalb muss das Thema so schnell wie möglich auf die Tagesordnung.“

Thomas W. Büttner, Geschäftsführer, Gemini PharmChem Mannheim

 

„Bei der Metriopharm haben wir bisher bereits auf lokale Supply Chains und Kooperationspartner gesetzt. Dies hat sich in der aktuellen Krisensituation sehr bewährt. Durch etablierte lokale Partnerbeziehungen waren wir in der Lage, für ein klinisches, Covid-relevantes Entwicklungsprojekt innerhalb kurzer Frist eine zuverlässige Belieferung sicherzustellen.“

Wolfgang Brysch, CEO, Metriopharm

 

 

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