Anlagenbau & Prozesstechnik

Wie die NAMUR die Einführung von Ethernet-APL aus Anwendersicht vorantreibt

Die Feldebene als Flaschenhals für Digitalisierung in der Prozessindustrie beseitigen

11.04.2024 - Ethernet-APL verspricht endlich die Feldebene von Prozessanlagen zu digitalisieren und den vorhandenen Datenschatz im Feld nutzbar zu machen. Neben technischen Fragen steht aber auch die Frage im Raum, wie man solch eine Technologieeinführung möglichst sauber und effizient begleitet. Aus diesem Grund wurde die NAMUR APL Task Force ins Leben gerufen, um die Einführung auch organisatorisch zu begleiten. Und aktuelle Erhebungen zu laufenden Projekten zeigen, dass die Einführung von Ethernet-APL auf großes Anwenderinteresse stößt und das Potenzial gesehen wird.

Die chemische Industrie in Deutschland befindet sich im Umbruch. Hoher Wettbewerbsdruck sowie die Notwendigkeit, Energieeinsatz und CO2-Ausstoß zu minimieren, sind Treiber dieses Transformationsprozesses. Hierbei spielt die Digitalisierung eine maßgebliche Rolle, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Auch im Umfeld einer Produktionsanlage selbst spielt die Digitalisierung eine immer größere Rolle: So erlaubt bspw. eine umfangreichere Integration von Daten aus verschiedenen Quellen eine verbesserte Fahrweise der Anlage.

Während sich diese Digitalisierungsvorhaben zumeist auf die Vernetzung von Informationsquellen mit überlagerten, unternehmensweiten Systemen beziehen, bleibt ein bereits vorhandener Datenschatz bis heute nahezu ungenutzt: erweiterte Diagnosedaten sowie zusätzliche Prozesswerte aus vorhandenen Feldgeräten in der Feldebene. Die Nutzung dieser Daten würde eine vorausschauende Wartung der verbauten Feldgeräte erlauben und so ungeplante Ausfallzeiten vermeiden. Weiterhin ergeben sich eine Vielzahl weiterer Anwendungsfälle rund um die Nutzung dieser Daten.

Doch warum werden diese Daten bisher nicht genutzt, wenn ihr Wert doch nachweislich hoch ist? Die Gründe liegen in den speziellen Anforderungen der Automatisierungstechnik. So zählen im Umfeld der Prozessleittechnik vor allem Zuverlässigkeit und ein langer Lebenszyklus. Anlagen werden für eine Lebensdauer von mehreren Jahrzehnten geplant und entsprechend lange betrieben. Während dieser Betriebsdauer muss die Technik funktionieren und auch Ersatzteile müssen verfügbar sein.

Mit dieser Fokussierung auf den Betrieb der Anlagen haben sich in den Jahren verschiedene Technologien etabliert. Klassische Analogsignale wie die 4…20 mA-Technik sind weiterhin vorherrschend in der Prozesstechnik. Oftmals kommt hier auch HART zum Einsatz, um Zusatzinformationen an das Leit­system zu übertragen – jedoch mit sehr geringer Datenrate und mit großem Aufwand in der Konfiguration. Vor knapp 30 Jahren traten dann Feldbusse die Nachfolge an und versprachen digitale Kommunikation. Jedoch setzten sich diese aufgrund ihrer Komplexität in Planung und Betrieb nie flächendeckend durch und die Ernüchterung der Anwender ist bis heute wirksam.

Die derzeitige Kommunikation aus der Feld­ebene ins Prozessleitsystem kann also als Flaschenhals einer umfassenden Digitalisierung der Prozessindustrie angesehen werden. Auf der anderen Seite ist das Potenzial der Nutzung der dort bereits vorhandenen Daten aber riesig. Es wird also Zeit auch diese Herausforderung zu lösen.

Ethernet bis ins Feld: Ethernet-APL

Genau hier setzt Ethernet-APL (Advanced Physical Layer) an. Es beschreibt eine weitere, standardisierte Übertragungsschicht (Physical Layer) für etabliertes Ethernet. Bekannte Protokolle, wie bspw. Profinet, lassen sich so aus dem Schaltraum bis ins Feld zu den Feldgeräten durchgehend nutzen. Hierbei vereint APL zum einen die speziellen Anforderungen der Prozessindustrie (eigensicher, 2-Drahttechnik, Speisung der Geräte), eröffnet aber andererseits bisher ungekannte Möglichkeiten (10 MBit/s Übertragungsrate).

Neben der reinen Übertragungstechnik hat sich in den letzten Jahren aber auch viel an der Integration in das Leitsystem getan. In jahre­langer Zusammenarbeit haben die Anwender, vertreten durch die NAMUR (Interessen­gemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie), zusammen mit den Herstellerorganisationen konsequent die Lehren aus den Erfahrungen bei der Feldbusein­führung berücksichtigt. All diese Erfahrungen fließen nun im Zuge des Technologieumbruchs hin zu Ethernet-APL direkt mit ein. Anwender erhalten somit nicht nur einen weiteren Feldbus, sondern endlich ein Kommunikationssystem, das sowohl effizienteres und kostengünstigeres Engineering als auch zuverlässigen Betrieb und darüber hinaus hochperformante, digitale Kommunikation vereint.

 

© BASF
Vergleich des Technologiestacks mit klassischer Technologie (links) und Ethernet-APL (rechts). (PLS: Prozessleitsystem, AMS: Asset Management System, SSPS: sicherheitsgerichtete speicherprogrammierbare Steuerung). © NAMUR

 

Mehrwert durch Kombination von Technologien

Wie bereits erwähnt ist es aus Anwendersicht nicht mit Ethernet-APL getan. Ein geeignetes Kommunikationsprotokoll muss ebenso vorhanden sein wie die notwendigen Schnitt­stellen und Standards zur Integration der Geräte in das Leitsystem sowie zum Zugriff auf die vorhandenen Zusatzdaten. Auch hier hat die NAMUR klare Vorstellungen und Vorgaben gemacht, um Anwendern die Auswahl der Technologien abzunehmen und den Herstellern die Entwicklung passender Lösungen zu erlauben. Diese sind nach NAMUR Empfehlung NE 168:

  • Ethernet-APL als neue Übertragungsschicht zwischen Feldgerät und Feldgerätenetzwerk.
  • Profinet oder Ethernet/IP als neue Standardprotokolle für die Kommunikation zwischen Prozessleitsystem und Feldgerät.
  • Standardgeräteprofile nach NE 131, z. B. das PA-Profil V4.02  zur Vereinfachung der Integration der Feldgeräte in das Leit­system. So beschreiben diese Geräte­profile Standardklassen von Geräten, beispielweise Temperatursensoren, und erlauben somit den einfachen Gerätetausch auch über verschiedene Geräte hinweg – ohne die Notwendigkeit Treiber im Leitsystem zu aktualisieren.
  • Das FDI (Field Device Integration)-Treibermodell zur einheitlichen Einbindung der Geräte in Asset Management Systeme.
  • PA-DIM (Process Automation – Device Information Model) als neuer Standard zur herstellerneutralen Strukturierung der Zusatzdaten. Relevante Zusatz- und Vitaldaten sind somit mit einer eindeutigen Bezeichnung versehen und müssen für Auswertungen nicht mehr händisch zugeordnet werden.
  • NAMUR Open Architecture (NOA) zur sicheren Ausschleusung der Zusatzdaten am Leitsystem vorbei ohne zusätzlichen Konfigurationsaufwand.
  • In Zukunft Safety-Protokolle, bspw. Profisafe, zur Nutzung der gleichen Technologien auch für sicherheitsrelevante Einrichtungen.

Die konsequente Kombination dieser Technologien optimiert nicht nur die Handhabung von Geräten und Daten während des Anlagenbetriebs, sondern bietet darüber hinaus auch Potenziale zur Verschlankung von Engineeringprozessen und Verringerung der Kosten bei Planung und Umsetzung von Anlagen und Anlagenerweiterungen.

Begleitung der Einführung: Die NAMUR APL Task Force

Während auf technischer Seite klare Vorstellungen und Erwartungen sowohl auf Anwender- als auch auf Herstellerseite existieren, stellt sich für alle Beteiligten die Frage der erfolgreichen Einführung der Technologie am Markt. So haben verschiedene Hersteller bereits im Jahr 2023 erste Produkte für Ethernet-APL auf den Markt gebracht und weitere Geräte sind bis zur Achema angekündigt. Doch neben der reinen Technik spielen weitere Faktoren für die Akzeptanz auf Anwenderseite eine entscheidende Rolle.

Aus diesem Grund etablierte der Namur-Vorstand mit Beginn 2023 die NAMUR APL Task Force, welche den Auftrag hat, die Einführung engmaschig zu begleiten und übergeordnete Themen zu koordinieren. Dies umfasst zum Beispiel die Schaffung von Transparenz bzgl. Geräteverfügbarkeit, sowie den Austausch der Anwender hinsichtlich erster praktischer Erfahrungen aus Testumgebungen oder bei der Einführung im Produktionsmaßstab. Weiterhin soll sichergestellt werden, dass nicht die Fehler, die bei der Feldbuseinführung gemacht wurden, wiederholt werden. Zuletzt spielt auch die Koordination des Themas innerhalb der NAMUR eine wichtige Rolle: Eine große Anzahl von Arbeitskreisen ist durch die Einführung von Ethernet-APL direkt oder indirekt betroffen, sei es hinsichtlich relevanter Anforderungen oder neuer Anwendungsfälle.

Weiterhin ist die NAMUR APL Task Force auch im ständigen Austausch mit Schwester­organisationen und weiteren Anwendern, sowie auch Herstellern und Protokollorganisationen. Als spezifisches Beispiel ist hier die als Reaktion gegründete APL Task Force des ZVEI (Verband der Elektro- und Digitalindustrie) zu nennen, mit der eine engmaschige Zusammenarbeit stattfindet. Zusammengefasst ist das Ziel der Task Force die Einführung von Ethernet-APL auf Anwenderseite zu katalysieren. Aus diesem Grund wurde durch den Namur-Vorstand auch das sehr ambitionierte Ziel von mindestens zehn Projekten innerhalb der geplanten Laufzeit der Task Force von zwei Jahren ausgerufen.

 

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Aktuelle Projektübersicht innerhalb der NAMUR APL Task Force. © NAMUR

 

Die Einführung kommt schnell voran

Ethernet-APL ist nachweislich ein Thema, welches auf großes Interesse unter den Anwendern stößt. Jedoch schwingt hier häufig auch Skepsis mit, was nun gegenüber dem Feldbus verbessert wurde und ob die Technologie wirklich schon reif für einen Praxiseinsatz ist. Aus diesem Grund sammeln viele Anwender in Laborinstallationen (Lab) eigene Praxiserfahrungen um sich mit der Technologie und ihren Möglichkeiten, aber auch Beschränk­ungen, vertraut zu machen. Die NAMUR APL Task Force erhebt innerhalb ihres Mandats fortlaufend eine Übersicht aller innerhalb der beteiligten Firmen derzeit laufenden Projekte mit APL-Bezug. Die aktuelle Übersicht ist in der Abbildung auf der vorherigen Seite dargestellt.
Wie beschrieben überwiegt derzeit noch die Zahl der Laborsysteme gegenüber Projekten im Pilot- oder Produktionsmaßstab. Erfreulich hierbei ist jedoch, dass sich die meisten Laborumgebungen bereits in Umsetzung befinden oder sogar bereits umgesetzt sind – alle Anwender betreiben ein Laborsystem im eigenen Zugriff.

Darüber hinaus zeichnet sich aber bereits jetzt eine steigende Zahl an Projekten im Produktionsmaßstab ab, insgesamt vier Projekte in der Planungsphase aber mit der Entscheidung pro APL, sowie drei weitere ohne Entscheidung für oder gegen APL. Die Erfahrungen im Labormaßstab sind demnach so überzeugend, dass zum einen der Pilotmaßstab teilweise übersprungen wird und andererseits APL bereits der Einsatz in der Praxis zugetraut wird.

 

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Aktuelle Projektübersicht innerhalb der NAMUR APL Task Force. © NAMUR

 

Jetzt zählt es: Die Technologie ist reif

Die gezeigte Übersicht legt eindrucksvoll dar, dass die nächsten beiden Jahre eine spannende Zeit für die Digitalisierung im Feld und somit für Anwender und Hersteller gleichermaßen werden. Unzweifelhaft werden bei den ersten Umsetzungen im Produktionsmaßstab auch Erfahrungen gemacht werden, die es dann konsequent zu kommunizieren und auch zurück in die Weiterentwicklung der Technologie zu geben gilt. Nichtsdestotrotz kann festgehalten werden, dass die Technologie nach Jahren der gemeinsamen Entwicklung und Qualifizierung zwischen Herstellern und Anwendern nun reif für den Einsatz ist. Und sie wird dringend am Markt benötigt, um endlich die Feldebene konsequent zu digitalisieren, zugehörige Engineeringprozesse zu verein­fachen und vorhandene Daten besser nutzen zu können.

Autoren:

M. Molina   Mari C. Molina, Automation Leader, Dow, Terneuzen, Niederlande

E. Trunzer   Emanuel Trunzer, Automation Engineer, BASF, Ludwigshafen am Rhein

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