Logistik & Supply Chain

Wohin geht die Digitalisierung der Supply-Chain?

Expertendiskussion: Bringt Covid-19 einen Digitalisierungsschub in der chemisch-pharmazeutischen Supply Chain?

13.07.2021 - Ab März 2020 bekam die Welt zu spüren, was es heißt, wenn global plötzlich einzelne Lieferketten vollständig abbrechen.

Der chemischen wie auch der pharmazeutischen Industrie wurden Abhängigkeiten vor Augen geführt und die Bedeutung eines wirkungsvollen Risikomanagements deutlich. Im Rahmen der digitalen Transport Logistic 2021 hat CHEManager diese Problematik unter dem Thema „Digitales Erwachen? Covid-19 und die Supply Chain der chemisch-pharmazeutischen Industrie“ aufgegriffen.

Anhand dieser Fragestellung sollte in zwei Vorträgen und einer Diskussion beleuchtet werden, welche Veränderungen die durch Covid-19 ausgelöste Krise in den Lieferketten der chemisch-pharmazeutischen Industrie mit sich gebracht hat und ob dies der digitalen Entwicklung einen merklichen Schub verleihen konnte.

„Was haben wir aus dieser Krise bislang gelernt? Wie kann man sich präventiv vor solchen Krisen künftig schützen?“, fragte David Francas, Professor für logistische Informationssysteme der Hochschule Heilbronn, in seinem Impulsreferat. Er wies darauf hin, dass eine resiliente Supply Chain nach einer Störung wieder sehr schnell funktionstüchtig sein und finanzielle Schäden minimal halten sollte. Die Logistik, das Rückgrat einer funktionierenden Wirtschaft, lässt sich mithilfe der Digitalisierung hierzu ertüchtigen.

 

„Digitale Zwillinge sind ein effektives Instrument, um Risikostrategien zu optimieren.“

David Francas, Hochschule Heilbronn

 

Versteckte Risiken durch digitale Zwillinge erkennen

Francas sieht das Risikomanagement in der momentanen Situation in einer Renaissance, doch sei die Identifizierung von Pandemierisiken in langen, verflochtenen Lieferketten eine Herausforderung. Neben den Wirkstoff- und API-Lieferanten hätte auch die Lieferfähigkeit von Hilfsstoffen oder Verpackungsmaterialien große Sorgen bereitet. Knoten in der Lieferkette seien deshalb zu bemessen und deren Verwundbarkeit festzustellen. Versteckte Risiken lassen sich z.B. durch digitale Zwillinge identifizieren. Francas: „Man erstellt hierzu ein computergestütztes Modell der Supply Chain, das sich auf vorhandene Daten stützt, typischerweise aus ERP-Systemen und weniger auf subjektiven Schätzungen.“

Effizienz war lt. Francas das vorrangige Leitmotiv von SC-Strategien in den letzten 20 Jahren, was die Verwundbarkeit der Lieferketten erhöht hätte. Momentan schwinge dies jedoch ins Gegenteil und es würde vorrangig von Risikobestand und Dualsourcing geredet. Nach Corona müsse eine Balance gefunden werden, denn Kosten- und Wettbewerbsdruck wird bestehen bleiben. Digitale Zwillinge bieten hier die Möglichkeit Anpassungen zu simulieren: Sie seien insgesamt ein brauchbares Werkzeug, um Risiken zu identifizieren, zu bewerten und Risikostrategien zu optimieren.

Bewusster Umgang mit Störungen in der Lieferkette

Die Covid-19-Pandemie hat dazu geführt, dass nicht nur andere Bedarfsmuster aufgetreten sind oder Zulieferer ausfielen und aufgrund von Vertrauensverlust Sicherheitsbestände aufgebaut wurden, auch Transportkapazitäten waren plötzlich knapp und Grenzen wurden geschlossen. „Störungen in der Lieferkette sind per se kein neues Phänomen, doch Covid hat die Frage nach dem Umgang damit bewusster gemacht“, betonte Andreas Gmür, Partner bei Camelot Management Consultants.

Gegenstand seines Vortrags war, ob es durch die Pandemie tatsächlich zu einem „Digitalen Erwachen“ gekommen ist.
Ganz allgemein sei in den letzten Jahren in Bezug auf das Monitoring der Lieferkette die Anzahl neuer Innovationen und Technologien geradezu explodiert und die Möglichkeiten, Störungen im Vorfeld zu erkennen, hätten sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Als Beispiele nannte Gmür die Supply Chain Visibility, Taktische Netzwerk Planung sowie die Verbindung von Planung und Logistikausführung. Thema sei heute nicht mehr, wie die nötigen Daten bezogen werden können, die Herausforderung bestünde dagegen in der intelligenten Verknüpfung der einzelnen Daten, wie die Verknüpfung von Serialisierungs- mit Temperaturdaten und mit Track&Tracing-Informationen.

Gmür: „In der Vergangenheit wurden Supply Chain Planung und Logistik in der Regel völlig unabhängig voneinander betrachtet. Heute nutzt man strategische Volumendaten, um die Logistik schon vorzuplanen und nicht erst in der letzten Minute reagieren zu müssen.“ Die eingangs gestellte Frage „Gibt es durch Covid-19 ein digitales Erwachen?“ lässt sich somit mit „nein“ beantworten, die Digitalisierung war schon da, Covid hätte aber den Fokus verändert. Es seien genau die digitalen Techniken, die bewiesen haben, dass durch sie mit einer Krise besser umgegangen werden kann.

 

„Die Krise hat uns gezeigt, welche wichtige Rolle die Logistik insgesamt spielt.“

Andreas Essinger, Hoyer

 

Risikoereignisse im Vorfeld ausloten

Die anschließende Diskussion wurde von Logistikberater Bruno Lukas, Press’n’Relations geleitet und zu den beiden Referenten gesellten sich Andreas Essinger, Director Sales & Business Development bei Hoyer, und Jürgen Oetzel, Geschäftsführer von GDP Network Solutions.

Auf Bruno Lukas‘ Frage nach dem zukünftigen Bestand der durch die Krise gebildeten Strukturen äußerte Andreas Gmür, dass die kurzfristig auf ein Problem fokussierten Task-Forces wieder abnehmen würden. Aber der Gedanke dahinter „Wie kann ich diese Task Force Gedanken, Prozesse weiter und schneller auszuführen voranbringen“ würde bestehen bleiben. Auf die Supply Chain Visibility angesprochen, nannte er die Fülle der Informationen und wie sie für die Prozesse genutzt werden als die Herausforderung.

In diesem Zusammenhang stellte Lukas die Frage nach dem Einsatz des digitalen Zwillings über die Auslotung von Schwachstellen in der Supply Chain hin zu einem präventiven Management. David Francas: „Der Versuch jedes Risiko­ereignis vorherzusagen, selbst mit Algorithmen, mit KI mit Deep Learn­ing, wird nicht funktionieren.“ Corona sei trotz aller KI-Anstrengungen nicht sinnvoll prognostiziert worden. Stattdessen müsse man fragen, was passiert, wenn ein Knoten in der Lieferkette ausfällt, ohne genau zu spezifizieren, warum er ausfällt. Während bei einzelnen Knoten Auswirkungen beim Endkunden erst spät spürbar seien, führten andere sehr schnell zu substanziellen Störungen. Diese Knoten gälte es zu verstärken. Durch einen digitalen Zwilling ließe sich dies im Vorfeld ausloten und ein gewisser Zeitvorsprung verschaffen, um entsprechend zu reagieren.

 

„Daten müssen schnell, in Echtzeit abgreifbar sein.“

Jürgen Oetzel, GDP Network Solutions

 

„An welchen Stellen hat die Covid-Krise am stärksten zugeschlagen? Inwieweit waren Transporte gestört? Wie sahen Lösungen aus?“, Lukas‘ Fragen gingen an Andreas Essinger. Taskforces gab es auch bei Hoyer. Sie wären auch in der Brexit-Thematik ein wichtiger Bestandteil gewesen. Auch Digitalisierung hätte geholfen. Die Problematik bestand vor allem darin, dass ab Q1/2021 eine erhöhte Nachfrage von Kundenseite auf die durch Covid ausgelösten Engpässe traf – vielfach Equipment-Engpässe und Ungleichgewichte sowohl bei Box- als auch bei Tankcontainern.

Lösungen sieht er in einer noch stärkeren Digitalisierung. Die Transparenz der Lieferkette erhielt durch diese Krise einen zusätzlichen Schub. Als Transportalternative zwischen Europa und Asien hätte sich in den letzten Monaten die Seidenstraße im Bahntransport noch weiter etablieren können. Corona hätte dieser Transportroute einen Boom verschafft, vor allem aufgrund der besseren Planbarkeit, aber mittlerweile auch aus Kostengründen.

Auf Lukas‘ Frage an Jürgen Oetzel nach seinen Erfahrungen mit der Impfstofflogistik im eigenen Netzwerk nennt dieser die Flexibilität, die Kundenorientierung als Vorteil. Durch die Transport­erfahrungen im Ambientbereich sei man mit Sicherheitsaspekten innerhalb von End-to-End-Lösungen, wie sie auch in der Impfstofflogistik gefordert sind, sehr routiniert. Für den Notfall müsse ein Alarmsystem bereitstehen, das die Arzneimittelsicherheit gewährleistet. Die Pharmalogistikbranche in Europa sieht Oetzel sehr gut aufgestellt. Man neige hier dazu, manches zu zerreden.

Lessons learned

„Was haben wir aus der Krise gelernt?“ hieß die abschließende Frage an die Logistikspezialisten. Für David Francas ist klar, Daten müssen genutzt und vernetzt werden. Hier herrsche gerade im öffentlichen Bereich noch großer Nachholbedarf. Innovation sei sehr wichtig, das hätten die an der Impfstoffentwicklung beteiligten jungen, deutschen Unternehmen gezeigt. Als dritten Bereich nannte er die Resilienz, insbesondere mit der Frage im Gesundheitswesen, ob es zu Produktionsrückverlagerungen für medizinische Wirkstoffe kommen sollte.

Für Andreas Essinger ist es in Bezug auf Digitalisierung wichtig, in der gesamten Industrie in diesem Tempo weiterzumachen: „Die Krise hat uns bislang gezeigt, welche wichtige Rolle die Impfstofflogistik aber auch die Logistik insgesamt spielt.“ Einer neueren Studie zufolge sind bis zu 35 % der jährlichen EBITDA der chemischen Industrie durch Supply Chain Störungen bedroht, was den großen Einfluss der Logistik gerade auf diese Industrie zeige. Es sei wichtig, hier gut gewappnet zu sein.

 

„Digitalisierung wird definitiv benötigt, um die Veränderungen zu meistern.“

Andreas Gmür, Camelot Management Consultants

 

Daten sind auch für Jürgen Oetzel grundlegend, um logistische Projekte anzugehen, z.B. in Bezug auf Lagerneubauten, Kapazitäten, Schutz vor Ausfällen: „Daten müssen dabei schnell, in Echtzeit abgreifbar sein.“

Für Andreas Gmür hat Covid gezeigt, wie wichtig eine funktionierende Supply Chain in der Logistik tatsächlich ist: „Ich hoffe, dass diese positiven Aspekte, dieser Pragmatismus, diese Agilität auf Situationen zu reagieren, in der Zukunft eine Kernkompetenz sein wird. Digitalisierung wird definitiv benötigt, um die Veränderungen zu meistern.“

In seinem abschließenden Resümee betonte Bruno Lukas, dass zwar Nachholbedarf in einigen Bereichen bestünde, Tools zur Verbesserung – Stichwort Digitalisierung – jedoch bereits vorhanden seien. In Bezug auf die große Herausforderung Covid habe die Logistikbranche viel geleistet, worauf man mit Recht stolz sein könne und künftig ließe sich darauf aufsetzen.

Autorin: Sonja Andres CHEManager

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