Strategie & Management

75 Jahre Arbeitgeberverband HessenChemie

Die Geschichte des Arbeitgeberverbandes Hessen ist ein spannendes Kapitel der Arbeitsbeziehungen der chemischen Industrie

16.11.2022 - Von der regionalen Tarifpolitik zur ganzheitlichen Gestaltung der Arbeitswelt

Die Geschichte des Arbeitgeberverbandes Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen, heute unter der Kurzbezeichnung HessenChemie bekannt, ist ein spannendes Kapitel der Arbeitsbeziehungen der chemischen Industrie, die seit der Herausbildung der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert einen starken Wandel von eher paternalistischen Beziehungen hin zur Sozialpartnerschaft erlebt haben.

Regionale Tarifpolitik und Koordinierungsbedarf

Gegründet wurde der „Arbeitgeberverband Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen e. V.“ (HessenChemie) am 28. November 1947 von 51 Vertretern aus Unternehmen der Chemieindustrie sowie verwandter Branchen. Die ersten beiden Jahre galten dem Aufbau von Struktur und Organisation des Verbandes; der Erlass des Grundgesetzes und die Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes im Jahr 1949 setzten den gesetzlichen Rahmen für die tarifpolitische Arbeit des Verbandes. Nun nahm dieser seine eigentliche Arbeit auf: die arbeitsrechtliche Vertretung und Betreuung der von Anfang an vor allem mittelständischen Mitglieder sowie die Aufnahme der regionalen Tarifverhandlungen. Rasch zeigten sich die Herausforderungen der ersten Phase der Tarifpolitik, die stark durch die Abschlüsse anderer regionaler Chemie-Tarifverhandlungen und weiterer Branchen zu Ungunsten von HessenChemie beeinflusst wurde. Die Tarifpolitik des Verbandes erforderte zudem ein besonders sensibles Vorgehen, da man befürchtete, die weniger gemäßigten Teile der IG Chemie-Papier-Keramik (IG Chemie) durch zu starken Druck auf die Gewerkschaftsführung in die Arme der Kommunisten zu treiben.

 

Im Laufe der 1950er Jahre stieg die Akzeptanz
der sozialen Marktwirtschaft in der Bevölkerung.



Im Laufe der 1950er Jahre stieg die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft in der Bevölkerung, für deren Durchsetzung sich auch die Arbeitgeber von HessenChemie eingesetzt hatten. Damit trat die Sorge vor einer kommunistisch durchsetzten Gewerkschaft in den Hintergrund. Die Gefahr, von den verschiedenen Landesbezirken der IG Chemie ausgespielt zu werden, blieb jedoch bestehen. Dies verstärkte die ohnehin schon große Verhandlungsmacht der Gewerkschaften noch zusätzlich, die im sog. Wirtschaftswunder von den leergefegten Arbeitsmärkten profitierten. Hier setzten die 1962 durch den Arbeitsring der chemischen Industrie (heute Bundesarbeitgeberverband Chemie) erlassenen Koordinierungsrichtlinien an, die ein geschlossenes Vorgehen der Arbeitgeber der chemischen Industrie in Westdeutschland erleichterten.

Der Streik im Jahr 1971 und seine Konsequenzen

Das Ende des Wirtschaftswunders bedeutete für die hessische chemische Industrie auch das Ende der bis dahin überwiegend friedlichen Arbeitsbeziehungen, wie der Streik von 1971 belegt. Die Stimmung unter den hessischen Chemiearbeitgebern war wegen einer im Jahr zuvor ausgesprochenen Forderung der IG Chemie nach betriebsnaher Tarifpolitik bereits aufgeheizt – eine Stimmung, die mit einer branchenweit ohnehin höheren Eskalationsbereitschaft der Chemiearbeitgeber zusammenfiel. Die IG Chemie hingegen hatte auf die Rezession 1966/67 mit Lohnzurückhaltung reagiert. Nun, 1971, wollte sie Kompensa­tionen erstreiten und an das für sie erfolgreiche Verhandlungsergebnis von 1970 anknüpfen. Die 1971 gestellte Forderung einer Lohnerhöhung von mindestens 120 DEM für Hessen hielten die Arbeitgeber jedoch für nicht „verkraftbar“. Nach einem durch Streikaktionen geprägten Juni 1971 wurde das Streikende durch eine Bundesschlichtung herbeigeführt, deren Bedingungen unter den Forderungen der IG Chemie lagen. Die hessischen Arbeitgeber schätzten den Arbeitskampf im Nachhinein als Erfolg ein und rechtfertigten die hohen Streikkosten mit der Aussicht auf ein verändertes Verhalten der Gewerkschaft in Tarifverhandlungen.

Als Reaktion auf den Streik baute der Verband eine professionelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf, etablierte sich erfolgreich als öffentlicher Akteur und verfolgte den Aufbau eines diversifizierten Bildungsangebots. Zwischen den Tarifparteien wirkte der Streik vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre auf besondere Weise: Auf die gemeinsame Einrichtung des Unterstützungsvereins der chemischen Industrie (UCI) für in Notlagen geratene Betriebsangehörige im Jahr 1975 folgte ein Prozess, in dem die Chemie-Tarifparteien allmählich in der sog. Sozialpartnerschaft zusammenfanden. Auch auf hessischer Ebene ging man diese Schritte, z. B. durch die Aufnahme von Betriebsräteseminaren in das Bildungsangebot.

Strukturelle Veränderungen seit den 1990er Jahren

Wesentlicher Ausdruck der Sozialpartnerschaft waren und sind bis heute Sozialpartnervereinbarungen, die zur Bewältigung der starken Veränderungen der Arbeitswelt seit den 1990er Jahren beitrugen. Tarifpolitisch aufgefangen wurden die Folgen der geopolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche seit diesem Jahrzehnt durch die Flexibilisierung der Tarifverträge, die auch HessenChemie mit vorantrieb. Flexibel reagierte der Verband schon auf die Auflösung der Hoechst AG in den 1990er Jahren, indem die Nachfolgeunternehmen, aber auch die abgespaltenen Dienstleistungsunternehmen durch eine Satzungsänderung weiterhin im Arbeitgeberverband verbleiben konnten.

Für den Arbeitgeberverband waren diese Veränderungen – geopolitische Neuordnung, Globalisierung, Sektorenwandel, Individualisierungstendenzen der Gesellschaft, schwächere Bindungswirkung von Organisationen – Grund für tiefergehende Reflexionsprozesse über das eigene Agieren und die Gestaltung der Arbeitswelt. Seit diesem Zeitpunkt verstand sich HessenChemie – in Ergänzung zu den Schwerpunktsetzungen der Sozialpartnervereinbarungen und der qualitativen Tarifpolitik – mehr denn je als Akteur einer, wenn man so will, ganzheitlichen Tarifpolitik. Diese sollte und musste den Veränderungen außerhalb der Unternehmen Rechnung tragen.

Unter anderem als Folge der erwähnten Veränderungsprozesse sah sich HessenChemie zu Beginn der 2000er-Jahre mit einem Rückgang der Mitgliederzahlen konfrontiert. Der Verband unterzog sich daraufhin einer strategischen Neuausrichtung. Diese führte zur weiteren Professionalisierung des Verbandes, etwa in Bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit, und zur Entwicklung neuer Verbandsangebote und entfaltete in Summe eine positive Wirkung auf die Mitgliederentwicklung. In den Jahren seit der Finanzkrise 2008 wirkte die Sozialpartnerschaft auch durch Maßnahmen zur Sicherung der Ausbildungsplätze arbeitsmarktstabilisierend, ebenso wie sie dies in der Coronakrise tat.

Es wird sich zeigen, inwiefern bewährte Instrumente der Sozialpartnerschaft auch als Antworten auf zukünftige Herausforderungen dienen können. Denn die Folgen der Coronakrise sowie des Kriegs in der Ukraine verschärfen die Lage der Indus­trie, die sich bereits mit der Digitalisierung sowie den Folgen der Neuausrichtung der Energiepolitik konfrontiert sieht. Damit steht die Branche insgesamt vor historisch einmalig vielen und schwerwiegenden Herausforderungen zugleich. Für die Gestalter der Arbeitswelt wird diese ohnehin schwierige Gemengelage durch die Folgen des demografischen Wandels und die zunehmende Individualisierung der Arbeitswelt nicht einfacher.

Autorin: Johanna Steinfeld,
wissenschaftliche Mitarbeiterin, Goethe-Universität Frankfur am Main

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Die Studie über die vergangenen 75 Jahre des Arbeitgeberverbandes HessenChemie ist nicht nur eine Geschichte über die Tragfähigkeit und Bewährung des Systems der industriellen Beziehungen in Deutschland. Sie erzählt auch von den gewaltigen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen innerhalb dieses Zeitraums, vor deren Hintergrund die Vertreter von HessenChemie zur Gestaltung der Arbeit immer wieder neue Formen finden mussten.

Arbeit gestalten: 75 Jahre Arbeitgeberverband HessenChemie
Johanna Steinfeld
Hrsg.: Dirk Meyer/ Jürgen Funk
Wbi Verlag, November 2022
128 Seiten, 35,- EUR
ISBN: 978-3-534-27582-3

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