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Fachkräftemangel ist kein Phantomschmerz

Zuwanderung bietet den größten Hebel zur Fachkräftesicherung

30.07.2012 -

Der Fachkräftemangel hat die chemische Industrie erreicht. Nach einer Umfrage des Arbeitgeberverbands HessenChemie erhalten Unternehmen heute auf ihre Stellenausschreibungen weniger Bewerbungen, die Personalsuche dauert länger, und offene Stellen können teilweise über einen längeren Zeitraum nicht neu besetzt werden. Prof. Dr. Herbert Brücker, Forschungsbereichs- leiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), einer Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, sprach darüber mit Dr. Andrea Gruß.

CHEManager: Herr Prof. Brücker, gibt es einen Fachkräftemangel in Deutschland?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
Wenn ein Unternehmen keine Fachkraft findet, spürt es einen Mangel. Fachkräftemangel ist daher kein Phantomschmerz. Nach unseren aktuellen Befragungen gibt es zurzeit 965.000 offene Stellen in Deutschland. Zugleich zählen wir fast 2,9 Mio. Arbeitslose und rd. 1 Mio. unterbeschäftigte Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.

Wo werden Arbeitskräfte gesucht?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
Die offenen Stellen sind im Bereich der wirtschaftlichen Dienstleistungen, im Bereich des Handels und dem verarbeitenden Gewerbe, also auch der Chemieindustrie, zu finden. Bei den Berufen sind besonders die Gesundheitsberufe betroffen, Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte. Auch Erzieherinnen sind gesucht. Erst dann folgen Ingenieure.

Wie bewerten Sie das eingangs erwähnte Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage im Arbeitsmarkt?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
„Mismatch" ist ein Phänomen, das es schon immer im Arbeitsmarkt gegeben hat. Bis vor ein paar Jahren war dieses Ungleichgewicht aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit für die Arbeitgeber nicht spürbar. Heute spüren wir eine steigende Spannung im Arbeitsmarkt. Dies ist jedoch eher als eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen zu bewerten; auf keinen Fall ist es bereits die Folge des demografischen Wandels. Im Jahr 2011 gab es - bedingt durch die noch erwerbstätigen, geburtenstarken Jahrgänge und steigende Zahlen an erwerbstätigen Frauen und älteren Menschen - einen historischen Höchststand an Erwerbspersonen in Deutschland. Wenn wir also gegenwärtig vom Fachkräftemangel reden, dann ist das eher ein konjunkturelles Phänomen als ein demografisches.

Heißt das, der demografische Wandel stellt keine Bedrohung für die Unternehmen dar?

Prof. Dr. Herbert Brücker: 
Doch, der demografische Wandel wird kommen, und er wird dramatisch ausfallen. Ohne Wanderungen würde die Zahl der Erwerbs-
personen bis zum Jahr 2050 um 40 % von jetzt 45 Mio. Personen auf 27 Mio. Personen sinken. Durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen sowie eine Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit lässt sich der Rückgang um rund 2 Mio. Arbeitskräfte dämpfen. Käme eine Nettozuwanderung von 200.000 Personen pro Jahr hinzu und würde die Erwerbsbeteiligung steigen, könnte der Rückgang halbiert werden: Das Erwerbspersonenpotential würde nur um 20 % sinken.

Welche Folgen wird diese Entwicklung haben?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
Viele Institute gehen davon aus, dass die Arbeitsmarktnachfrage in Zukunft konstant bleibt, und ermitteln die Fachkräftelücke auf Basis des prognostizierten Rückgangs der Erwerbspersonen. Diesen Ansatz halte ich für falsch. Die Märkte werden sich anpassen, beispielsweise der Kapitalmarkt: Die Kapitalrenditen werden fallen. Es wird weniger investiert werden. Und empirisch lässt sich belegen, dass - bereinigt um den Produktivitätsfortschritt - das Verhältnis von Kapital zu Arbeit langfristig konstant bleibt. Das heißt: Wenn das Erwerbspersonenpotential schrumpft, schrumpft auch die Produktion in Deutschland.

Wird dies zu einer sinkenden Arbeitslosigkeit führen?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
 Arbeitslosigkeit kann man schwer prognostizieren. Es kommt nicht zwingend zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Wir erwarten zwar, dass die Arbeitslosigkeit zurückgehen wird, aber nicht, weil das Arbeitsangebot zurückgeht, sondern weil wir eine Strukturverschiebung im Arbeitsmarkt hin zu höheren Qualifikationen haben werden. Höher Qualifizierte sind weniger von Arbeitslosigkeit betroffen.
Es gibt aber auch ein Risiko im künftigen Arbeitsmarkt: Aufgrund der geringeren Zahl der Erwerbspersonen werden diese stärker durch Sozialabgaben belastet. Das senkt vor allem die Erwerbsanreize bei den geringer Qualifizierten. Dadurch könnte die Arbeitslosigkeit steigen.

Wie würde sich eine höhere Zuwanderung auswirken?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
 Sie würde vor allem die sozialen Versicherungssysteme stabilisieren. Schon heute leistet jeder Migrant einen Nettobeitrag zu den Sozialversicherungssystemen von 2.000 € im Jahr, davon profitieren vor allem die Rentenversicherungssysteme. Und das, obwohl wir eine höhere Arbeitslosigkeit und schlechtere Qualifikationen unter Migranten haben. Wenn die Qualifikation der Migranten steigt - und dafür gibt es starke Hinweise -, dann könnten diese Nettobeiträge um 4.000 € bis 5.000 € pro Dekade steigen. Das sind ganz erhebliche Beiträge zur Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme.

Welchen Einfluss hat Zuwanderung auf den heimischen Arbeitsmarkt?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
 Lange Zeit wurde eine höhere Zuwanderung als Bedrohung gesehen und die Migrationspolitik auf den Schutz des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Dahinter stand die Annahme, dass Zuwanderung zusätzliche Arbeitslosigkeit verursacht. Empirische Daten widerlegen dies: Migration wirkt sich weitgehend neutral auf den Arbeitsmarkt aus, weil mit dem zusätzlichen Arbeitsangebot auch die Arbeitsnachfrage steigt. Zudem sinkt mit der Zuwanderung das Arbeitslosigkeitsrisiko einheimischer Arbeitnehmer, und ihre Löhne steigen. Das ist für viele Menschen kontraintuitiv.

Ist es denn realistisch, dass wir eine Nettozuwanderung von 200.000 Personen erreichen?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
 Ich glaube ja. Im vergangenen Jahr hatten wir eine Nettozuwanderung 279.000 Personen, nachdem die jährliche Nettozuwanderung in der vergangenen Dekade bei nur etwa 75.000 Personen pro Jahr gelegen hat. Und die Bedingungen für künftige Zuwanderung sind günstig: In Osteuropa, Südosteuropa oder im Mittleren Osten liegen die Löhne preisbereinigtetwa bei 20 % des Niveaus in Deutschland. Das erzeugt erhebliche Wanderungsanreize. Zwar sind auch diese Regionen vom demografischen Wandel betroffen - Osteuropa stark, Südosteuropa und der Mittlerer Osten etwas weniger -, aber aufgrund des anhaltend hohen Einkommensgefälles werden die Wanderungsanreize hoch bleiben. Aber wir müssen natürlich in Deutschland sehr viel dafür tun, um vor allem qualifizierte Zuwanderer wie Hochschulabsolventen und Facharbeiter für Deutschland zu gewinnen. Höher qualifizierte Migranten integrieren sich besser im Arbeitsmarkt und sind weniger von Arbeitslosigkeit betroffen als geringer qualifizierte Migranten.

Wie attraktiv ist Deutschland für hoch qualifizierte Zuwanderer im internationalen Vergleich?

Prof. Dr. Herbert Brücker:
 Grundsätzlich gibt es nur vier OECD-Länder weltweit, die keinen Brain Drain beklagen. Das sind die USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Alle anderen Länder verlieren mehr Hochschulabsolventen an das Ausland, als sie Hochschulabsolventen durch Zuwanderung gewinnen. Es leben also auch mehr deutsche Hochschulabsolventen im Ausland als Ausländer mit einem Hochschulabschluss in Deutschland. Dabei liegt das Pro­blem weniger darin, dass deutsche Akademiker ins Ausland gehen, sondern vielmehr darin, dass nicht genug ausländische Hochschulabsolventen nach Deutschland kommen. Eine Ursache hierfür liegt in der Sprachbarriere.
Doch wir beobachten zwei positive Trends: Zum einen steigt die Zahl der Neuzuwanderer. Die meisten von ihnen kommen aus den europäischen Mitgliedsstaaten. Zum anderen beobachten wir einen enormen Anstieg der Hochschulabsolventen in der Struktur der Neuzuwanderer.
Die Voraussetzungen für die Zuwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland sind gut. Wir haben gegenwärtig eine sehr günstige Arbeitsmarktentwicklung im Vergleich zu anderen Ländern, und wir befinden uns in einer günstige geografischen Lage, benachbart zu einem hoch qualifizierten Raum in Osteuropa, dessen Pro-Kopf-Einkommen auf dem Niveau von Mexiko liegt.
In der Vergangenheit haben wir vieles falsch gemacht, um unsere Vorteile nicht zu nutzen. Wir sollten aus diesen Erfahrungen lernen und es besser machen. Deutschland braucht eine neue Willkommenskultur.

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