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GDCh-Präsidentenkommission stellt Diskussionspapier aus der Wissenschaft für die Wissenschaft vor

08.11.2011 -

Wie werden sich die chemischen Wissenschaften in den kommenden Jahren entwickeln, worüber also werden Chemikerinnen und Chemiker künftig forschen? Auf diese Fragen wollte Prof. Dr. Klaus Müllen, Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) in den Jahren 2008/2009, eine Antwort wissen. In einer GDCh-Präsidentenkommission brachte er 22 Chemikerinnen und Chemiker aus Hochschule und Industrie zusammen, die diesen Fragen nachgehen sollte. Erste Ergebnisse stellten sie auf einer Podiumsdiskussion im Rahmen des GDCh-Wissenschaftsforums Chemie am 5. September 2011 in Bremen vor. Michael Dröscher, Müllens Nachfolger im Amt des GDCh-Präsidenten, stellt das Projekt vor.

Am Beginn der Arbeiten stand die Frage, wie man eine breite Diskussion in der eigenen Fachwelt anregen könnte. Wer sollte die Zielgruppe sein und wie breit und tief sollten die Beiträge dazu gehen? Die schließlich angesprochenen Themen aus der reinen Grundlagen- bis zur anwendungsorientierten Forschung (s. Tabelle) erstrecken sich von der großen Bandbreite von neuen Materialien und effizienteren Synthesen, über die Miniaturisierung der Chemie bis hin zur rationalen Syntheseplanung von Festkörpern, sowie zu Chemischer Biologie und Theoretischer Chemie.

Persönliche Sicht auf die Perspektiven für die chemische Forschung
Die Autoren zeigen hierbei aus einer persönlichen Sicht vielfältige Perspektiven für die chemische Forschung auf. So werden Entwicklungen in der Materialchemie eine effizientere Energieumwandlung und -nutzung ermöglichen sowie neue Wege bei der medizinischen Diagnostik und Behandlung öffnen. Ein anderer Beitrag hält Wasser für ein herausforderndes Medium für die Chemie, in dem Synthese, Katalyse und Supramolekulare Chemie zum besseren Verständnis zwischenmolekularer Wechselwirkungen führen und neue Umsetzungen ermöglichen werden.
Die Mikroreaktionstechnik eröffnet bei chemischen Reaktionen attraktive Möglichkeiten zur Ausbeutesteigerung, Selektivitäts- und Umsatzerhöhung, Energieeinsparung, Verbesserung der Produktqualität oder beim Erschließen völlig neuer Reaktionswege. Im Bereich organischer und hybrider Materialsysteme bietet die Physikalische Chemie vielfältige Perspektiven bei Energieerzeugung und -umwandlung, elektrischem Antrieb, Trinkwasseraufbereitung sowie modernen Kommunikationstechnologien. Moderne Analyseverfahren, neue Materialien sowie hochselektive Adsorbentien und Desinfektionstechniken werden als unverzichtbar für die zukünftige Sicherung der Trinkwasserversorgung angesehen.
Weiterhin werden bspw. neue Synthesemethoden zu neuen Wirkstoffen führen und eine umweltfreundliche Herstellung ermöglichen. Beiträge der Chemie sind für die Sicherung der zukünftigen Welternährung unabdingbar. Die Elektrochemie wird sich nach Meinung der Autoren zukünftig zu einer Schlüsseldisziplin für die Energietechnologie entwickeln, vielleicht in ähnlichem Maße wie es die Halbleiterphysik für die Informationstechnologie war und ist. Die Theoretische Chemie wird aufgrund der weiter wachsenden Möglichkeiten im Bereich der Rechnungen und Simulationen in Zukunft noch stärker als bisher zu einem wertvollen Partner des Experiments werden. In der Chemie komplexer Systeme sind Fortschritte auf Dauer nur mit einer leistungsfähigen Spektroskopie möglich, weshalb spektroskopische Methoden fortlaufend weiterentwickelt werden müssen. Chemie, Physik und Biologie müssen in vielen Bereichen eine Verflechtung eingehen, aber auch die Chemie selbst wandelt sich in ihrer Wahrnehmung vom Außenseiter zu einer zentralen Wissenschaft für die Fortentwicklung unserer Zivilisation.

Droht der neugier- und wissens­getriebenen Forschung das Aus ?
Die Forschungspolitik in Deutschland und auch in Europa setzt auf Leitmärkte, Innovationsinitiativen und High Tech-Felder. Die reine neugier- und wissensgetriebene Forschung läuft dabei Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten. Wenn nur der Markt der Treiber ist (Market Pull) und die Entdeckung, die Invention, hinter der Innovation zurückbleibt, fehlt die Technology Push-Komponente, um die Zukunftsfragen zu lösen. Denn die Innovation, also der Markterfolg neuer Produkte und Verfahren, basiert auf Invention, sowohl aus anwendungsorientierter Grundlagenforschung als auch aus der zufälligen Entdeckung.
Invention setzt voraus, Neues zu denken, neue Wege zu erforschen und neue Arbeitsfelder zu eröffnen. Wer nur zielgerichtet auf dem gepflasterten Weg bleibt und nicht links und rechts schaut, wird keine neue Landschaften entdecken. Oft treten unerwartet neue Ausblicke auf, im Englischen serendipity genannt, und eröffnen spannende Fragestellungen und unerwartete Lösungswege. Andererseits baut neues Wissen auf einem breiten Vorwissen auf. Gerade für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eigenständige Themen erschließen wollen, ist es manchmal schwierig, neue Pfade zu erkennen. Neue oder zumindest noch nicht gut kartierte Pfade und Fragestellungen zu beschreiben, war deshalb hier das Anliegen. Die zukünftigen Entwicklungen in der chemischen Grundlagenforschung sind sicher nicht wirklich vorherzusagen, aber es wurde versucht, ein möglichst umfassendes Portfolio von zukunftsträchtigen Themenfeldern abzubilden.
Die Beiträge in dem Perspektivenpapier, das die GDCh nun in die wissenschaftliche Diskussion einbringt, machen mehr als deutlich, dass die Chemie keine abgeschlossene Wissenschaft ist, sondern ihre Rolle - insbesondere auch mit ressourcenschonenden und nachhaltigen Methoden und Prozessen - weiter ausbauen wird. Davon werden wichtige Arbeitsgebiete wie die Gesundheits- oder Energieforschung sehr stark profitieren.

Anregung zu weiterer Diskussion
Mit „Perspektiven der Chemie" ist ein Diskussionspapier entstanden, das Chemikerinnen und Chemiker sowie alle an der chemischen Forschung Interessierten zur weiteren Diskussion über künftige Forschungsfelder einlädt. Mit den Ergebnissen der Diskussion und weiteren Beiträgen soll das Papier fortgeschrieben werden. Das vorliegende Themenportfolio stellt kein abgeschlossenes Ergebnis dar und bedient keinen Proporz, sondern es darf und soll als Anregung - insbesondere für die Wissenschaft bzw. in der chemischen Forschung tätige Naturwissenschaftler - dienen und gerne jederzeit erweitert werden. Eine stromlinienförmige Einheitsmeinung ist dabei bewusst nicht gewünscht. Vielmehr soll ein lebhafter Diskurs befördert werden, denn die Zukunft aller Fachgebiete der Chemie kann sich vielfältig entwickeln. Diskutieren Sie mit!

Beiträge und Autoren des Diskussionspapiers der GDCh-Präsidentenkommission „­Perspektiven der Chemie"
Neue Materialien (Markus Antonietti)
Effiziente organische Synthese: Katalyse, Reaktionskaskaden und Verzicht auf ­Schutzgruppenchemie (Thorsten Bach, Carsten Bolm, François Diederich)
Computerchemie - Virtuelles Screening/HTS im Computer (Karl-Heinz Baringhaus)
De Novo Proteindesign (François Diederich)
Vorhersagende Wirkung auf biologische Systeme (François Diederich)
Wasser: Ein herausforderndes Medium für die Chemie (François Diederich)
Polyelektrolyte (Michael Dröscher)
Miniaturisierung der Chemie und damit verbundene Perspektiven (Joachim Heck)
Physikalische Chemie: Vielfältige Anwendungen in Kommunikations- und Energietechnologien (Volker Hilarius)
Kohlenstoff (Andreas Hirsch)
Chemische Biologie - „Tool Compounds" (Stefan Jaroch)
Inhibitoren für Protein-Protein-Wechselwirkungen (PPIs) (Stefan Jaroch, Christian Eickmeier)
Synthesemethoden für moderne Wirkstoffe (Stefan Jaroch)
Nukleinsäuren - vom Boten zum Hauptdarsteller? (Andres Jäschke)
Wasser - Vitaler Rohstoff für den Globus (Martin Jekel)
Moderne Spektroskopie: Der kritische Blick in die Materie (Katharina Kohse-Höhinghaus)
Dynamik Katalysator-Reaktand als Schlüssel für hochselektive Synthese (Johannes A. Lercher)
Zur Zukunft der elektrochemischen Energiespeicherung (Joachim Maier)
Chemie einzelner Moleküle (Klaus Müllen)
Molekular definierte Nichtgleichgewichts-Strukturen (Klaus Müllen)
Beiträge der Chemie für die Sicherung der Ernährung in der Zukunft (Lars Rodefeld)
Chemie schafft Zukunft - keine nachhaltige Energieversorgung ohne Chemie (Robert Schlögl)
Polymere Werkstoffe für Pharmazie und Medizintechnik (Friedrich Georg Schmidt)
Werkstoffe und Energie (Friedrich Georg Schmidt)
Rationale Syntheseplanung für Festkörper (Ferdi Schüth)
Synthetische Biologie (Petra Schwille)
Chemie und Informationstechnologie (Ulrich Simon)
Stimulus-responsive Materialien (Ulrich Simon)
Spektroskopie komplexer Systeme (Hans-Wolfgang Spiess)
Theoretische Chemie (Walter Thiel)

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