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Geistesblitze, Bauchgefühle, Glücksfunde

Welche Rolle spielen Intuition und Kreativität in der Wissenschaft?

09.12.2011 -

In diesem Beitrag beschreibt Professor Dr. Erhard Meyer-Galow anhand von Beispielen und aus seiner eigenen Erfahrung, welche Rolle Intuition und Kreativität in der Wissenschaft spielen. Lesen Sie hierzu auch die Statements von Forschern und Forschungschefs führender Unternehmen zur Frage: Welchen Platz hat Intuition in der modernen, anwendungsgetriebenen Chemieforschung?

Das Wort „Serendipity" wird oft mit „Glücksfund" übersetzt. Man findet bei einer Recherche fast nur rationale Bemühungen der Deutung. Jede Idee aber, die uns als Glücksfund trifft, hat als Vorläufer die Intuition und unsere Öffnung für die Intuition.

Unsere Gesellschaft erwartet von den Chemikerinnen und Chemikern Antworten auf die zahlreichen Fragen, die wir heute haben, um die Zukunft der Menschen positiv zu gestalten. Das Denkvermögen unserer Ratio hilft uns nur in begrenztem Umfang, die Vielfalt und den Umfang der Antworten zu liefern, die wir dringend brauchen. Die Intuition aber bietet uns ein unerschöpfliches zusätzliches Reservoir, und nur in der gleichwertigen Entwicklung unseres Logos und unserer Intuition sowie in der Verknüpfung dieser beiden Quellen schöpfen wir unser menschliches Potential voll aus.

Der Mensch ist geneigt, alles erstrebenswerte Neue immer außen zu suchen. Zur Erfahrung der Intuition aber müssen wir uns nach innen wenden, denn Intuition ist von dem lat. Deponens „intueri" abgeleitet, d.h. hineinschauen, nach innen blicken. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, Träger des Alternativen Nobelpreises und des Friedensnobelpreises mit der Pugwash-Gruppe: "Intuition heißt ganz einfach, dass irgendetwas von innen herkommt, von dem aus sich die Gedanken entwickeln."

Von Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein, der als Inbegriff des Forschers und Genies gilt, stammt das Zitat: „Was wirklich zählt, ist Intuition!" Und Gerd Binnig, ebenfalls Physik-Nobelpreisträger, sagte: „Man kommt mit der Logik alleine nicht zum Ziel. Das Leben ist viel zu komplex. Es gibt nur einen Weg: Man muss der Intuition folgen.

Berühmte Intuitionen

Es gibt viele Beispiele einer außerordentlichen kreativen Leistung in der Wissenschaft, die aus der Intuition kam.

Chemikern fällt sofort August Kekule ein, der 1890 anlässlich einer ihm zu Ehren veranstalteten Feier der Deutschen Chemischen Gesellschaft sagte: „Vielleicht ist es für Sie von Interesse, wenn ich ... Ihnen darlege, wie ich zu einzelnen meiner Gedanken gekommen bin. Ich versank in Träumereien (im Omnibus). Da gaukelten vor meinen Augen die Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleinen Wesen, aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu erlauschen. Heute sah ich wie zwei kleinere sich zu Pärchen zusammenfügten; wie größere zwei kleinere umfassten, noch größere drei und selbst vier der kleinen festhielten, und wie sich alles im wirbelnden Reigen drehte..." So entstand die Strukturtheorie.

Ähnlich ging es mit der Benzolstrukturformel: „Ich drehte den Stuhl und versank in Halbschlaf. Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen. Lange Reihen ... schlangenartig sich windend und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen erfasste den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen."

Georges Köhler, Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie, berichtete über die entscheidende Idee für seine Arbeiten über monoklonale Antikörper. Er wollte aus bestimmten Gründen „eine gleichsam unsterbliche Zelllinie finden, die nur einen ganz bestimmten Antikörper liefert. Im Bett, kurz vor dem Einschlafen, kam mir dann eine Idee. Ich war auf einmal hellwach und konnte überhaupt nicht mehr schlafen und dachte die ganze Nacht nach..." Die Idee der monoklonalen Antikörper war so brillant, dass sie sich im ersten Experiment, das er zu ihrer Prüfung ansetzte, realisieren ließ.

Werner Heisenberg berichtet in seiner autobiographischen Schrift „Der Teil und das Ganze" von jenem erschütternden Erlebnis auf Helgoland, von seiner seelischen Ergriffenheit, als ihm plötzlich die Lösung in einer Art Erleuchtungserfahrung aufschien (gemeint ist der Übergang von der klassischen Physik zur Quantentheorie) und er die hinter den sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheiten liegende mathematische Struktur zu erkennen vermochte.

Der Physiker Karl Alexander Müller, der zusammen mit Georg Bednorz den Nobelpreis für die Erfindung der Supraleitfähigkeit erhielt, hat sich sehr ausführlich mit den Archetypen von C.G. Jung beschäftigt. Er war also gewissermaßen vorbereitet. Seine Dissertationsarbeit war ins Stocken geraten als er 1957 einen sog. großen Traum hatte. Er berichtet: „Im Traum erblickte ich Buddha-ähnlich Wolfgang Pauli, welcher in seiner rechten Hand das hochsymmetrische, kubische Kristallgitter von Strontiumtitanat hielt.

In diesem zerlegte sich ein weißer Lichtstrahl in seine Spektralfarben." Der Traum beschleunigte seine Arbeiten. Ihm erschien auch im Traum ein Mandala, das die Struktur des Perowskit hatte. Der Traum kam immer wieder in sein Bewusstsein und so sagte er: „Das vom Perowskitgitter im großen Traum von 1957 herausbrechende Lichtspektrum konnte möglicherweise auch den Aspekt der Supraleitung einschließen ... Es bestärkte mich, 1983 eine solche Forschungsanstrengung Georg Bednorz vorzuschlagen, welche er begeistert aufnahm und mit der Entdeckung der Supraleitung im Lanthan-Barium-Kupferoxid realisierte."

Intuition kommt aus dem Bauch

Der Biochemiker Rupert Sheldrake ist der Meinung: „Modernen Menschen, besonders in Europa und USA, wird der Glaube an solche Dinge wie Intuition aberzogen."

Wir bemühen uns, mit unserem Denkvermögen die Kreativität zu erhöhen, weil wir so trainiert sind. Wir wollen Innovationen besser managen. Innovationsmanagement ist in aller Munde. Managen ist immer machen. Es führt nicht zu wesentlich mehr Ideen. Innovationsmanagement mag die Umsetzung einer Erfindung im Markt besser ablaufen lassen, obwohl man auch dabei viel Intuition braucht. Aber wie kommt man zu mehr Erfindungen? Brainstorming als Methode wurde uns gepredigt.

Wir könnten unsere Kreativität in einem für uns heute unvorstellbaren Maß massiv steigern. Wir alle haben schon oft Einfälle oder Eingebungen gehabt, sonst wären unsere Forschungsergebnisse gar nicht möglich gewesen. Wir haben auch schon Geistesblitze gehabt. Das sind Blitze des Geistes. Wir unterliegen, bei der Frage, woher kommt der Blitz, einem Trugschluss. Mit Geist meinen wir meistens unsere Ratio, unser Denken und unsere Vernunft. Wir müssten eigentlich stutzig werden, denn zu Intuition sagen wir auch schon mal „Bauchgefühl". Die Intuition kommt also wohl eher aus dem Bauch als aus dem Kopf.

„Der Zufall trifft nie einen vorbereiteten Geist", sagte schon Louis Pasteur. Wie oft haben wir schon gesagt: ich wurde inspiriert. Eine Voraussetzung dafür ist die Intuition. Hans-Peter Dürr ist überzeugt: „Jeder kreative Wissenschaftler ist auf die Intuition angewiesen. Viele glauben, sie überlegen sich etwas mit dem Verstand, aber da kommt nicht wirklich etwas Neues heraus. Wir erkennen unser Potential nicht, das aus der Intuition kommen kann. Wir alle haben zwar Intuition, aber viel zu wenig, weil wir zu wenig im transrationalen Raum sind."

Warum wir uns mit der Intuition schwer tun

Seit dem Ausspruch „cogito ergo sum!" des französischen Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschaftlers René Descartes, der als der Begründer des modernen frühneuzeitlichen Rationalismus gilt, definieren wir uns über unser Denken.

Das schränkt uns aber gerade unbewusst wieder ein. Deshalb hat sich auch die Chemie im 17./18. Jahrhundert von der Alchemie getrennt. Es zählte nur noch was man messen, rechnen, beweisen, analysieren und synthetisieren konnte. Deshalb sind wir Chemiker bis heute sehr stoffverbunden, materie- und energieverbunden. Wir ahnen aber, dass da noch viel mehr ist. Die Physik ist da viel weiter. Aber das neue Denken hat sich 100 Jahre nach den neuen Erkenntnissen auch in der Physik noch nicht überall breit gemacht, geschweige denn in anderen Wissenschaften.
Voraussetzungen schaffen

Wenn sie die Absicht haben, ihre Kreativität zu erhöhen, dann lehrt die Erfahrung, dass dies nur möglich ist, wenn sie mit einer gewissen Absichtslosigkeit die Voraussetzung schaffen, dass die Intuition fließen kann. Das hört sich widersprüchlich an, aber nur wenn wir uns nicht bemühen, erfahren wir die Intuition. Ohne diese Offenheit kann die Intuition nicht erfahren werden.

Der Mensch hat heute nie Zeit. Er ist umflutetet von Lärm. Für die Intuition aber braucht man Stille und Zeit. Mein Lehrer Willigis Jäger, Benediktinermönch, ZEN-Meister und Autor: „Für mich kommt die Intuition aus der Ruhe. Wenn ich ruhig werde, dann kommen Einfälle, Einsichten und Intuitionen. Plötzlich werden mir Zusammenhänge klar, die ich vorher nicht gewusst habe. Für mich ist Intuition nicht im Unterbewussten angesiedelt, sondern noch eine Stufe tiefer, dem Unbewussten."

Wie kann man nun selbst die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass uns verstärkt Intuitionen zufließen und wir dadurch unsere Kreativität beschleunigen, um in den außerordentlich interessanten Zukunftsfeldern der Chemie zu Innovationen zu kommen?
Aus den Äußerungen von Hans- Peter Dürr und Willigis Jäger kann man erkennen, wie sich die neue Physik und die Mystik auf unterschiedlichen Wegen den gleichen Erkenntnissen annähern. In der neuen Physik geht es darum, sich für die Erfahrung des Hintergrundfeldes zu öffnen. In der Mystik oder bei allen spirituellen Wegen geht es darum zu üben, diese nicht begreifbare Wirklichkeit zu erfahren.

Das gelingt nur in der Ruhe und Stille. Wir werden ständig in unserer Welt durch unsere eigenen vielfältigen Aktivitäten und durch diejenigen von anderen davon abgehalten, in die Ruhe und Stille zu gehen. Das ist tragisch und begrenzt unser Potential, oft ohne dass wir es merken.

Das achtsame Fokussieren und das Loslassen üben

Ich möchte in den Mittelpunkt meiner Empfehlungen nicht den einen oder anderen spirituellen Weg stellen, um die Intuitionsfähigkeit zu verbessern. Ich möchte ihnen einen anderen Vorschlag machen, der auch in meinem Buch „Leben im goldenen Wind" dargestellt wird. In diesem Buch verwende ich die Metapher des Goldenen Windes für die Wirklichkeit, das göttliche Prinzip, das kooperative Hintergrundfeld (Dürr).

Es gibt Erfahrungsräume, in denen die Erfahrung des Goldenen Windes wahrscheinlicher ist als außerhalb, vorausgesetzt, wir sind in achtsamer Meditation und üben das Loslassen. Dann können wir auch in diesen Räumen die Intuition eher erfahren.

Diese Erfahrungsräume sind die Natur, die Musik, die Kunst, der Tanz, die Begegnung, aber auch die Krankheit. Viele Wissenschaftler waren auch gute Musiker, Künstler und Naturliebhaber. Das hat seinen Grund. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass ihnen in diesen Räumen Intuitionen zufließen.

Gerd Binnig: „Musizieren hat in meinem Gehirn etwas Positives bewirkt." Nobelpreisträger Werner Heisenberg, einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, war ein exzellenter Klavierspieler. Er war auch ein großer Naturliebhaber. Er konnte die Wechselwirkung von Musik und neuen Erkenntnissen in der Physik auch beschreiben.

Die Autoren des Buchs" Intuition, Kreativität und ganzheitliches Denken" aus dem einige der Beispiele stammen, kommen u.a. zu der Erkenntnis, dass an der Basis menschlichen Bewusstseins eine unmanifestierte, nach den Worten von Brahms kosmische Ebene von Kreativität und Intelligenz existiert und dass diese Ebene als der Ursprung menschlicher Kreativität und Intuition anzusehen ist.

Einstein charakterisiert diese Ebene als eine „Intelligenz von solcher Erhabenheit, dass verglichen damit das ganze systematische Denken und Handeln des Menschen ein unbedeutender Abglanz ist."

Wege zu neuen wissenschaftlichen Ergebnissen

Mit unserer Ratio haben wir großartige Fortschritte in der Wissenschaft, der Technik, der Medizin und in unserem Wohlstand erreicht. Aber oft hat Intuition vielen Forschern in ihrer wissenschaftlichen Arbeit weitergeholfen. Wenn sich Wissenschaftler auf einen Meditationsweg oder in die Erfahrungsräume des Seins begeben, dann werden ihnen noch mehr inspirative Intuitionen in einem unerwartet hohen Ausmaß zufließen, wie sie sie sich zur Erarbeitung von völlig neuen wissenschaftlichen Ergebnissen in den Zukunftsfeldern der Chemie wünschen.

Ich persönlich habe während meiner Berufsjahre weit mehr an der Schnittstelle von Chemie und Wirtschaft gearbeitet als in der Wissenschaft. Deshalb führten meine Intuitionen zu Markterfolgen und zu Erfolgen in der Unternehmensführung, wie z. B. die Akquisition der damaligen Degussa durch Hüls/VEBA.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Professor Meyer-Galow beim diesjährigen Wissenschaftsforum Chemie in Bremen gehalten hat. Weitere Information und Quellenangaben erhalten Sie beim Autor.

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Leben im goldenen Wind
Der mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Chemiker und ehemalige Topmanager Professor Dr. Erhard Meyer-Galow beschreibt in seinem Buch anhand seines eigenen Lebenswegs den Wandel vom äußeren zum inneren Wachstum. Sein Buch ist ein Zeugnis, wie man jede Lebensphase meistern kann, ohne sich in die Abgeschiedenheit von Klöstern zu flüchten. Erhard Meyer-Galow wirkt lieber, nachhaltig, nur seiner inneren Haltung verpflichtet. Gerade beim Älterwerden, so Meyer-Galow, komme es darauf an, den „Goldenen Wind" zu spüren und wirklich da zu sein, um die Fülle der Möglichkeiten und den Reichtum des Lebens wahrzunehmen.

  • Leben im Goldenen Wind
    Erhard Meyer-Galow
    Frieling & Huffmann, 2011 (1. Auflage)
    432 Seiten, Preis: 26,90 €
    ISBN 978-3-8280-2946-0