Forschung & Innovation

Mehr Tempo für den nachhaltigen Wandel

Eine treibhausgasneutrale Chemieindustrie bis 2050 ist machbar

12.07.2022 - Das aktuelle Jahrzehnt ist das Jahrzehnt der Entscheidung. Die Auswirkungen des Klimawandels treten immer deutlicher zu Tage.

Ihm kann nur dann effektiv begegnet werden, wenn wir ein wirklich nachhaltiges Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell umsetzen. Dies betrifft die Chemie als energieintensive und noch in weiten Teilen von fossilen Rohstoffen abhängige Branche in ganz besonderem Maße.

Der Wandel zur Nachhaltigkeit und Klimaneutralität ist politisch und gesellschaftlich gefordert und nicht aufzuhalten. Mit dem Green Deal und der Sustainable Chemistry Strategie der Europäischen Union (EU) werden klare Erwartungen an unsere Branche gerichtet. Dieser Verantwortung stellen wir uns.

Viele Unternehmen der chemischen Industrie haben bereits ehrgeizige Klimaziele formuliert. Hunderte von Millionen Euro fließen in die Entwicklung neuer Technologien, etwa im Bereich des chemischen Recyclings, und die Umstellung auf klimaschonende Produktionsverfahren. Eine gewaltige Aufgabe, der wir uns aber nicht mit leeren Händen stellen müssen. Das zeigen die letzten 30 Jahre, in denen unsere Branche bereits deutlich Wegstrecke zurückgelegt hat: beim zentralen Thema Sicherheit ebenso wie beim Umweltschutz sowie der Senkung ihres Energieverbrauchs und damit verbundener CO2-Emissionen. Der Wandel ist längt in vollem Gange.

Sinkende Emissionen

Dieser Bewusstseinswandel lässt sich deutlich an der zentralen Kenngröße der Klimapolitik ablesen, den Treibhausgasemissionen. Seit 1990 ist es der deutschen chemischen Industrie trotz erheblicher Produktionssteigerungen gelungen, ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren: 2019 war die Produktion im Vergleich zu 1990 um 63 % gestiegen, der Energieverbrauch jedoch um 19 % gesunken. Energie- und prozessbedingte Treibhausgasemissionen sanken im gleichen Zeitraum um 54 %.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Der Wandel der letzten 30 Jahre reicht nicht. Im Jahr 2020 war die Chemieindustrie nach wie vor für 5,5 % des Treibhausgasausstoßes in Deutschland verantwortlich. Viele Plattformchemikalien wie Olefine, Aromate, Methanol oder Ammoniak werden nach wie vor aus klimaschädlichem Erdöl oder Erdgas gewonnen. Es braucht weitere dynamische Veränderungen, um einen Beitrag zum Erreichen der Pariser Klimaziele zu leisten. Wie der Weg dorthin aussehen kann, also wie die chemische Industrie bis 2050 klimaneutral wird, beschreibt die Roadmap Chemie 2050 von Dechema und Future Camp. Sie zeigt, dass eine treibhausgasneutrale Chemieindustrie bis 2050 machbar ist: und zwar durch Effizienzsteigerungen, einen neuen Energiemix und Investitionen in nachhaltige Verfahren.

Nachwachsende und alternative Rohstoffe

Ein wichtiger Hebel für weitere Emissionssenkungen sind alternative Rohstoffe – anders als viele denken, kein neues Thema für die chemische Industrie. Schon 1974 erschien im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine Studie zur Biotechnologie. Sie war Ausgangspunkt weiterer Forschungen – damals noch getrieben von der Knappheit fossiler Ressourcen. In einem gemeinsamen Positionspapier „Rohstoffbasis im Wandel“ bündelten die Branchenverbände GDCh, VCI und DGMK im Jahr 1990 schließlich Ansätze für eine langfristige Veränderung. Die Richtung war klar: Die chemische Industrie will ihre Rohstoffbasis verbreitern – hin zu einem Mix aus fossilen, regenerativen und anorganischen Rohstoffen – und auch in Richtung Wasserstoff. Darauf bauen wir jetzt auf und gehen noch einen Schritt weiter: Alternative Rohstoffe wie Biomasse, CO2 sowie recycelte Altmaterialien sollen Erdöl komplett ersetzen.

Die Bioökonomie ist damit ein wichtiger Eckpfeiler der nachhaltigen Entwicklung unserer Branche. Nicht nur die Endlichkeit fossiler Ressourcen, sondern auch die Einhaltung der Pariser Klimaziele machen Fortschritte in diesem Bereich dringend erforderlich. 2018 setzte die chemische Industrie in Deutschland bereits 2,7 Mio. t nachwachsende Rohstoffe ein – etwa pflanzliche Öle, Stärke, Zucker, Zellstoff. Das ist auf die gesamte Produktion gesehen noch ein kleiner Teil, doch das Portfolio lässt sich nicht über Nacht umstellen. Es braucht umfassende Forschungs- und Entwicklungsarbeit sowie Akzeptanz im Markt.

Doch die Entwicklung geht in die richtige Richtung: Mit der Nachfrage wuchs in den letzten Jahren auch die Palette von Produkten aus biobasierten Rohstoffen weiter. Mit Hilfe alternativer Rohstoffe ist es Covestro z.B. gelungen, das weltweit erste klimaneutrale Polycarbonat und Schaumelement-MDI herzustellen. Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass solche Produkte die Regel werden. Dabei hat die Herstellung nachhaltiger Basischemikalien Priorität – ob aus Biomasse, CO2, grünem Wasserstoff oder Plastikabfällen. Dazu müssen wir die vorhandenen Technologien vom Labormaßstab in die Wirtschaftlichkeit überführen. Auf diese Weise schaffen wir einen großen Schritt in Richtung Kreislaufwirtschaft.

 

„Das Kreislaufprinzip ist die strategische Antwort der Zukunft."

 

© VCI

Auf dem Weg in die Kreislaufwirtschaft

Angesichts von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und nicht nachhaltigen Lebensweisen ist die Kreislaufwirtschaft unerlässlich. Wir müssen raus aus der Einbahnstraße des Produzierens, Konsumierens und Wegwerfens. Würde man allein ein Drittel des Kunststoffabfalls jährlich recyceln, könnte dies 10 % des Kohlenstoffs ersetzen, den die chemische Industrie heute aus Erdölprodukten bezieht.

Neben diesen Nachhaltigkeits­aspekten bietet die Kreislaufwirtschaft ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Allein in der EU könnten bis 2030 rund 700.000 Arbeitsplätze in diesem Bereich entstehen. Durch die Nutzung alternativer Rohstoffe und chemischer Recyclingverfahren kann unsere Branche einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Das Kreislaufprinzip ist die strategische Antwort der Zukunft. Es gilt für Kohlenstoffe sowie auch für Wasser und für Energie.

Veränderung braucht neue Energie

Damit die Kreislaufwirtschaft wirklich nachhaltig ist, muss der Ausbau der erneuerbaren Energien mehr Fahrt aufnehmen. So sehr die chemische Industrie sich wandelt, energieintensiv wird sie auf absehbare Zeit bleiben. Das Ausschöpfen von Energieeffizienzpotenzialen hat einen deutlichen Rückgang der Treibhausgasemissionen ermöglicht. Und es wird durch technologische Verbesserungen und Digitalisierung weitere Reduktionen auf diesem Wege geben. Mit dem Wandel von thermischen zu elektrifizierten Verfahren wächst gleichzeitig jedoch die Notwendigkeit großer Mengen erneuerbaren Stroms. Die Roadmap Chemie 2050 bezifferte den Bedarf der deutschen Chemie ab Mitte der 2030er Jahre auf 685 TWh – mehr als die gesamte deutsche Stromproduktion im Jahr 2018. So gehört unsere Branche aus gutem Grund heute mit zu denen, die am vehementesten einen schnellen Ausbau von Wind- und Solarenergie einfordern.

Forschungsinitiativen zu Energiespeichern, Kraftstoffen und Wasserstoff stehen ebenfalls weit oben auf der Agenda. Letzterer wird in nachhaltiger Form für die Ammoniaksynthese oder Methanolherstellung unerlässlich werden. Beim Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft ist die Chemieindustrie deshalb ebenfalls ein wichtiger Akteur. So beteiligt sich die Dechema u. a. an den Wasserstoff-Leitprojekten der Bundesregierung und bringt sich bei Fragestellungen rund um das Upscaling der Elektrolyseurproduktion sowie rund um die Offshore-­Wasserstoffproduktion ein. Auch das Recycling von Elektrolyseuren ist ein Thema, mit dem sich Fachleute bereits beschäftigen.

Damit diese Forschungen auf einen schnellen Wasserstoff-Hochlauf einzahlen, braucht es eine leistungsfähige Infrastruktur und passende Rahmenbedingungen. Nur wenn die regulatorischen Anforderungen in der Anfangsphase realistisch sind, wird ein zügiger Aufbau gelingen. Nicht jeder Elektrolyseur wird von Anfang an ausschließlich mit nachweislich grünem Strom betrieben werden können. Forderungen danach verkennen die ökonomischen Realitäten und hemmen schmerzhaft den Fortschritt. Das Prinzip der Additionalität, wie es für den Ökostrom gilt, könnte solche Hemmschwellen beseitigen und mit dafür sorgen, dass wir das Ziel erreichen. Wie beim Ausbau erneuerbarer Energien geht es momentan vor allem um eines: Tempo und die Schaffung von Nachfrage.

Die energiepolitischen Diskussionen rund um den Ukraine-Krieg und Energieimporte aus Russland befeuern die Ausbaubestrebungen. Mit Erdgas droht durch die jüngsten Entwicklungen eine wichtige Brückentechnologie wegzufallen. Das könnte als zusätzlicher Katalysator wirken und den Druck für eine schnelle Transformation erhöhen. Zugleich zeigt die Diskussion auch, wie eng der wirtschaftliche Korridor für diese Umstellung ist: Nur wenn Unternehmen weiterhin unter wettbewerbsfähigen Bedingungen produzieren können, erreichen wir unsere Klimaziele. Denn eines verbindet alle Themen: Sie sind nicht nur technisch, sondern auch ökonomisch äußerst herausfordernd. Nicht immer lassen sich die damit verbundenen Mehrkosten an die Kunden weitergeben. Nicht immer stehen genügend nachhaltige Rohstoffe zur Verfügung – auch das gehört zu den Herausforderungen, die auf dem weiteren Weg zu adressieren sind.

Der Wandel gelingt nur zusammen

Energiewende und Kreislaufwirtschaft sind gute Beispiele für die Komplexität der notwendigen Transformation. Sie erfordern deshalb eine sektorübergreifende Zusammenarbeit vieler Akteure. Kollaboration ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft der chemischen Indus­trie und für einen zukunftsfähigen Industriestandort insgesamt. Die Geschichte unserer Branche zeigt, was uns stark gemacht hat: unsere Forschung, unsere Ideen sowie der Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Die Zusammenarbeit in zahlreichen Projekten, Initiativen und Arbeitskreisen hat sich gelohnt. Dort sind viele wertvolle Ansätze entstanden, die uns nun auf unserem Weg zur Nachhaltigkeit voranbringen.

Dieser Austausch geschieht z. B. in den Gremien der Dechema. Als interdisziplinär aufgestellte Gesellschaft kann sie Wechselwirkung zwischen verschiedenen Bereichen erkennen und Impulse bei der Beantwortung wichtiger Fragen geben: Welche Verfahren sind für welche Stoffe geeignet? Wie führen wir Kunststoffe und Batterien im Kreis? Wie lassen sich Wasseraufbereitung und Wasserstoffgewinnung verknüpfen?

Antworten auf diese Fragen finden wir nur gemeinsam. Dazu hat die Dechema in der Vergangenheit viele wichtige Impulse geliefert – etwa zur Nutzung und Rückgewinnung von Metallen oder anorganischen Rohstoffen wie Phosphor. Auch im Bereich Energieeffizienz, industrielles Wassermanagement und industrieller Symbiose konnten wichtige Impulse in die unternehmerische Praxis überführt werden. Und sie unterstützt Unternehmen, Verbände und Organisationen mit Lebenszy­klus- oder Technologieanalysen sowie Nachhaltigkeitsbewertungen bei der Transformation.

Wir sind auf dem Weg

Umso wichtiger sind auch Zusammentreffen wie die Achema, bei der in diesem Jahr die Kreislaufwirtschaft ebenfalls eine zentrale Rolle spielen wird. Dort werden wir neue Innovationen kennenlernen, neue Ansätze für wertvolle Kooperationen schmieden und den Austausch über Unternehmens- und Branchen­grenzen hinweg nutzen. Und wir werden erneut feststellen, wie stark sich unsere Branche gewandelt hat. Die chemische Industrie heute ist eine andere als vor 30 Jahren. Das verdanken wir vielen klugen Köpfen in unseren Reihen sowie in anderen Disziplinen. Unsere Aufgabe bleibt es, diese Köpfe weiter zusammenzubringen. So setzen wir die notwendigen Impulse und entfesseln die Dynamik, die es für eine nachhaltige Chemie braucht. Eine Chemie, die Sicherheit bietet, die klimaneutral arbeitet und die als Wegweiser für die nachhaltige Transformation unserer Branche weltweit agiert. ­Packen wir´s an!

Autor:

„Die Bioökonomie ist ein wichtiger Eckpfeiler der nachhaltigen Entwicklung unserer Branche."

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