Strategie & Management

Mit Ammoniak in die Klimaneutralität

Grünes Ammoniak eröffnet neue Geschäftsmodelle für Chemieunternehmen

17.08.2022 - Mit einer durchdachten Ammoniak-Strategien können Chemieunternehmen ihre Klimaziele leichter erreichen und zugleich neue Märkte erschließen.

Perspektivisch lässt sich mit erneuerbaren Energien massenhaft grüner Wasserstoff herstellen – aber nicht so einfach speichern und transportieren. Grünes Ammoniak, das durch CO₂-neutralen Wasserstoff produziert wird, kann dieses Problem teilweise lösen und den Einstieg in eine beschleunigte Dekarbonisierung erleichtern. Chemiekonzerne haben nun die Chance, mit durchdachten Ammoniak-Strategien leichter ihre Klimaziele zu erreichen und zugleich neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Was kostet Öl oder Gas, woher kommt es, gibt es überhaupt noch genug? Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und den darauffolgenden Wirtschaftssanktionen stehen massive Energiepreissteigerungen, drohende Versorgungsengpässe und die damit verbundenen Konsequenzen für Wirtschaft und Verbraucher im Mittelpunkt der Diskussion. Dabei scheint etwas aus dem Blick zu geraten, dass die europäische Wirtschaft, insbesondere die Chemieindustrie, bereits vor dem Krieg vor großen Veränderungen stand. Im europäischen Green Deal haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen und als Zwischenschritt bis 2030 die Treibhausgas­emissionen um 55 % gegenüber 1990 zu senken. Gerade die Chemiebranche, die gut 5 % der klimaschädlichen Gase ausstößt, muss deshalb rasch ihre gesamte Wertschö­pfungskette dekarbonisieren und etwa ihre Anlagen mit elektrisch erzeugter Wärme statt Öl oder Gas betreiben, um zumindest bei der Prozessenergie den Einsatz fossiler Rohstoffe zu reduzieren. Sonst drohen hohe Belastungen durch Kohlenstoffsteuern.

Elektrifizierung der Anlagen in der Chemieindustrie dient der Dekarbonisierung

Die Elektrifizierung von Anlagen bedeutet die Umstellung auf Prozess­energie aus erneuerbaren Stromquellen wie Wind oder Sonne. Das mag ein wichtiger Schritt zur Dekarbonisierung sein, sie kann ihre Vorteile aber nicht überall ausspielen, wo noch fossile Rohstoffe genutzt werden. Dient Öl oder Gas als Vorprodukt, das in chemischen Prozessen verarbeitet wird, hilft die Elektrifizierung wenig. Als beste Lösung gilt dann unter ökologischen sowie finanziellen Aspekten der Umstieg auf grünen Wasserstoff. Denn während sich die Kosten für Öl oder Gas sowie den daraus hergestellten sog. grauen Wasserstoff – unabhängig von aktuellen Preisschwankungen – schon wegen der politisch beschlossenen, steigenden Bepreisung von CO2 -Zertifikaten weiter deutlich erhöhen dürften, sinken die Herstellungskosten für grünen Wasserstoff als Rohstoff oder Energieträger durch die anlaufende Massenproduktion sowie die zunehmende Skalierung deutlich. Als Schwelle zur breiten wirtschaftlichen Akzeptanz von grünem Wasserstoff gilt ein Preis von 2 USD/kg. 2030 soll er laut einer US-Studie in 28 untersuchten Ländern bei 1,21–1,93 USD liegen, klar unter der Schmerzgrenze. Einen Hebel zur Kostensenkung bietet neben der Skalierung der technologische Fortschritt – der Wirkungsgrad von Elektrolyseuren soll sich bis 2030 von 70 % auf 80 % erhöhen. Nicht zuletzt wegen des zu erwartenden Preisverfalls gilt grüner Wasserstoff als Schlüsselelement zur Dekarbonisierung der Wirtschaft. 

Chemieunternehmen brauchen aber auch eine Wasserstoff- und Ammoniak-Strategie

Chemiekonzerne sollten die absehbare Verfügbarkeit von bezahlbarem grünen Wasserstoff zu einem wesentlichen Baustein ihrer Dekarbonisierungsstrategie machen. Denn der Zugriff auf diesen Rohstoff gibt ihnen die Möglichkeit, in großen Mengen grünes Ammoniak herzustellen und dadurch verstärkt auf den Einsatz von Erdgas als Rohstoff in ihren Anlagen verzichten zu können. Gerade bei der Produktion von Düngemitteln, die derzeit rund 80 % des industriell hergestellten Ammoniaks benötigt, hat die Verringerung direkter Emissionen höchste Priorität: Allein die Düngerproduktion verursacht gut 1,8 % der weltweiten CO2 -Emissionen. Noch liefert im wichtigsten Herstellungsverfahren für Ammoniak, dem Haber-Bosch-Verfahren, vor allem Erdgas den Wasserstoff, durch dessen chemische Reaktion mit Stickstoff das Ammoniak entsteht. Hier kann Wasserstoff, der mithilfe erneuerbarer Energien produziert wurde, fossile Rohstoffe ersetzen und so einen wichtigen Bereich der Industrie klimaneutral machen.

Grünes Ammoniak verbessert die Versorgungssicherheit und die Kostenstrukturen

Darüber hinaus sind für Chemieunternehmen mit der Herstellung und Nutzung von grünem Ammoniak weitere erhebliche Vorteile verbunden. Vor allem können sie durch diesen selbst hergestellten Rohstoff für ihre Produktion die Abhängigkeit von den erdgasexportierenden Ländern signifikant reduzieren. Sie wären dann weniger eingeschränkt durch die aktuell noch vorherrschenden globalen Lieferketten in der Chemieindustrie und würden damit sowohl ihre Versorgungssicherheit als auch ihre Kostenstrukturen verbessern. Wann die hohe Volatilität der Erdgas- und Ölpreise abflaut und wie es generell um die Zukunft der Energieversorgung steht, ist weiterhin nicht absehbar. Die Entwicklung der Preise für grüne Energie und damit die Herstellung von grünem Wasserstoff sowie grünem Ammoniak ist hingegen relativ verlässlich einschätzbar.

Mit dem Verkauf von grünem Ammoniak lassen sich neue Märkte erschließen

Ein weiterer Vorteil: Grünes Ammoniak lässt sich als Energieträger verwenden, der später wieder in Wasserstoff umgewandelt werden kann. Die Nachfrage nach diesem Ammoniak als Transportform für Wasserstoff dürfte in naher Zukunft zunehmen, weil viele Unternehmen und Länder ihre Abhängigkeiten bei der Energieversorgung verringern wollen. Sie möchten erneuerbare Energie auch in dieser Form importieren. Denn der alltägliche Umgang mit Ammoniak ist von der Herstellung über Transport und Lagerung bis zur Rückverwandlung zum Wasserstoff – im Gegensatz zum Wasserstoff selbst – eine seit langem beherrschte Praxis. Auch die Transportinfrastruktur für grünes Ammoniak existiert bereits. So stellt Ammoniak eine der günstigsten Transportoptionen für Wasserstoff aus den wichtigsten wasserstoffproduzierenden Ländern zum Hafen von Antwerpen dar, wie eine Analyse von Accenture und der Hydrogen Import Coalition zeigt. Außerdem könnte grünes Ammoniak künftig über die Chemiebranche hinaus in großem Maßstab direkt genutzt werden – etwa im Transportsektor, insbesondere in der Schifffahrt. Hier dürfte der Bedarf als Ersatz für umweltschädlichen Schiffsdiesel laut der Studie „Zero Net by 2050“ der International Energy Agency (IEA) bis 2050 auf jährlich 230 Mio. t steigen – zusätzlich zu den 383 Mio. t, mit denen schon länger für Stromerzeugung sowie Kraftstoff gerechnet wurde.

In vielen Bereichen ist es sinnvoll, Wasserstoff mit Ammoniak zusammen zu denken

Grünes Ammoniak könnte sich also als wesentliches Element der Dekarbonisierung und Energiewende entpuppen. Damit lassen sich Unmengen überschüssigen Grünstroms relativ einfach direkt nutzen, transportieren oder speichern. Zudem könnte es in Syntheseschritten ein wichtiger Initialmarkt für aufgefangenes CO2 sein. Bei der Produktion von Harnstoff für Düngemittel kommt derzeit noch CO2 zum Einsatz, das aus der Herstellung von CO2 -intensivem Wasserstoff via Dampfreformation stammt. Nach der Umstellung auf grünen Wasserstoff ist damit Schluss, dann ist CO2 aus einer klimaschonenden Quelle gefragt. Eine Lösung können Technologien wie ­Direct Air Capture von Climeworks sein, die CO2 aus der Luft herausfiltern. Sie sind aktuell allerdings teuer – und es braucht frühe Abnehmer, um zu skalieren.

Chemieunternehmen sollten neue Geschäftsmodelle für Ammoniak forcieren

Beim Aufbau der erforderlichen Ammoniak-Strukturen außerhalb der bisherigen Produktion könnte die Chemiebranche mit den passenden Strategien die Führung übernehmen. So würde sie zum heimlichen Motor der Dekarbonisierung, während der Wasserstoff noch die Schlagzeilen beherrscht. Das technische Know-how dafür existiert weitgehend. Bestehende Anlagen lassen sich umrüsten und neue Standorte gleich mit dem Fokus auf Ammoniak aus grünem Wasserstoff planen. Interessenten sollten allerdings schnell aus den Startlöchern kommen, um sich den Zugriff auf passende Standorte sowie die erforderlichen Ressourcen und Dienstleister zu sichern. Sonst könnten potenzielle Mitbewerber, auch aus anderen Branchen, ihnen die knappen Kapazitäten wegschnappen und sich besser im Markt für grünes Ammoniak etablieren.
Wichtig ist neben dem Beherrschen der Technik vor allem die Standortfrage, und zwar unter zwei Aspekten: Wo gibt es genug Ökostrom zur Herstellung von Wasserstoff und Ammoniak, und wo ist Ammoniak gefragt? Ideal ist die Herstellung von Ammoniak generell überall dort, wo der Strombedarf und/oder die -produktion stark schwankt. Hier winken potenziell günstige Einkaufspreise, weil es etwa für Windparkbetreiber besser ist, Strom billig abzugeben, als ihre Anlagen bei Nachfrageflauten abzustellen. Chemieunternehmen können die Energie jederzeit für ihre Produktion nutzen. So würden Chemiekonzerne durch ihre Am­moniak-Expertise zum Schrittmacher der Dekarbonisierung. Voraussetzung: Eine durchdachte Standort- und Partnerstrategie auf der Basis von grünem Ammoniak.

Björn Bernhardt, NetZero, Transition Lead DACH, Accenture GmbH, Kronberg

ZUR PERSON

Björn Bernhardt ist Director bei Accenture und leitet den Bereich Energy Transition Strategy Consulting in der DACH-Region. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Beratungserfahrung in der Energie- und Rohstoffbranche mit Schwerpunkt auf der Energiewende. Bernhardt berät Kunden auf der ganzen Welt zusammen zu kommerziellen und operativen Strategien, Geschäftsmodell­innovationen sowie Dekarbonisierungsstrategien. Der ­Diplomvolkswirt studierte an der ­Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist seit dem Jahr 2007 für Accenture tätig.

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