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Vom Shale-Gas-Boom zur Spezialchemie?

Die höhere Verfügbarkeit von Ethylen birgt Herausforderungen und Chancen für die Spezialchemie

26.03.2013 -

Der amerikanische Shale-Gas-Boom weckt viele Begehrlichkeiten: Billiges Gas und Öl locken energieintensive Unternehmen, die Chemieindustrie hofft auf gesicherte Rohstoffe und kostengünstige Prozesse. Doch Schiefergas ist längst nicht nur ein Thema für die Energiewirtschaft und Basischemie: Der Boom fordert auch die Spezialchemie.

Damit die Spezialchemie-Unternehmen vom Vormarsch des Schiefergases profitieren können, sind sie allerdings - viel mehr als die Basischemie - angewiesen auf qualifizierte, engagierte und loyale Mitarbeiter auf allen Ebenen. Warum? Ein genauerer Blick auf die strukturellen Konsequenzen des Upstreams lässt einen die komplexen Abhängigkeiten verstehen. So lösen die verschiedenen Komponenten des „feuchten" Schiefergases, wie Methan, Ethan und die NGLs (Natural Gas Liquids) Propan oder Butane, jeweils eigene Entwicklungen aus.
Der Preis für Methan bzw. Erdgas ist in den USA bereits deutlich zurückgegangen, was sich positiv auf die Energiekosten auswirkt. Das endgültige Preisniveau muss sich aber erst noch ausbilden, denn die Rückkehr der energieintensiven Industrien wie Stahl- oder Papierindus­trie sorgt für einen steigenden Absatz von Erdgas und wirkt einem niedrigen Preisniveau entgegen. Auch der Export und Transport des Flüssiggases LNG (Liquified Natural Gas) vor allem nach Europa verlangsamt den Preisrückgang. Dabei erwarten viele Experten mittelfristig ein Erdgaspreisniveau von 6 US-$/MMBTU für den nordamerikanischen Kontinent.
Niedrige Energiekosten würden den gesamten sehr energieintensiven Downstream-Bereich begünstigen. Neben dem Steamcracken dürfte die Elek­trolyse besonders profitieren - Chlor bzw. Chlorwasserstoff ließen sich günstig für einen attraktiven Downstream zur Verfügung stellen. Positive Effekte ergäben sich auch bei der Bereitstellung von technischen Gasen, z. B. Stickstoff oder Sauerstoff. Dadurch wiederum könnten Oxidationen mit reinem Sauerstoff ökonomisch attraktiver werden. Auch die Herstellung von Phosphor im elektrothermischen Verfahren wäre günstiger. C1-Routen wie Synthesegas und Methanol sowie dessen Derivate wie Formaldehyd, MTBE und Essigsäure würden unmittelbar profitieren. Das Unternehmen Methanex hat bereits die Konsequenzen gezogen und bringt eine Anlage an der US-Golfküste in Betrieb.

Ethylen aus Ethan ist hochattraktiv

Die Verfügbarkeit von Ethan zusammen mit einem niedrigpreisigen Brenngas macht die Herstellung von Olefinen besonders lukrativ. Deshalb haben die Betreiber in den USA bereits in den letzten Jahren den Einsatz von Ethan als Feed gegenüber Naphtha deutlich gesteigert. Dieser Trend sollte sich in den kommenden Jahren fortsetzen, sodass wir wohl deutlich mehr Cracker in den USA sehen werden - etwa an der Golfküste oder direkt in den Shale-Gas-Feldern in Pennsylvania.
Es ist zu erwarten, dass die Verfügbarkeit von Ethylen deutlich steigt und dadurch die Produktion von Ethylenderivaten begünstigt wird. Nicht ohne Konsequenzen: Der Anteil der höheren Olefine dürfte deutlich zurückgehen. Das hat bereits in den letzten Jahren die Verfügbarkeit von Butadien und verwandten Produkten beeinträchtigt. Der Cracker-Aufbau auf Basis von Ethan kann daran nur wenig ändern - eine neue Herausforderung für die Industrie, die bereits über Dehydrierungsprojekte für Propan und Butane diskutiert.
Wie sich die Verfügbarkeit anderer NGL entwickelt, ist nur schwer abzuschätzen. Propan und Butane könnten zwar prinzipiell als Feed für die chemische Industrie zur Verfügung stehen, werden aber auch als Kraftstoffkomponente oder Brennstoff zum Heizen und Kochen gebraucht. Eine Entkopplung besonders der Butane vom Rohölpreis ist eher fraglich.

Opportunitäten im Ethylen-Downstream
Vor anderen Herausforderungen stehen die Hersteller der Ethylenderivate Polyethylen, Ethylenoxid mit Folgeprodukten und Vinylchlorid bzw. PVC. Mit dem deutlich gesteigerten Ethylenvolumen müssen nicht nur die Polymerproduzenten klarkommen, sondern auch die Spezialchemie: Sie muss die geeigneten Katalysatoren sowie Co-Monomere und Additive in genügender Menge bereitstellen.
Nicht nur die Polymerisation ist von der Verfügbarkeit der Katalysatoren stark betroffen, sondern auch alternative Verfahren zur Herstellung von höheren Olefinen, z. B. die Dehydrierung von Propan bzw. Butanen, FCC-Verfahren oder Oligomerisation bzw. Metathese. Besonders die Polymerisation von LLDPE unter den Polyethylenen benötigt höhere Olefine, z. B. 1-Buten oder Hexen. Dieser Bedarf an Co-Monomeren müsste aus einer gezielten Synthese gedeckt werden.
Neben den Co-Monomeren werden unterschiedliche Additive verlangt. Im Fall der schon genannten Polyethylene sind das beispielsweise Antioxidantien oder UV-Stabilisatoren. Bei den zu erwartenden Volumina ist eine regionale Produktion sinnvoll: Die kürzlich in Betrieb genommene Anlage in Bahrain zur Versorgung des mittleren Ostens mit Additiven weist in die Richtung. Rechnet man mit einem Anstieg der PVC-Produktion, wären Weichmacher in großer Menge erforderlich. Weichmacher verlangen wiederum die Herstellung von entsprechenden Alkoholen, die aus biogenen Quellen oder fossilem Ursprung stammen könnten. Im letzten Fall greifen verschiedene Herstellverfahren auch wieder auf Butene als Feed zurück. Weitere Additive, wie z. B. Flammschutzmittel, Antistatika oder Farbstoffe, müssen zur Abrundung des regionalen Additivportfolios ebenfalls hergestellt werden.

Chancen für die europäische Spezialchemie
Diese Entwicklung könnte synergistisches Potential freisetzen: Erzeuger von Kunststoffprodukten, die im vergangenen Jahrzehnt durch niedrige Lohnkosten und attraktive Marktchancen nach Asien gelockt wurden, kehren möglicherweise in die USA zurück, weil sie dort ein vorteilhafteres Umfeld für die oftmals komplexeren Produkte erwarten. Eine Chance besonders für Spezialpolymere?
Natürlich ist die Spezialchemie in Nordamerika bereits vertreten. Doch sie könnte deutlich wachsen. Davon würden nicht nur die amerikanischen Unternehmen der Spezialchemie profitieren, sondern in besonderem Maße auch die europäischen Player. Viel Know-how in diesem Bereich ist mit den Firmen in den vergangenen Jahren abgewandert oder wurde nicht weiterentwickelt. Das betrifft nicht nur die Chemiker, sondern besonders auch die Chemikanten. Chemieunternehmen, die das Arbeitskräftepotential in Nordamerika durch Ausbildung und Umschulung ausschöpfen können, sind in hervorragender Weise prädestiniert, diese Entwicklung positiv für sich zu gestalten. Unternehmen aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich oder der Schweiz, die sehr viel Erfahrung in der Ausbildung besitzen, könnten an der Spitze stehen.
Nicht nur in Nordamerika werden Fachkräfte auf allen Ebenen gebraucht; weltweit sucht die Chemieindustrie händeringend nach qualifizierten Mitarbeitern. In China wird man sich zunehmend bewusst, dass nicht allein billige Arbeitskräfte weiteres Wachstum generieren können, und im Nahen Osten wagen Unternehmen den Sprung in den Downstream. In all diesen Fällen macht das Know-how der Mitarbeiter den entscheidenden Unterschied. Es wird spannend sein zu sehen, welche Unternehmen diese Opportunitäten für sich und ihr Portfolio am besten verstehen. Die Business-Verantwortlichen werden einige zentrale Fragen beantworten müssen: Was ist die richtige Strategie und wie implementiert man sie erfolgreich? Wie kann man die Ausbildung und Weiterbildung der Fachkräfte effizient und schnell sicherstellen? Wie gewinnt man schließlich die Loyalität der Mitarbeiter, um langfristigen Erfolg zu erzielen?
Gefordert sind analytisch denkende und handlungsfähige Manager auf allen Führungsebenen der Industrie. Wichtige Unterstützung können sie von den Experten spezialisierter Chemieberatungen erhalten. Die können mit ihrer spezifischen Kenntnis der mikro- und makroökonomischen Trends sowie ihrem Markt- und Prozess-Know-how dazu beitragen, schwierige Herausforderungen in attraktive Chancen zu verwandeln.

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