Forschung & Innovation

Prof. Dr. Jochen Winkler, Sachtleben: Wie Expertenwissen nutzbar gemacht werden kann

Zusammen ist man schlauer

22.11.2010 -

Das Wissen in einem Unternehmen lässt sich in Faktenwissen, Prozesswissen und Expertenwissen aufteilen. Faktenwissen besteht aus allen Daten, Informationen und Erkenntnissen zu Sachverhalten, die irgendwo in einem Unternehmen oder außerhalb eines Unternehmens verfügbar sind. Faktenwissen wird allerdings erst zu Wissen im herkömmlichen Sinn, wenn es in Beziehung zu einer Erfahrung steht. Wenn man die Grad Fahrenheitskala nicht kennt, kann man beispielsweise mit dem amerikanischen Wetterbericht nichts anfangen.

Bei der Anwendung des Faktenwissens in den Prozessen wird Prozesswissen generiert. Prozesswissen verknüpft Ursachen mit Wirkungen. Eine Eigenschaft des Prozesswissens ist, dass es niedergeschrieben und daher nachschlagbar ist, sofern man weiß, wo es steht.

Die dritte Wissensart, das Expertenwissen, ist das Wissen, welches in den Köpfen der Mitarbeiter steckt. Es ist das quecksilbrigste und zugleich kostbarste Wissen für ein Unternehmen. Experten sind Individuen, die Träger von Fähigkeiten sind. Sie besitzen zudem Intuition und Erfahrung.

Für viele Produktionsanlagen der chemischen Industrie gilt, dass die Herstellverfahren sich über mehrere Tage erstrecken können. Dabei können sich kontinuierliche und diskontinuierliche Teilprozesse abwechseln. Außer chemischen Einflussparametern spielen auch physikalische Einflussgrößen wie Temperaturübergänge etc. eine Rolle, wobei ein suboptimaler Prozessschritt zu Beginn der Produktion sich durchaus erst im Fertigprodukt nachteilig bemerkbar machen kann. Zudem bestehen oft komplizierte, multikausale Zusammenhänge zwischen Einflussgrößen und ihren Wirkungen. Gerade in diesen Fällen ist es außerordentlich wichtig, Experten- und Fachwissen in Prozesswissen zu überführen.

Das Weltbild der Experten

Eine solche Produktion liegt z.B. bei der Titandioxid Pigmentherstellung nach dem Sulfatverfahren vor. Bei der Sachtleben Chemie in Duisburg wurde bereits vor etwa 15 Jahren damit begonnen, Expertenwissen methodisch in Prozesswissen zu überführen. Dazu wurde der gesamte Herstellprozess in einzelne Teilschritte gegliedert. Zu jedem Teilschritt wurden in Expertenrunden die relevanten Einflussgrößen auf den Gesamtprozess festgelegt. Daraufhin wurden alle Erkenntnisse und Erfahrungen zu den Teilschritten zusammengetragen und gegliedert in:

  • gesicherte Erkenntnis
  • Mutmaßung
  • Nichtwissen / nicht untersucht

Für eine „gesicherte Erkenntnis" ist es nötig, dass die Aussage nicht nur auf einem exakten Versuch beruht, sondern, dass dieser Versuch wiederholbar ist und, dass das Ergebnis in das „Weltbild" der Experten passt. Es muss also schlüssig und im Idealfall erklärbar sein. Wenn nicht, muss das Experiment wenigstens immer zum selben Resultat führen. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, oder hat einer der Experten Zweifel an der Zuteilung zur „gesicherten Erkenntnis", so wird die Aussage zu dem Wissen automatisch zu einer „Mutmaßung".

Die Rubrik „Nichtwissen" (ein Substantiv!) änderte sich auf Wunsch einiger Experten im Laufe des Prozesses zu „Nichtwissen / nicht untersucht". Damit sollte ausgedrückt werden, dass das „nicht wissen" nicht etwa auf Dummheit oder Ähnlichem bestand, sondern eventuell auch darauf zurückzuführen sein konnte, dass man sich des Themas noch nicht angenommen hatte. Die scharfe semantische Trennung in die drei verschiedenen Kategorien des Wissens war allerdings mit Absicht so gewählt. Sie sollte sicherstellen, dass es unmöglich wird, „Halbwissen" etwa zum Bestandteil des technischen Weltbildes zu machen.

Das Vorgehen zwang auch dazu, widersprüchliche Aussagen und Laborergebnisse gegenüber zu stellen und entweder die Widersprüche aufzuklären, oder aber die Rubrik „Nichtwissen / nicht untersucht" damit zu füllen. Es war und ist durchaus so, dass verschiedene Experten unterschiedliche Ansichten zu einzelnen Punkten haben. Die Organisation hat im Verlauf des Umgangs mit diesem Expertensystem lernen müssen, mit diesen Diskrepanzen umzugehen.

Die Wissensdatenbank als Werkzeug

Das Expertensystem besteht aus einer aus einer vierspaltigen Word-Tabelle mit den drei genannten Überschriften „Gesicherte Erkenntnis", Mutmaßung" und „Nichtwissen / nicht untersucht", sowie einer Spalte für die Quellen (Laborprotokolle etc.). Diese Quellen sind verlinkt und lassen sich durch Anklicken aufrufen und einsehen. Das Werkzeug vereinigt folgende Vorteile:

  • es führt Wissen nicht nur auf, sondern bewertet es,
  • es zeigt Wissensdefizite und somit Handlungsbedarf auf (Spalte „Nichtwissen"),
  • es ist computergestützt, so dass mit Suchfunktionen gearbeitet werden kann,
  • es macht die relevanten Grundlagen für die Aussagen leicht verfügbar.

Durch regelmäßige Überarbeitung wird dafür gesorgt, dass die Wissensdatenbank immer den aktuellen Stand wiedergibt.

Von großer Bedeutung ist schließlich, dass sich bei den am Projekt beteiligten Personen eine gemeinsame Sichtweise für die Bewertung von Wissen entwickelte. Dieses gemeinsame Verständnis ist ein Teil der Kommunikationskultur der Techniker bei Sachtleben geworden und hilft auch im Tagesgeschäft, weil man - mehr als früher - ein gemeinsames Verständnis für die Anforderungen an technische Aussagen hat.