Logistik & Supply Chain

Bestandsreduzierung als „Quick Win“

Beim Bestandsmanagement ist zwischen Sicherheit und Optimum abzuwägen

18.11.2009 -

Chemie- und Pharmaunternehmen sind oft gezwungen, sich schwankenden Produktionsbedingungen anzupassen. Sie müssen sich heute vielfach auf kleinere Auftragsvolumina und eine schnellere Neuprodukteinführung einstellen, d. h. die Produktionseffizienz verbessern und die Flexibilität erhöhen. Dr. Sonja Andres befragte Filippo Focacci, Product Marketing Manager, Supply Chain Applications bei ILOG, einem Produktionsplanungs- und Steuerungslösungsspezialisten, zur Notwendigkeit von Bestandsoptimierung und Sicherheitsbeständen sowie der Nützlichkeit von Planungssoftware.

Weshalb kann es in der momentanen weltwirtschaftlichen Situation sinnvoller sein, in Lösungen für die Bestandsoptimierung zu investieren als in neue Lösungen für die Bedarfsplanung?


F. Focacci: Viele Unternehmen tendieren in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage automatisch dazu, sämtliche Investitionen in Lieferkette und Fertigung zu kappen. Dies führt allerdings dazu, dass sie die Rezession viel deutlicher zu spüren bekommen als ihre Wettbewerber mit effizienten Supply Chain- und Produktionsprozessen. Eine bessere Strategie wäre deshalb, auf Projekte zu setzen, die mit geringem Investitionsaufwand schnelle Ergebnisse liefern. Die hierdurch erzielten Gewinne sollten dann wiederum in mittelfristig angelegte Lieferketten- und Fertigungsprojekte investiert werden.
Ein gutes Beispiel für solche „Quick Wins“ ist die Bestandsreduzierung. Sie führt zur Reduzierung des Betriebskapitals sowie des Risikos einer Bestandsabschreibung und erhöht das Serviceniveau. Dies ist alles wichtig, insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.
Natürlich könnte man jetzt sagen, dass zur Bestandsreduzierung in erster Linie Lösungen für die Bedarfsplanung dienen. Die Pro­gnosefähigkeit dieser Lösungen wird durch die unbeständige Wirtschaftslage jedoch erheblich beeinträchtigt. So sind z. B. die Öl- und Rohstoffpreise enormen Schwankungen unterworfen. Für Unternehmen ist es unter diesen Bedingungen deshalb sinnvoller, sich Lösungen zur Planung der Lieferkette und solche, mit denen sich die Flexibilität erhöhen lässt, zu suchen.

Was ist generell unter Bestandsoptimierung und entsprechenden Lösungen zu verstehen?


F. Focacci: Der Begriff der „Bestandsoptimierung“ wird für die unterschiedlichsten Bedürfnisse und Tools verwendet. Vertriebsfokussierte Bestandsoptimierungs-Tools lassen sich beispielsweise einsetzen, um den Produktfluss innerhalb eines Vertriebsnetzwerks oder den Sicherheitsbestand eines jeden Netzwerkknotens zu bestimmen und so die notwendigen Service Levels zu erhalten. Strategische Bestandsoptimierungs-Tools können wiederum die Push-/Pull-Grenze innerhalb eines Lieferkettennetzwerks definieren. Eine dritte Möglichkeit der Bestandsoptimierung ist, mithilfe eines optimalen Produkt-Mixes weltweit ein bestimmtes Service-Level-Ziel  zu erlangen. Hier spielen wiederum andere Technologien eine Rolle.

Wie sollten Chemie- bzw. Pharmaunternehmen hier vorgehen? An welchen Rädchen kann gedreht werden?


F. Focacci
: Unternehmen aus der Chemie- und Pharmaindustrie zeichnen sich durch komplexe Fertigungs- und Vertriebsnetzwerke aus. Einer unserer Kunden im Bereich Bestandsoptimierung, ein Pharmaunternehmen, fertigt beispielsweise sein Rohmaterial in Europa und Asien, seine Wirkstoffgruppen in Irland und Puerto Rico und die Endprodukte in Europa und den USA. Seine Vertriebszen­tren hat er in den verschiedenen Märkten aufgebaut. In diesem Fall ging es darum, die Bestände effektiv in der Lieferkette zu positionieren. Mithilfe unserer Optimierungslösung Inventory Analyst wurde errechnet, welche der Niederlassungen Bestände halten sollte (Push) und welche nicht (Pull). Die Lösung kann dafür ein Modell des gesamten Lieferkettennetzwerks erstellen, das sowohl die Pufferbestände des Rohmaterials als auch die der Halbfertig- und Endprodukte abbildet. Dies gilt auch für die Bestände in den Verteilzentren. Viele Unternehmen wägen Kosten und Nutzen hinsichtlich ihrer Umrüstungs- und Bestandskosten einerseits und den Service Levels andererseits in zwei verschiedenen Schritten ab. Sie bestimmen erst den Sicherheitsbestand und legen daraufhin den Produktionsplan fest. Dieser sequenzielle Ansatz ist oftmals problematisch, da so der Sicherheitsbestand zur unflexiblen Größe wird. Besser ist es, beide Schritte gleichzeitig vorzunehmen und die Sicherheitsbestände bis zum nächsten Fertigungsdurchlauf an aktuelle Nachfrageveränderungen anzupassen. Dieser holistische Ansatz beruht auf der Annahme, dass der Sicherheitsbestand umso niedriger ausfallen kann, je näher der Zeitpunkt des nächsten Fertigungsdurchlaufs rückt. Indem der Sicherheitsbestand zeitnah zum nächsten Produktionsdurchlauf bestimmt wird, wird die Berechnung der Durchschnittsdauer eines Fertigungszyklus überflüssig. Soweit ich weiß, ist unsere Optimierungslösung IBM Ilog Plant PowerOps die einzige, die diesen holistischen Ansatz unterstützt.

Ist es nicht gerade für Chemie- und Pharmaunternehmen „gefährlich“, an der Produktionsschraube zu stark zu drehen, indem Bestände auf ein Minimum gesenkt werden, z. B. in Bezug auf hohe Umrüstzeiten?


F. Focacci
: Es gibt einen Ausgleich zwischen Bestandsgröße und der Umrüstungsdauer. Reduziert man die Bestände auf ein Minimum und hat dabei den Kosten-Nutzen-Aspekt nicht im Blick, kann das (ohne holistische Übersicht) tatsächlich gefährlich werden. Denn einerseits können dadurch die Umrüstungskosten steigen und andererseits die Service Levels sinken. Optimiert man die Sicherheitsbestände und die Produktionspläne jedoch gleichzeitig, können Hersteller einen positiven Kreislauf einleiten, der am Ende sowohl den Bestand als auch Dauer und Kosten der Umrüstung reduziert. Der Abbau von Sicherheitsbeständen führt in der Tat zu weniger Einschränkungen bezüglich der Bestandshöhe, was eine Optimierung von Losgrößen und Umrüstung ermöglicht. Weniger Umrüstungsaktivitäten erhöhen die Betriebseffizienz und führen zu Pufferkapazitäten, die entweder dazu genutzt werden können, die Durchsatzleistung zu erhöhen oder den Einfluss der Herstellungsvariabilität zu reduzieren.
Unglücklicherweise zwingen die meisten APS-Systeme Unternehmen dazu, nach Kompromissen zwischen Umrüstungskosten, Bestandskosten und den Serviceniveaus in zwei separaten Schritten zu suchen.
Analysen, die den traditionellen Zwei-Stufen-Lösungsansatz (erst die Sicherheitsbestände ermitteln, dann die Produktion optimieren) mit dem globalen Lösungsansatz verglichen haben, zeigen bei letzterem einen Abbau der Bestände um 20–25 %, eine 20–30 %ige Abnahme beim Umrüstungsaufwand und eine 5–10 %ige Verbesserung der Betriebseffizienz. Alle diese Verbesserungen wurden ohne negativen Einfluss auf das Serviceniveau erzielt.

Gibt es Faustregeln den Sicherheitsbestand betreffend?


F. Focacci: Eine Anregung: Fokussieren Sie sich auf datengetriebene Entscheidungen. Bestandstreibende Faktoren sind nicht immer intuitiv, und die Annahmen der Betriebsführung, die sich nicht auf datengetriebene Untersuchungen stützen, sind nicht immer korrekt. Viele sehen im Abbau von Vorhersagefehlern den Schlüssel zur Reduzierung der Bestände. Es stellt sich oft her­aus, dass dies eine der weniger nützlichen Strategien ist.

Kann ein Planungstool bezüglich des Sicherheitsbestands tatsächlich mehr Flexibilität erzielen und damit letztlich auch Kosten reduzieren? Wie geht das?

F. Focacci
: Im Allgemeinen können effektive Planungstools die Herstellungsflexibilität erhöhen, indem sie es den Planern ermöglichen, im Falle von Veränderungen schneller bessere Entscheidungen zu treffen. Ein Produktionsplaner ohne Planungsinstrument z. B. würde womöglich einige Tage brauchen, um einen brauchbaren Plan auf die Beine zu stellen. Ein effektives Planungstool kann die Planungszeit  auf wenige Stunden verkürzen. Auf diese Weise sind also kurzfristige Neuplanung und schnelles Handeln bei Veränderungen möglich. Diese Art der Flexibilität ist unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen, in denen Komplexität und Unbeständigkeit Norm sind, eine schlichte Notwendigkeit.
Eine andere Form der Flexibilität könnte erreicht werden, sobald man von den „Entscheidungsbunkern“ wegkommt und stärker die Gesamtansicht als Entscheidungsgrundlage heranzieht. Wie bereits erwähnt: Wird der Sicherheitsbestand unabhängig vom Produktionsplan definiert, entstehen künstliche Bedingungen für die Erstellung des Produktionsplans. Dadurch verliert man an Flexibilität. Durch eine Art der Entscheidungsfindung, die einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, werden alle künstlichen Bedingungen beseitigt (ohne Einfluss auf das Serviceniveau). Das ganzheitliche System bewahrt sein Maß an Freiheit und ist auf diese Weise in der Lage, bessere Lösungen zu finden.
Dies sind einige der Gründe war­um immer mehr Unternehmen sich nach einer besser integrierenden Planung (Master Production Scheduling) und kapazitätsbezogener Feinplanung umsehen. Eine bessere Synchronisierung von Produktion, Lieferkette und Bedarf ermöglicht den Herstellern, ihre Lagerbestände signifikant abzubauen, die Anlagennutzung zu steigern sowie die Herstellungskosten zu reduzieren, während gleichzeitig das Serviceniveau steigt.