Strategie & Management

Digitalisierung in der Chemie – die Ruhe vor dem Sturm

Chemieunternehmen müssen die Digitalisierung vorantreiben, um sich vor branchenfremden Disruptoren zu schützen

09.04.2018 -

Nicht zuletzt wegen der guten Chemiekonjunktur bewegen sich viele Konzerne eher langsam in Richtung Digitalisierung. Entsprechende Technologien werden vor allem zur Effizienzsteigerung in der Produktion und Verwaltung genutzt und erst allmählich eingesetzt, um neue Angebote und Wertversprechen für Kundenindustrien in die Märkte zu tragen. Dabei eröffnen die neuen Möglichkeiten zur Vernetzung sowie zum Sammeln und Auswerten von Daten die Chance, mit digital erweiterten Produkten und Geschäftsmodellen massiv das Umsatzwachstum anzuheizen. Innovative Technologien können helfen, schnell und zielgerichtet auf absehbare Veränderungen bei Marktbedingungen oder Kundenwünschen zu reagieren. Bei anhaltendem Zögern besteht dagegen die Gefahr, dass sich branchenfremde Disruptoren eine Schlüsselposition in künftigen Wertschöpfungsketten oder Plattformen sichern.

Die Akquisition sorgte für Verwunderung: Rund 1 Mrd. USD ließ sich der Herbizid- und Saatguthersteller Monsanto 2013 die Übernahme der Climate Corporation kosten. Sogar Brancheninsider fragten sich, warum ein Agrochemie-Riese viel Geld in ein gerade der Start-up-Phase entwachsenes Unternehmen steckt, das Wetterinformationen sammelt und Geld mit Versicherungen etwa für Skiressorts oder Open-Air-Veranstalter verdient, die sich gegen Einnahmeausfälle durch Schneemangel oder Starkregen schützen wollen. Kerry Preete gab darauf eine Antwort, die von strategischer Weitsicht zeugt. „Wir helfen Farmern, ihre Produktivität zu steigern“, begründete Monsantos Chief Strategy Officer den Kauf. „Von rund 40 wichtigen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, die ein Farmer jedes Jahr trifft, drehen sich mindestens 30 auch ums Wetter.“ Verlässliche Wetterdaten, so die Botschaft, sind für die Kunden aus der Landwirtschaft so relevant wie ertragsoptimiertes Saatgut oder hochwirksame Unkrautvernichtungsmittel, die traditionellen Umsatzbringer der Agrochemie.

Datengetriebene Serviceangebote ergänzen den Produktvertrieb

Vor fünf Jahren war Monsanto der erste Chemiekonzern, der viel Geld in die Digitalisierung investierte – und zwar nicht für mehr Effizienz oder Kundennähe, sondern um sein Geschäftsmodell zu transformieren. Mit Hilfe digitaler Technologien verkauft er Kunden die Information, wie sie ihren Ernteertrag steigern könnten – in diesem Fall nach dem Sammeln von Wetter- oder Bodendaten durch leistungsfähige Sensoren und ihrer Auswertung mit Blick darauf, wann am besten welche Saaten, Dünger oder Herbizide in welcher Menge eingesetzt werden sollten. Datengetriebene Serviceangebote ergänzen den klassischen Produktvertrieb. Inzwischen setzt sich in der Branche die Erkenntnis durch, dass die Digitalisierung vorangetrieben werden muss – nicht zuletzt wegen der Monsanto-Erfolgsgeschichte, die durch Beteiligungen an weiteren Wetter- und Agro-Softwarehäuser fortgeschrieben wurde. Dies reicht deutlich über die Agrobranche hinaus: 1 Mrd. EUR an Investitionen in Digitalisierungsprojekte und digitale Geschäftsmodelle erwartet der Verband der Chemischen Industrie (VCI) hierzulande in den nächsten Jahren.

Erste Spezialisten entwickeln eigene as-a-Service-Konzepte

Die Bandbreite der Vorhaben ist so vielfältig wie die Branche selbst. Werkstoffhersteller Covestro plant eine Onlineplattform zur Kunststoffbestellung, die so komfortabel wie Online-Shopping sein soll. Gasspezialist Linde will Anlagen mithilfe von Virtual-Reality-Anwendungen besser planen und Wartungspersonal unter realistischen Bedingungen schulen. BASF nutzt Computermodelle und Simulationen, um in der Kunststofffertigung den Energieverbrauch sowie den Abfallausstoß zu senken. Einige Hersteller simulieren unter Einsatz von Echtzeitdaten komplette Anlagen mit einem digitalen Zwilling der Produktions-Assets. Das ermöglicht laufende Prozessoptimierungen, was Produktivitätssteigerung von bis zu 20 % statt der bei klassischen Verbesserungsmaßnahmen üblichen 5 % verspricht. Und so ziemlich jedes Chemieunternehmen betreibt einen eigenen Inkubator oder investiert in Start-ups, um neue Service- und Produktideen zu generieren.

Viele Chemiemanager verharren noch in der Komfortzone

Allerdings: So gut die Zahlen und Beispiele klingen – tatsächlich hinkt die Branche im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen bei der Digitalisierung hinterher. Dies zeigt der Digital Performance Index (DPI) von Accenture, für den die digitalen Fähigkeiten von 48 multinationalen Chemiekonzernen untersucht wurden. Mit einem unterdurchschnittlichen Score-Wert von 2,0  landet die Branche im unteren Mittelfeld, deutlich hinter Hightech-Unternehmen, Einzelhändlern oder Banken(Grafik 1). Auch die für deutsche Chemiekonzerne avisierte Investition von 1 Mrd. EUR in Digitalisierung relativiert sich angesichts der Summen, die im Sektor für M&A-Aktivitäten ausgegeben werden. Tatsächlich spürt die Branche noch nicht genug Veränderungsdruck. Weil der Aufschwung seit der Finanzkrise 2008 anhält, denken die Unternehmen weiter in den klassischen Dimensionen von Produktivitätssteigerung und Mengenwachstum. So können sie den Aktionären auskömmliche Renditen liefern, ohne sich mehr in Richtung Digitalisierung zu bewegen und neue Geschäftsmodelle mit neuen Wachstumsoptionen zu entwickeln. Die zögerliche Haltung dürfte sich spätestens dann rächen, wenn – wie z.B. im Finanzsektor – Wettbewerber mit disruptiven Geschäftsmodellen auftauchen und durch neue kundenorientierte Plattformen oder Wertschöpfungsketten die Branche verändern. Es handelt sich tatsächlich um die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

Die Branche kommt in Bewegung

Mindestens drei Entwicklungen, die für viel Bewegung sorgen werden und sich nur mit den richtigen digitalen Fähigkeiten zum Vorteil des eigenen Unternehmens nutzen lassen, sind bereits absehbar. So dürfte der Trend hin zur dezentraleren Energie- und Materialversorgung für massive Veränderungen bei Produktion und Vertrieb sorgen. Ein verstärkter Einsatz digitaler Technologien zur Steuerung von Anlagen und Supply Chain ist die logische Antwort. Die Forderung vieler Kunden nach weniger Ressourceneinsatz oder besseren Recyclingfähigkeiten – wie etwa von großen Getränkeherstellern gegenüber den Produzenten von PET-Flaschen erhoben – ist ohne Datenerfassung und -auswertung über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts hinweg kaum zu leisten. Und schließlich wird es bei vielen Chemikalien, etwa in der Landwirtschaft, mehr um Dosierung als Mengenwachstum gehen. Wenn weniger Produkt gezielter eingesetzt werden muss, sind jene Anbieter im Vorteil, die ihre Abnehmer mit entsprechenden Services dabei unterstützen. So schaffen sie sich Einnahmequellen, die unabhängiger vom traditionellen Volumengeschäft sind.

Schwierige Suche nach „Sweet Spot“ in der Wertschöpfungskette

Um sich vom Wettbewerb absetzen und mithilfe der Digitalisierung eigene Geschäftsmodelle für die „neue“ Chemie entwickeln zu können, müssen viele Unternehmen konsequent umdenken und aktiv den eigenen, renditeträchtigen „Sweet Spot“ innerhalb der künftigen Wertschöpfungsketten oder neuen Plattformökonomie suchen. Dies erfordert einen klaren strategischen Fokus, der sich aus der Beantwortung von zwei Fragen ergibt: Wie zahlt die Digitalisierung auf die aktuellen Kompetenzen des Unternehmens ein, welche Kompetenzen müssen noch aufgebaut oder gekauft werden? Das verlangt Fantasie und Selbstbewusstsein. Nur so lassen sich Marktentwicklungen und -chancen erkennen, die entscheidende Wettbewerbsvorteile bieten. „Dabei müssen wir auch bisherige Denkweisen und Modelle in Frage stellen und Grenzen überschreiten“, betont Markus Steilemann, Chief Commercial Officer von Covestro, der im Herbst an die Spitze des Unternehmens rücken wird. Es gilt also, nicht zu sehr in den eigenen Produkten zu denken, sondern vielmehr die Produkte zu sehen, die daraus entstehen, sowie das System zu betrachten. Wichtig ist bspw. nicht nur die technische Spezifikation des Kunststoffgranulats, aus dem Scheinwerfer entstehen. Wer das Granulat liefert, sollte auch darüber nachdenken, ob sich in Design und Funktion des Scheinwerfers auch Ansatzpunkte dafür finden lassen, wie er als Zulieferer seinem Industriekunden oder sogar dem Endverbraucher einen innovativen Mehrwert bieten könnte, der die eigene Position in der Lieferkette stärkt. Und zudem, ob dieses Wertversprechen nachweislich kreislaufwirtschaftliche Anforderungen erfüllt oder as-a-Service-Lösungen ermöglicht.

Viele Unternehmen begnügen sich mit Digitalisierung der Produktion

Über Phantasie und Selbstbewusstsein hinaus sind auch mutigere und schnellere Entscheidungen gefragt. Zwar wird in der Chemiebranche seit Jahren in verschiedene Richtungen experimentiert, wie eine erfolgreiche Digitalisierung aussehen könnte. Ambitionierte Investitionen flossen aber letztlich meistens in höhere Produktivität und bessere Prozesse – also die digital getriebene Optimierung der bestehenden Aktivitäten. Hier zeigen sich 92 % der Befragten sehr zufrieden mit dem Ergebnis, so eine Umfrage von Accenture für die Studie „Unlocking the Power of Digital in Plant Operations“ (Grafik 2). So wichtig solche Aktivitäten auch zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sein mögen, es geht dabei weiter ums klassische Mengengeschäft. Sie gehören zum ersten Horizont der Digitalisierung, dem Optimieren innerhalb des traditionellen Paradigmas.

Noch hat die Branche kaum Digital High Performer hervorgebracht

Dringend erforderlich sind auch schnelle und hohe Investitionen in Projekte für mehr Kundennähe sowie zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, also den zweiten Horizont der Digitalisierung – das Neuerfinden von Stoffkreisläufen, industrieübergreifenden Plattformen oder Services, die exponentielles Wachstum versprechen. Der Digital Performance Index zeigt, dass viele Chemiekonzerne derzeit Business Leader sind, mit guten Zahlen, aber ohne große Digitalisierungsambitionen. Einige sind Digital Leader, die sich bereits umfassender mit Digitalisierung beschäftigten, ohne daraus schon hohe finanzielle Vorteile zu ziehen. Und kaum einer erfüllt die Definition des Digital High Performers: Stark in der Digitalisierung und mit hoher Gewinnmarge, indem klassische Geschäfte gekonnt um neue Geschäftsmodelle ergänzt werden. Nur wer sich schnell sowie mit ausreichenden Investitionen in diese Richtung bewegt, wird zu den Gewinnern der Digitalisierung in der Chemiebranche zählen. Branchenweite Investitionen von 1 Mrd. EUR bis 2020, wie sie der VCI prognostiziert, werden dabei kaum genügen.
 

So sollten Chemiekonzerne die Digitalisierung angehen

„Sweet Spot“ finden: Chemiekonzerne müssen ihre Position innerhalb der Industrie genau analysieren und festlegen, mit welchen Kompetenzen und Partnern sie künftig welche Rolle spielen wollen. Daraus ergeben sich Netzwerke und Kooperationen, die zum Vorteil aller durchdacht gesteuert und weiterentwickelt werden müssen.

Digitalprojekte starten: Mithilfe digitaler Technologien lässt sich nach innen die Produktivität und nach außen die Kundenorientierung steigern. Diese Initiativen müssen um das Entwickeln neuer und vor allem Wertschöpfungsketten übergreifendender Geschäftsmodelle ergänzt werden, die bislang ungeahnte Wachstumsperspektiven bieten. Hier gilt es, offen für exponentielle Ideen zu sein und sie mit einem offenen Blick auf ihre Erfolgschancen beurteilen. Dabei hilft der Austausch mit bestehenden Partnern ebenso wie mit Startups oder potenziellen Partnern, auch aus ganz anderen Branchen.

Organisation vorbereiten: Voraussetzung jeder erfolgreichen Digitalisierung ist eine durchdachte Strategie, die der Vorstand der Belegschaft und dem Kaptalmarkt kraftvoll vermittelt. Investitionen in digitale Technologien rechnen sich nur, wenn die Mitarbeiter und Organisation zügig und konsequent entwickelt werden.

Cybersicherheit beachten: Digitalisierung erfordert den Anschluss aller Unternehmensbereiche ans Internet der Dinge, damit Daten ausgetauscht oder Services erbracht werden können. Verschmilzt die Steuerung einer Chemieanlage mit der klassischen kaufmännischen IT-Infrastruktur, muss sie bestmöglich gegen Cyberattacken geschützt werden.

 

 

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