Forschung & Innovation

Mikro- und ­Nanostrukturen in der Medizintechnik

Modulation von Bakterien und Zellen durch Ultra-Präzisions-Oberflächen

02.11.2023 - Zahlreiche lebende Organismen nutzen mikro- und nano­strukturierte Ober­flächen, um sich an ihre ­Umwelt anzupassen­. ­Solche Ober­flächen­strukturen haben eine nachweisliche Wirkung auf An­haftung, Zellwachstum und Zellsterben oder können antibakteriell wirken.

Auch künstlich hergestellte strukturierte Oberflächen können diese  Wirkungen hervorrufen. Das Fraunhofer IPT und das NMI beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit der Forschung im Bereich der Mikro- und Nano­strukturierung und deren Anwendungs­gebiete, wie dem Einsatz von Strukturen für Implantate oder der Herstellung von künstlichem Gewebe.

Zahlreiche Pflanzen und Lebewesen nutzen mikro- und nanostrukturierte Oberflächen, um mit ihrer Umwelt zu interagieren und sich an diese anzupassen. Solche Oberflächenstrukturen haben unter anderem eine nachweisliche Wirkung auf Anhaftung, Vermehrung oder Absterbeverhalten von Keimen und Erregern, sie können so bspw. antibakteriell wirken. Genauso reagieren menschliche Körperzellen auf die Geometrie ihrer Umgebung, in dem sie bestimmte Eigenschaften ausbilden. Auch künstlich hergestellte mikro- und nanostrukturierte Oberflächen können unter bestimmten Bedingungen diese Wirkungen hervorrufen. Die Oberflächenstrukturierung auf industriellem Maßstab ist Gegenstand aktueller Forschung und birgt großes Potenzial aufgrund der vielseitigen Anwendungsbereiche in der Medizintechnik. Ziel dieser Forschung in dem Bereich der Herstellung von Implantaten, hygienischen Oberflächen und künstlichen Gewebe (Tissue Engineering) ist es, verbesserte Produkte und neue Therapiemethoden zu entwickeln.

Erhöhung der Lebensdauer von Implantaten durch Funk­tionalisierung

Beim Einbringen eines medizinischen Implantats reagieren die Zellen des menschlichen Körpers auf den Fremdkörper. Die genaue Reaktion ist von Mensch zu Mensch verschieden und hängt auch von den Charakteristiken des Implantats ab, ebenso spielen die chemische Zusammensetzung des Materials und die Beschaffenheit der Oberfläche eine große Rolle. Letzteres hat auch Einfluss auf die Aktivierung des Immunsystems, abhängig davon, ob Zellen eine eher bekannte oder unbekannte Oberflächenstruktur vorfinden. Die Aktivierung des Immunsystems äußert sich für den Patienten als Entzündungsreaktionen, die zu chronischen Entzündungen oder aseptischen Lockerungen des Implantats führen können. Folgeoperationen können notwendig werden.

Materialwissenschaft und ­Oberflächentechnik

Durch die Wahl geeigneter Materialien und Oberflächen kann die Biokompatibilität von Implantaten gesteigert werden. Aktuelle Forschungen haben das Ziel, die Immunantwort zu modulieren und so ein Abstoßen des Fremdkörpers zu verhindern. Ergebnisse zeigen, dass Mikro- und Nanostrukturen hohen Einfluss auf das Einwachsverhalten und die Gewebeheilung haben. Eine verbesserte Verträglichkeit und Langzeitstabilität von Implantaten könnte also durch geeignete Strukturierung erreicht werden. Daraus folgt eine erhöhte Patientensicherheit und ein Beitrag zur Reduktion der Kosten im Gesundheitssektors.

Die genauen Zusammenhänge zwischen einer Oberfläche und einem Organismus sind jedoch sehr material- und geometriespezifisch. Eine systemische Analyse war bislang nicht möglich und Wirkungen wurden ausschließlich für bestimmte, sehr abgegrenzte Bereiche, ausreichend beschrieben. Da Immunantworten je nach Patienten unterschiedlich sind, bedeutet das eine Vielzahl an nötigen Tests für eine bestimmte Kombination von Material und Struktur, ehe eine individuell haltbare Aussage getroffen werden kann. Oft scheitert die Oberflächenstrukturierung in der medizinischen Anwendung auch an der Herstellung der Geometrie, Übertragbarkeit in ein Zielmaterial oder an der kostengünstigen Vervielfältigung.

Herstellung und Charakterisierung von ­Mikro- und Nanostrukturen

Das Fraunhofer IPT beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit der Forschung im Bereich der Mikro- und Nanostrukturierung und mit deren Anwendungsgebieten. Neben Feinzerspanungstechniken, wie dem Ultra-Präzisionsdrehen oder dem Ultra-Präzisionsschneiden, werden am Standort in Aachen Laserablation und Zwei-Photonen Polymerisation eingesetzt. Diese Technologien bieten bei der Strukturerstellung hohe Designfreiheiten, dabei werden Auflösungen bis zu 100 nm erreicht. Um eine ausreichende Anzahl an Produkten mit Mikro- und Nanostrukturen zu versehen, wird ein großer Fokus auf die Replikation gelegt. Ziel weiterer Forschung ist die Herstellung und Bereitstellung von medizinisch relevanten Mikro- und Nanostrukturen im Bereich der Implantate, der Zellmanipulation und des Tissue Engineerings. Neue Produkte werden getestet sowie neue Prozessketten für eine kostengünstige Herstellung entwickelt.

Am NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut in Reutlingen können diese Strukturen physikochemisch analysiert werden. Dabei kommen etablierte Methoden wie z. B. die Photoelektronenspektroskopie (XPS), Weißlichtkonfokal-, Elektronenmikroskopie und die Messung der Oberflächenbenetzbarkeit zum Einsatz. Dies allein ist allerdings noch nicht ausreichend, da die gesammelten Oberflächen-Informationen mit immunbiologischen Daten korreliert werden müssen. Die Messung von Zytokinen, als wichtige Botenstoffe von peripheren Blutzellen oder speziell Makrophagen, lieferte im Leuchtturmprojekt Forschungscampus BioMedTech dazu interessante Erkenntnisse. Diese wurden bereits publiziert(1).

 

Tissue Engineering

Beim Tissue Engineering werden unter anderem Stammzellen aus Patienten entnommen und diese durch mehrstufige Prozesse in das gewünschte Gewebe differenziert. Hierbei spielen biologische und chemische Zusatzstoffe eine Rolle, um das Verhalten der Stammzellen gezielt zu steuern. Die Zusatzstoffe sind oft teuer und Rückstände können auf dem menschlichen Körper toxisch wirken. Um diese Nachteile zu umgehen, wird versucht, Zusatzstoffe durch den Einsatz von Mikro- und Nanostrukturen zu reduzieren, um die Zellen auf ähnliche Weise zu beeinflussen. Am Fraunhofer IPT wurde im Rahmen eines Kooperationsprojekts die Descemet Membrane, eine corneale Schicht des Auges, nachgebildet, die eine regenerative medizinische Behandlung von cornealer Blindheit ermöglichen soll. Die patentierte Struktur wurde mit Zwei-Photonen Polymerisation hergestellt und in ein biologisches Material übertragen, um eine mechanotransduktive Stimulation von Stammzellen zu erreichen. Ähnliche Ansätze werden für neuronale Zellen und Muskelzellen verfolgt.

Potenziale für die Wirtschaft

Die Medizintechnikbranche in Deutschland ist auch nach Angaben des Bundesverbands Medizintechnologie (BVMed) eine Schlüsselindus­trie mit hoher Innovationskraft. Diese Entwicklung birgt hohes Potenzial für neue Maschinenkonzepte und -umrüstungen für Hersteller von Ultra-Präzisionsanlagen. Die aktuell strengen regulatorischen Anforderungen in Deutschland stellen allerdings für Innovationen in Betrieben der Medizintechnik eine große Herausforderung dar. Die außeruniversitäre Forschung am Fraunhofer IPT und deren Partnern haben sich zum Ziel gesetzt, Unternehmen bei der Entwicklung neuer medizinischer Oberflächen zu unterstützen und Entwicklungszeiten zu verkürzen. Auch am NMI wurde in den letzten Jahren verstärkt regulatorisches Know-how aufgebaut, um durch das MDR & IVDR-Kompetenzzentrum Unternehmen bei der Umsetzung der neuen Medizinprodukteverordnung zu unterstützen. (Ergänzung der Redaktion: Europäische Verordnung für Medizinprodukte (MDR); Verordnung für In-vitro-Diagnostika (IVDR)).

Bessere Implantate durch ­Abformung und Personalisierung

Die Arbeiten zur Mikro- und Nanostrukturierung in der Medizin sind in manchen Bereichen fortgeschritten, in manchen stehen diese jedoch noch am Anfang. So ist die Übertragbarkeit bzw. Abformung der Struktur auf Implantate mit komplexen Formen, wie z. B. bei Zahnimplantaten mit Gewinden, eine aktuelle Herausforderung. Ein weiteres verfolgtes Ziel ist die personalisierte, medizinische Behandlung. Durch schnelle und günstige Tests sollen die immunologischen Wirkungen relevanter Strukturen auf den Patienten im Vorfeld einer Operation untersucht werden können. Die am besten geeignete Struktur könnte dann aus einem Repositorium ausgewählt werden und bspw. für die Modifikation eines Implantats verwendet werden. Dieses Vorgehen würde Behandlungen durch höhere Erfolgschancen deutlich verbessern und Kosten langfristig senken.

Referenzen:
(1) Segan S. et al. Systematic Investigation of Polyur­ethane Biomaterial Surface Roughness on Human Immune Responses in vitro, (2020) https://doi.org/10.1155/2020/3481549

Autorin/Autor

NMI   Hanna Hartmann, Bereichsleiterin Biomedizin und Material­wissenschaften NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches In­stitut, Reutlingen

Fraunhofer IPT   Andreas Ulm, Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT, Aachen

 

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