Anlagenbau & Prozesstechnik

MTP, Vernetzung und Industrie 4.0 in der Prozessindustrie

Das Potenzial der Digitalisierung im Anlagebau heben

29.06.2022 - In den letzten Jahren sind immer neue Schlagworte zur Beschreibung der Digitalisierung hinzugekommen: Big Data, Digitaler Zwilling, Künstliche Intelligenz oder Augmented Reality Aber welche Techniken werden die Prozessindustrie der Zukunft tatsächlich prägen?

Grundlage für die Vernetzung sind immer Datenmodelle. Ohne diese Basis wäre ein Austausch von Informationen zwischen verschiedenen Bereichen (maschinenlesbar) gar nicht machbar. Viele Initiativen, wie DEXPI und CFIHOS, kümmern sich darum, Datensilos aufzulösen sowie digitale Zwillinge und den Einsatz von künstlicher Intelligenz im produktiven Umfeld überhaupt zu ermöglichen.

Eine zentrale Herausforderung bei großen und komplexen Anlagen ist der Zugriff auf Daten im Betrieb. Die vorhandenen Datenkanäle werden für die Prozesssteuerung benötigt und eine Rückwirkung in die Regelkreise durch die Datenübertragung muss unbedingt vermieden werden. Hierfür wurde die NAMUR Open Architecture (NOA) entwickelt, die einen rückwirkungsfreien weiteren Kommunikationskanal ermöglicht.

Vernetzung und Flexibilität

Neben der Datenübertragung und der Kommunikation wird auch eine flexible Produktion immer wichtiger, bei der trotzdem alle Anlagenteile in den vernetzten Betrieb eingebunden sind. Mit klassischer Automationstechnik ist die Integration neuer Anlagenbestandteile sehr aufwendig. Hier bietet das Module Type Package (MTP) eine Art Druckertreiber für Komponenten und Anlagenteile, mit dem eine einfache Integration in einen übergeordneten Process Orchestration Layer (POL) möglich wird (Plug & Produce). MTP ist dabei nicht nur für Neuanlagen geeignet, sondern lässt sich auch in Bestandsanlagen nutzen, um neue Komponenten einzubinden.

Das Konzept ist dabei ein Paradigmenwechsel in der Anlagenplanung und -automatisierung: weg von der Spezifikation von Equipment hin zur Beschreibung von Funktionalitäten und Services. Ein Modul umfasst dann bspw. den Service „Dosieren“. Die Steuerung der einzelnen Pumpen, Ventile und die Regelkreise mit der Integration von Durchflussmessern und Füllstandsensoren ist in der Intelligenz des Moduls implementiert. Anstatt über ein Prozessleitsystem die Aktoren einzeln zu steuern, wird über die MTP-Schnittstelle lediglich die Dosierungsmenge oder -geschwindigkeit weitergegeben und die Regelung wird durch den integrierten Service übernommen. Eine Methode zum Planen von Modulen in Zusammenarbeit zwischen Equipmentlieferanten und Betreibern ist in einem aktuellen Progress Report von ProcessNet beschrieben. Ein Demonstrator, in dem dieser Prozess umgesetzt wurde, wird auf der Achema in der Sonderschau Modular & Open Production zu sehen sein.

Viele Grundlagen dieser Technologie werden und wurden in Projekten der ENPRO-Initiative entwickelt. Im Januar hat der vom BMWK geförderte Projektverbund in einem Bericht gezeigt, dass durch den Übergang zu kontinuierlichen Prozessen, Modularisierung und Digitalisierung eine Energieeinsparung von 3 TWh allein in der deutschen Prozessindustrie möglich ist.

Module in der Prozessentwicklung – Batch to Conti

Eine wesentliche Säule, um dieses Einsparpotenzial zu realisieren, ist der Übergang von Batch-Prozessen zu kontinuierlichen Verfahren. Durch das Verwenden von Standardmodulen lassen sich entsprechend kleinere und skalierbare kontinuierlich betriebene Apparate in der Prozessentwicklung einsetzen. Kontinuierliche Prozesse sind meist deutlich effizienter als Batchprozesse. Die nötige Pilotierung zur Übertragung der Batchergebnisse aus dem Labor auf einen kontinuierlichen Prozess wird jedoch häufig zur Hürde für den Einsatz dieser Apparate. Durch kontinuierlich betriebene Laborapparate lässt sich die Pilotierung deutlich reduzieren oder sogar vollständig vermeiden. In der ENPRO-Initiative wurden im Projekt TeiA deshalb neuartige, skalierbare Kristallisations- und Extraktionsapparate entwickelt. Im Projekt VoPa liegt der Fokus auf einer modular aufgebauten Filtrationsanlage.

Energieeffizienz durch Modularisierung

Die zweite Säule der Energieeffizienz ist die Modularisierung. Modulare Anlagen sind nicht per se effizient. Durch den Einsatz von Standardmodulen lässt sich die Produktion aber flexibilisieren. Die Module lassen sich angepasst an den jeweiligen Prozess zusammenstellen und durch die Schnittstellen schnell in die Automatisierung einbinden. Dies ermöglicht ein zügigeres Umstellen von Prozessen auf effizientere Verfahren.

Zur Auswahl der richtigen Module wurde im Projekt SkaMPi eine Methode für das Engineering entwickelt. In der Planung werden hierbei zunächst die Anforderungen formuliert, um dann in einer Moduldatenbank geeignete Module zu identifizieren. Diese Datenbank kann aus dem bereits aufgebauten eigenen Modulpark bestehen sowie verfügbare Module von Lieferanten umfassen. Auch wenn sich nicht alle benötigten Prozessschritte über vorhandene Module abbilden lassen, sorgt schon ein teilmodularer Aufbau für einen deutlichen Zeitgewinn bei Anlagenplanung, -bau und -automatisierung und damit für eine schnellere Umstellung auf effizientere Prozesse. Die mehrfache Verwendung von Apparaten bietet zudem deutliche Kostenvorteile und Energieeinsparung beim Anlagenbau.

Datenintegration und Digitaler Zwilling

Die dritte Säule der Energieeffizienz durch ENPRO ist die Datenintegration. Das volle Potenzial der Modularisierung wird erst durch die Vernetzung der Module und die Nutzung der verfügbaren Informationen erreicht. Für die Nutzung dieser Informationen sind, wie eingangs erwähnt, einheitliche Datenmodelle nötig, um Datensilos zu vermeiden. Neben dem im Projekt ORCA mitentwickelten Schnittstellenstandard MTP wurden dafür im Projekt ModuLA Datenmodelle für die Anlagen- und Prozessdaten im Lebenszyklus und entlang der Wertschöpfungskette entwickelt.

Module in der Intralogistik

Auch in der Produktionslogistik kann die Modularisierung zu erheblichen Beschleunigungen führen. Da in diesem Bereich häufig keine Prozessleitsysteme eingesetzt werden, die sich durch Orchestrierungslayer ersetzen lassen, muss die Herangehensweise für diesen Einsatz leicht angepasst werden. Die Umsetzung wird im Projekt MoProLog entwickelt. Auch hierzu ist ein Demonstrator auf dem Stand der Sonderschau Modular & Open Production zu sehen.

Sicherheit von Modulen

Die eigenständige Regelung der Module führt bei der Anlagensicherheit zu Fragestellungen im Bereich Safety und Security: Wie wird mit Fehlerzuständen umgegangen? Wie wird die Sicherheit der miteinander verschalteten Module gewährleistet? Erste Antworten darauf liefert das Projekt ORCA: Wenn die internen Sicherheitsmechanismen eines Moduls auslösen, müssen die benachbarten Module darüber informiert werden und ebenfalls in einen sicheren Zustand gebracht werden. Hierfür können Safety-Services von den Modulen bereitgestellt werden, die über einen Safety Orchestration Layer herstellerübergreifend mit anderen Teilen der modularen Anlage kommunizieren. Wie diese Sicherheit in der Praxis umgesetzt wird, ist in Zusammenarbeit mit dem Demonstrator von ProcessNet auf der Achema zu sehen.

Modularisierung in der Industriellen Praxis

Modulare Anlagen ermöglichen kürzere Prozessentwicklungszeiten und durch den Einsatz kontinuierlicher Apparate eine hohe Effizienz. Der hieraus entstehende Kostenvorteil ergibt sich jedoch erst über die Betriebszeit der Apparate. Die anfänglichen Investitionskosten sind höher als bei einer konventionellen Anlagenplanung. Da die Module für eine Wiederverwendung nicht auf spezifische Parameter designt werden können, sondern einen größeren Parameterraum abdecken müssen. Diese Kosten amortisieren sich bei mehrfacher Verwendung der Module. Auch die Planungsleistung kann für ähnliche Module wiederverwendet werden. Investitionskosten werden aber üblicherweise auf das aktuelle Projekt angerechnet und nicht auf optionale Prozesse, die in Zukunft möglich sein können. Das erfordert eine strategische Entscheidung für das Konzept der modularen Anlagen, um die Umsetzung unabhängig von Einzelprojekten zu ermöglichen.

Ende 2020 hat Merck bekanntgegeben, mit dem MPS-Projekt konsequent modular gehen zu wollen. Durch die Umstellung wird eine CO2-Einsparung von 30 % erwartet. Eine offene Frage beim Einsatz modularer Anlagen ist insbesondere die Genehmigung: Wenn die Neuanordnung von Modulen jedes Mal eine neue Genehmigung erfordert, geht der Vorteil der hohen Flexibilität verloren. Hierzu gibt es bereits einen Abstimmungsprozess mit Genehmigungsbehörden und Ministerien, um zu einer Lösung zu kommen, die die Bevölkerungs- und Arbeitsschutzpflicht des Immissionsschutzrechts und den Flexibilisierungsbedarf der Prozessindustrie zusammenbringt.

Die Zähmung von Big Data

In einer Produktionsanlage fallen riesige Mengen an Daten an. Diese Daten können zentral in einer Cloud weiterverarbeitet werden. Bei einer Cloud handelt es sich um einen Server, der von einem Serviceanbieter oder am eigenen Standort unter eigener Kontrolle betrieben werden kann. Bei zeitkritischen Auswertungen – etwa für modellprädiktive Regelung – oder wenn die Datenmengen so groß sind, dass eine Übertragung an einen Server nicht praktikabel ist, bietet sich eine anlagennahe Datenverarbeitung an (Edge Computing). Auch eine Datenaggregation und Vorverarbeitung in der Edge für eine anschließende Weiterverarbeitung in der Cloud ist möglich.

Für die Datenanalyse kommt häufig künstlichen Intelligenz (KI) zum Einsatz. Bei KI handelt es sich im Kern um eine sehr mächtige Form statistischer Analyse. Daher sind die erwähnten Datenmodelle sehr wichtig, um eine aufwendige Datenvorbereitung zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. KI-Modelle sind stark von den Trainingsdaten abhängig.

 

KI als Verstärkung der Anlagenfahrer und Ingenieure

Wie gut die Modelle außerhalb des Betriebsbereichs dieser Daten funktionieren, lässt sich schwer vorhersagen. Daher wird der Einsatz von KI-Anwendungen in der Anlagensteuerung primär als kognitiver Verstärker für die Anlagenfahrer und Ingenieure liegen. Ein Ersatz von menschlichem Personal durch diese neuen Tools ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Die Ingenieure bekommen aber ein neues, vielseitiges Tool in ihren digitalen Werkzeugkasten. Auch bei der Anlagenplanung und beim Engineering wird der Werkzeugkasten durch KI erweitert. Recommender Tools können hier z.B. Vorschläge machen, was wahrscheinliche benachbarte Baugruppen sind und so die Planungsprozesse deutlich beschleunigen. Ein weiterer Bereich sind Stoffdaten, bei denen bestehende Lücken in Datenbanken durch Matrixvervollständigungsalgorithmen geschlossen werden können. Alle diese Bereiche werden im Projekt KEEN entwickelt.

Digitalisierung ist kein Ziel, sondern ein Prozess

Digitalisierung und Vernetzung haben viele Facetten und entwickeln sich ständig weiter. Digitalisierung ist also nie abgeschlossen. Deshalb ist es wichtig, auch die eigene Belegschaft mitzunehmen und für Akzeptanz zu sorgen.

Insbesondere die Sorge davor, ersetzt zu werden, sollte ernst genommen werden: Denn auf absehbare Zeit werden Menschen bei Planung, Betrieb und Wartung von Produktionsanlagen nicht abgelöst. Ihre Arbeit wird sich aber wandeln und sie bekommen neue, digitale Werkzeuge an die Hand. Es sind also umfassende Weiterbildungskonzepte nötig, um den digitalen Wandel auch in der Belegschaft zu leben und der Digitalisierung zum Erfolg zu verhelfen.


Autor

ACHEMA-Stände zum Thema:

  • DEXPI & Friends, Halle 11.0, Stand F50 (Digital Innovation Zone)
  • KEEN – Künstliche Intelligenz in der Prozessindustrie, Halle 11.0, Stand F50 (Digital Innovation Zone)
  • Modular & Open Production, Halle 11.0, Stand G4

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