Anlagenbau & Prozesstechnik

Sensoren sind die Fenster in den Prozess

Präzise Messwerte - Grundlage für Datenverarbeitung und Visualisierung

10.12.2019 -

Wie können Feldgeräte die Transformation der Prozessindustrie in Richtung Industrie 4.0 unterstützen? Diese Frage steht im Mittelpunkt des CHEManager-Interviews mit Oliver K. Stöckl, der seit April 2019 Geschäftsführer von Endress+Hauser Deutschland ist. Das Gespräch führte Volker Oestreich.

CHEManager: Herr Stöckl, die Digitalisierung soll den Anlagenbetreibern der Prozessindustrie neue Möglichkeiten eröffnen – Buzzwords, Zukunftsvision oder greifbare Realität?
Oliver K. Stöckl:  Vieles ist für unsere Kunden schon heute greifbare Realität! Generell ist das Thema Digitalisierung von Anlagen nichts Neues, sondern schon seit vielen Jahren Alltag. Was mit Industrie 4.0 und dem Industrial Internet of Things jetzt jedoch neu hinzu  kommt, ist, dass sich alles untereinander verbinden und auswerten lässt. Endress+Hauser hat konkrete Anwendungen und Lösungen parat, um die bisher ungenutzten Daten produktiv nutzbar zu machen. Zum Beispiel nutzt das IIoT-Ökosystem Netilion bestimmte Sensor-Features der Heartbeat Technology, um Aussagen über den Gerätezustand zu machen. Gleichzeitig arbeiten wir mit Hochdruck an weiteren Anwendungsfeldern und neuen Technologien, die eher visionären Charakter haben. Hier binden wir auch unsere Kunden in die Entwicklung ein, damit wir einen klaren Fokus auf den praktischen Nutzen der Technologie für den Anwender haben.

Sensoren sind die Bindeglieder zwischen der realen Welt und ihrer digitalen Darstellung – wie können Feldgeräte die Transformation der Prozessindustrie zur Industrie 4.0 unterstützen?
O. Stöckl: Die Sensoren sind die Fenster in den Prozess. Präzise Messwerte sind die Grundlage für jede weitere Datenverarbeitung und -visualisierung. Messen wir ungenau und nehmen die ungenauen Messwerte als Basis für weitere Berechnungen, dann werden auch die Ergebnisse ungenau sein.
Außerdem liegen in den Messgeräten selbst weit mehr digitale Daten vor als die reinen Messwerte. Beispielsweise lässt sich aus einem Coriolis Durchflussmessgerät neben dem reinen Prozesswert auch die Schwingungsfrequenz des Rohres oder auch die Temperatur der Geräteelektronik etc. auslesen – damit Sie eine Größenordnung kriegen: bei einem Coriolis-Gerät sind ca. 700 Parameter bisher ungenutzt! Diese Daten können neben der Überwachung des aktuellen Zustands des Messgerätes auch für die vorausschauende Wartung herangezogen werden – eine Möglichkeit, die der Anlagenbetreiber so vorher nicht hatte.
Weil zum Beispiel unser IIoT-Ökosystem Netilion mit sehr überschaubarem Aufwand in die meisten bestehenden Anlagen nachgerüstet werden kann, sind die Hürden zum Einstieg in die Industrie 4.0 sehr niedrig. Es bedarf hierzu lediglich eines digitalen Kommunikationskanals wie HART oder Profibus, viele Messstellen können auch nachträglich mit drahtlosen Schnittstellen wie WirelessHart, WLAN oder Bluetooth nachgerüstet werden.
Das Bewusstsein des Anwenders, einhergehend mit der Motivation, die gegebenen Möglichkeiten auch wirklich zu nutzen, ist schon der erste notwendige Schritt in Richtung Industrie 4.0 in der Prozessindustrie.

Wie genau kann Endress+Hauser die Prozessautomatisierer bei den von der NAMUR angestoßenen Themen NOA und MTP unterstützen und wie beurteilen Sie die Kompatibilität bzw. Konkurrenz zu den Vorschlägen des Open Process Automation Forum OPAF?
O. Stöckl: Wir unterstützen seit jeher alle in der Prozessautomatisierung relevanten Standards und setzen auf Offenheit und Interoperabilität. Dies geht mit einem nicht zu unterschätzenden Aufwand in Bezug auf Interoperabilitätstests, Entwicklung von Gerätebeschreibungsdateien und das Testen der Integration der Geräte in den unterschiedlichsten Leitsystemen einher. Hierzu hat Endress+Hauser vor fünf Jahren bereits ein Partnerprogramm namens Open Integration mit 12 weiteren Teilnehmern gegründet.
Damit haben wir uns über die Jahre ein riesiges Verständnis für die Welt der industriellen Kommunikation angereichert, welches wir nun im Zusammenspiel mit beispielsweise dem NOA-Konzept vollumfänglich nutzen können. So sind wir auch in den MTP- sowie NOA-Arbeitsgruppen der ­NAMUR vertreten und entwickeln die Standards von vorneherein mit. Des Weiteren berücksichtigen unsere aktuellen Netilion-Lösungen grundlegend die Vorgaben des NOA-Konzepts, indem zum Beispiel relevante Sensordaten über einen zweiten, parallelen Kanal sicher an der Prozess­automatisierung vorbeigeschleust werden.
Die OPAF-Architektur spricht nicht von einem zweiten Kanal für neue Digitalisierungslösungen, sondern fokussiert sich auf eine offene und interoperable Automatisierungswelt, in welcher neue Automatisierungslösungen einfach integriert und gepflegt werden können. Da die Landschaft im Bereich der Prozessautomation aktuell sehr heterogen ist, benötigt es hierfür wiederum einen Partner wie Endress+Hauser, der sich mit den unterschiedlichsten Netzwerkarchitekturen auskennt.
Im Zuge unserer Digitalisierungsinitiativen mit SAP wurde auch die Initiative Open Industry 4.0 Alliance ins Leben gerufen. Ziel dieser Allianz ist es, die Digitalisierung in Fabriken, Verarbeitungsbetrieben und in der Logistik voranzutreiben. Gemeinsam mit verschiedensten Industriepartnern werden Lösungen entwickelt, welche sowohl in OT- als auch in IT-Umgebungen interoperabel genutzt werden können. Die neu entstehenden Lösungen sollen sowohl in einer NOA als auch in einer OPAF-Architektur eingesetzt werden können.

„In den Messgeräten liegen weit mehr digitale Daten vor
als nur die reinen Messwerte.“

Wie lassen sich Cloud-Technologien in der Prozesstechnik einsetzen, welche Vorteile ergeben sich daraus und ist die Prozessindustrie überhaupt schon bereit dafür?
O. Stöckl: Der Einsatz von Cloud-basierten Plattformen ist der „Enabler“ für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Hier können skalierbare Anwendungen basierend auf firmenübergreifenden Informationen entstehen.  Betrachtet man es zunächst im Gesamtkontext, wird der Nutzen zur Optimierung der Instandhaltungstätigkeiten vom Anwender zwar schon erkannt, aber die praktische Implementierung von Cloud-Technologien setzt eine Art Paradigmenwechsel voraus.
Es zeichnet sich bereits jetzt eine höhere Anwenderakzeptanz ab und einzelne Cloud-basierte Use-­Cases werden bereits realisiert. Der Einsatz von Cloud-Technologien wird auch in der NOA-Architektur beschrieben, um die Prozesse zu monitoren und zu optimieren. Der Nutzen der vernetzten Systeme, angefangen bei intelligenten Assets, repräsentiert durch deren Digital Twin, bis hin zu noch transparenteren Betriebsdaten aus Maschinen und Anlagen, ergibt sich nicht ausschließlich über eine Cloud. Hier bringt eine Cloud-to-Cloud-Anbindung die Flexibilität mit, um kundenspezifische Anforderungen abzubilden.

Erste konkrete Applikationen finden sich ja meistens in den Bereichen Asset Management und Maintenance – sind das auch für Endress+Hauser Einstiegsfelder, um den Industrie 4.0-Gedanken bei Kunden zu etablieren?
O. Stöckl: Mit dem IIoT-Ökosystem Netilion und dessen Online-Anwendungen Analytics, Health und Library zielen wir klar auf eine Optimierung der Wartung und Instandhaltung ab. Mit dem Slogan #empowerthefield zeigen wir unseren Kunden, wie die Potenziale der Feldebene genutzt werden können. Die Heartbeat Technology mit den drei Säulen Diagnose, Verifikation und Monitoring bietet Konzepte, um die Anlagensicherheit und die Anlagenverfügbarkeit zu steigern, wiederkehrende Prüfungen zu vereinfachen, systematische Fehler zu vermeiden oder den Dokumentationsaufwand zu vermindern. Durch die Netilion Onlinedienste und mobile Wartungstools wie das Ex-fähige Industrietablet SMT7x werden die Mehrwerte überall und jederzeit zugänglich gemacht.

„Eine stärkere Security-Härtung der Feldgeräte auf Basis der IEC 62443
ist fester Bestandteil  der Softwareentwicklung.“

Kürzlich hat Endress+Hauser die Kooperation mit der Deutsche Telekom beim Thema 5G-Campus-Netzwerke bekannt gegeben. Was ist das Ziel dieser Kooperation?
O. Stöckl: 5G ist eine Schlüsseltechnologie, um das Thema Industrie 4.0 voranzubringen – vor allem in der Fabrik-, aber auch in der Prozess­automatisierung. Zusammen mit der Deutschen Telekom und anderen Industrie- und Technologiepartnern möchten wir hier gemeinsam voneinander lernen und gegenseitig unsere jeweiligen Kompetenzen nutzen. Wir selbst sind dabei, die ersten Messgeräte mit integrierter 5G-Konnektivität auf den Markt zu bringen. Es gibt auch schon Prototypen für Gateways, die bestehende Anlagen in 5G-Campus-Netzwerke integrieren können. Jetzt möchten wir mit unseren Kooperationspartnern in konkreten Projekten und Pilot-Installationen bei Kunden die notwendige Erfahrung für den breiten Einsatz der 5G-Technologie sammeln.

Durchgängige und übergreifende Konnektivität und Vernetzung birgt viele Chancen, aber auch Risiken: Die Herausforderungen der Cyber-Security sind komplex. Wie ist dem beizukommen?
O. Stöckl: Laut NOA soll eine parallele Infrastruktur genutzt werden, um einen Daten-Einbahnstraße Richtung Cloud-Plattform zu realisieren. Wir bieten hierfür Systemkomponenten, welche eine sichere Datenübertragung sowie Datenhaltung ermöglichen. Diese Sicherheitsfunktionen werden regelmäßig von einem unabhängigen Dienstleister auditiert. Auch das Vorhandensein einer Netzwerkinfrastruktur angelehnt an die IEC 62443 Empfehlungen ist für den Betreiber ein weiterer sinnvoller Schritt, um die Automatisierungslandschaften sicherer zu gestalten.
Endress+Hauser bringt zusätzliche Sicherheits-Features in die Feldgeräte ein, um den Sicherheitsanforderungen für den Einsatz in der Industrie 4.0 vernetzten Prozessindustrie gerecht zu werden. Die Aktivitäten diesbezüglich sind sehr vielschichtig. Zum Beispiel wird eine stärkere Härtung der Feldgeräte auf Basis der Security Anforderungs-Spezifikation aus der IEC 62443 als fester Bestandteil während der Softwareentwicklung vorgenommen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal den Bogen zur Sensorik schließen: Die Prozessindustrie ist ja eigentlich weniger an der Messung von physikalischen Sekundärgrößen wie Temperatur oder Druck interessiert, sondern an Online-Messungen der stofflichen Zusammensetzung, zum Beispiel mit Raman-Spektroskopie. Was können die Anwender da heute schon oder in naher Zukunft erwarten?
O. Stöckl: Weil wir hier noch ein großes Potenzial sehen, haben wir in den letzten Jahren durch Akquisitionen fortschrittliche Technologien zur Analyse und Messung von Qualitätsparametern ins Haus geholt. Und so langsam nimmt unsere Vision auch Gestalt an. Wir haben die Zeit genutzt, um die ersten Produkte reif zu machen für die harten Anforderungen der Prozessindustrie und uns vertrieblich gut für dieses anspruchsvolle Geschäft aufzustellen. 2020 kommt der erste Sensor unserer neuen Inline-Spektrometer-Linie auf den Markt, mit Memosens-Technologie und voll in unsere Liquiline-Plattform integriert. Er misst im sichtbaren Spektrum, was für die Lebensmittelindustrie, aber auch für Chemie oder Öl und Gas spannend ist. Wir werden einen Feuchte-Sensor für Feststoffe bekommen, der sich in der Grundstoff- und Metallindustrie gut einsetzen lässt. Und nach den Life Sciences entdeckt jetzt auch die chemische Industrie die Möglichkeiten unserer Raman-Spektrometer. Wir haben Experten für diese fortschrittlichen Analyseverfahren bei uns im Vertrieb installiert und mit dem European Advanced Analyzer Center in Lyon die nötigen Supportstrukturen geschaffen. Das Thema wird in den nächsten Jahren noch richtig Fahrt aufnehmen!