Märkte & Unternehmen

Der Wettlauf um grüne Alltagsprodukte hat begonnen

Unternehmen müssen jetzt handeln, um langfristig den kostengünstigen Zugang zu nachhaltigen Rohstoffen sicherzustellen

23.02.2023 - Grüne Alltagsprodukte können schon heute einen wichtigen Beitrag leisten, um klimaneutral zu werden und die Umwelt besser zu schützen. Um Alltagsprodukte grün zu machen, müssten die Treibhausgasemissionen in diesen Produkten stark reduziert werden. Dies ist technisch heute schon machbar – aber nicht für alle Produkte und alle Unternehmen gleichzeitig.

Es geht: Alltagsprodukte können heute schon grün sein. Die Skalierung ist jedoch eine Herausforderung, denn die Nachfrage nach grünen Rohmaterialien wird bald das Angebot übersteigen.

Der European Green Deal der EU-Kommission hat Unternehmen und Regierungen zu weitreichenden Zusagen verpflichtet und es geschafft, das bisher weit entfernt scheinende Ziel der Klimaneutralität in das Hier und Jetzt zu holen – mit der Reduktion der Treibhausgas­emissionen als erstem verbindlichen Meilenstein bis 2030.

Um mehr Klarheit darüber zu gewinnen, was aktuell realisierbar ist und wie sich diese Umweltziele in die Praxis umsetzen lassen, haben wir in einer aktuellen Studie eine Vielzahl an Alltagsprodukten analysiert und untersucht, inwieweit Treibhausgase (THG) in ihnen „verpackt“ sind. Anschließend überlegten wir, wie sich die Emissionen vermeiden lassen, um die Produkte mit den verfügbaren Prozessen und Technologien „grün“ – also emissionsfrei – zu bekommen, ohne Änderungen am Produktdesign vorzunehmen.

Grüne Produkte: machbar, aber (noch) nicht skalierbar

Im Rahmen unserer Analyse kristallisierten sich drei Kernfragen heraus, hier illustriert am Beispiel eines Sportschuhs: 1. Können grüne Produkte mit den vorhandenen Technologien und Materialien produziert werden? 2. Welche Kosten verursacht die Verringerung der Emissionen? 3. Was sind die limitierenden Faktoren?

 

„Die Nachfrage nach grünen Materialien wird bald das Angebot übersteigen.“

 



Die Antwort auf die erste Frage – Können grüne Produkte mit den vorhandenen Technologien und Materialien produziert werden? – lautet ja. Denn Hersteller können weitgehend auf den bestehenden Materialbaukasten zurückgreifen – jedoch unter grünen Vorzeichen. Das erfordert ein tiefes Verständnis der Wertschöpfungsketten: Bei Sportschuhen entstehen 30 % der THG-Emissionen bei der Produktion selbst (mit der Verwendung erneuerbarer Energien als entscheidendem Vermeidungshebel). Weitere 10 % stammen aus Transport und Verpackung. Der Löwenanteil von 60 % aber entfällt auf die mehr als 50 Produktionsschritte für die sechs wichtigsten Rohmaterialien wie z. B. Methylendiphenylisocyanate, kurz MDI. Tatsächlich können sie auch heute schon auf Netto-­Null-Emissionen gebracht werden (oder sogar darunter). Zu den wichtigsten Hebeln zählen gesteigerte Energieeffizienz, die konsequente Verwendung erneuerbarer Energien, Vermeidung von Prozessemissionen und die Nutzung von erneuerbaren oder recycelten Rohmaterialien.

Die zweite Frage – Welche Kosten verursacht die Verringerung der Emissionen? – lässt sich nicht eindeutig beantworten. Die Kosten der einzelnen Dekarbonisierungshebel können von nahe Null bis zu mehreren Hundert Euro pro vermiedener Tonne THG reichen. Doch insgesamt verteuert sich das Produkt nur inkrementell. Bei einem Sportschuh mit einem Ladenpreis von 100 EUR betragen die Zusatzkosten weniger als 5 %; über alle Warengruppen hinweg liegen sie bei durchschnittlich 5 bis 10 %.

Und die Antwort auf Frage 3 – Was sind die limitierenden Faktoren? – ist mehrschichtig. Gegenwärtig besteht der limitierende Faktor für emissionsfreie Produkte nicht in der prinzipiellen Verfügbarkeit von grünen Materialien, sondern vor allem im mangelnden Verständnis und fehlender Orchestrierung der (typischerweise sehr langen) Wertschöpfungsketten. Um das Problem zu lösen, braucht es verlässliche Emissionsdaten, einschlägiges Wissen um die Umsetzbarkeit, Wirkung und Kosten der einzelnen Reduktionshebel in jeder Kette. Und schlussendlich braucht es die Fähigkeit, diese Hebel so zu kombinieren und zu orchestrieren, dass am Ende ein emissionsfreies Produkt entsteht

Wiederum illustriert am Beispiel des Sportschuhs und explizit des Rohstoffs MDI als einer seiner Kernkomponenten: Um zu emissionsfreiem MDI zu kommen, müsste ein grüner Rohstoff (z. B. Bionaphtha der 2. Generation) durch eine Sequenz THG-freier Prozessschritte verschiedener Hersteller „gedrückt“ werden, bis er schließlich als THG-neutrales MDI bei der Schuhfertigung ankommt. Solche Ketten müssten für jedes Produkt designt werden.
Das Problem: Aktuell verantworten die einzelnen Akteure in der Wertschöpfungskette jeweils nur einen Bruchteil der Lösung. Viele warten ab, bis jemand die Federführung dabei übernimmt, emissionsfreie Alltagsprodukte zu entwickeln, in erforderliche Rohstoffe zu investieren oder emissionsfreie, aber kostenintensivere Zwischenprodukte herzustellen. So wartet letztlich noch (fast) jeder auf jeden. Ein praktischer Weg, um mehr Dynamik zu erzeugen, wäre die Kennzeichnung der THG-Fußabdrücke von Endprodukten – ähnlich dem Flottenverbrauch in der Automobilindustrie. Dies würde Unternehmen in der Wertschöpfungskette dazu zwingen, Emissionen umfassend zu messen und entsprechend zu reduzieren. Zu klären wäre dafür, welche Rolle erneuerbare Rohstoffe und zirkuläre Lösungen spielen sollen: Gelten biobasierte und/oder recycelte Materialien als Teil der Lösung für grünere Produkte, müssen diese auch in den THG-Fußabdrücken bilanzierbar sein.

 

 

“Recycelte Rohstoffe decken aktuell weniger als 0,1%
des globalen Rohstoffbedarfs ab;
bis 2030 werden es voraussichtlich nicht mehr als 5% sein“

 


Auf längere Sicht wird dann die Skalierbarkeit zum limitierenden Faktor – insbesondere von nachhaltigen Rohstoffen. Während die EU den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung bis 2030 auf 40 % oder gar 45 % erhöhen will (derzeit liegen wir bei 20 – 25 %), decken recycelte Rohstoffe aktuell weniger als 0,1 % des globalen Rohstoffbedarfs ab; bis 2030 werden es voraussichtlich nicht mehr als 5 % sein.

Für die industrielle Praxis bedeutet das: Wir haben zwar schon heute den Werkzeugkasten, um nahezu jedes Alltagsprodukt emissionsfrei herstellen zu können. Doch es wird uns wegen der mangelnden Verfügbarkeit entsprechender grüner Materialien nicht für alle Produkte gleichzeitig gelingen. Dies hat für Unternehmen entscheidende Konsequenzen, wenn sie die selbst gesteckten oder vorgegebenen Klimaziele erreichen wollen.

Jetzt schnell die Pole Position sichern

Vergleicht man die grünen Ziele und Verpflichtungen von Politik und Unternehmen mit dem aktuellen und geplanten Angebot von erneuerbaren Rohstoffen, zeigt sich ein enormes Ungleichgewicht. Die derzeitigen Zusagen von Unternehmen erfordern eine Reduktion der Treibhausgase um geschätzt 340 Mio. t bis 2030 – wenn das 1,5-Grad-Klimaziel erreicht werden soll, sogar um 540 Mio. t. Die derzeitige, von der EU in Aussicht gestellte angebotsseitige Ambition deckt aber nur maximal 160 Mio. t der notwendigen Reduktionen ab, wenn alle anderen Dekarbonisierungsziele auch erreicht werden sollen, z. B. bei der Energieversorgung und im Gebäudesektor. Diese Mangelsituation hätte für viele grüne(re) Produkte und Rohstoffe eine Preiserhöhung zur Folge, und der oben erwähnte Aufschlag von 5 – 10 % für die Verbraucher würde deutlich steigen, während sich umgekehrt für Unternehmen mit einem „grünen“ Werkzeugkasten äußerst attraktive Ertragsmöglichkeiten böten. Das zeichnet sich schon heute durch signifikante Preisaufschläge für einzelne grüne Materialien ab.

Somit wird neben der Skalierung die Sicherung des kostengünstigen Zugangs zu grünen Rohstoffen der wichtigste Erfolgsfaktor sein, um die grünen Ziele zu erreichen. Unternehmen können sich hier jetzt noch eine gute Ausgangposition verschaffen. Gelingt es ihnen, einen der begehrten Startplätze zu geringen (idealerweise heutigen) Kosten zu ergattern, werden sie überproportional profitieren und zu den Gewinnern des Green Deal gehören. Dazu braucht es allerdings proaktive Ansätze zur Integration der Wertschöpfungsketten. Erste Vorreiter gibt es schon: Automobilhersteller sichern sich Zugang zu grünem Stahl, Einzelhändler und Markenhersteller investieren in industrielle und chemische Recyclinganlagen und Unternehmen diverser Branchen bauen selbst ihre Quellen für erneuerbare Energien. Nachzügler dagegen werden die Preisaufschläge auf knappe grüne Rohstoffe (er)tragen müssen, bevor Angebot und Nachfrage grüner Produkte wieder ins Gleichgewicht kommen – sei es durch Innovationen oder massiven Ausbau von Kapazitäten für emissionsarme Rohstoffe und Energien.

Um Europas Ziele für grünere Produkte rasch und möglichst kosteneffektiv zu erreichen, bedarf es jenseits unternehmerischer Einzelaktivitäten zudem einer branchenübergreifenden Initiative entlang der beschriebenen Wertschöpfungsketten und deren Orchestrierung.

Da Chemikalien mehr als zwei Drittel der Substanzen in unseren Alltagsprodukten ausmachen, wird die chemische Industrie ein entscheidender Wegbereiter aller „Greenification“-Maßnahmen sein. Wir schätzen, dass die Branche allein in Europa für die Neugestaltung von Chemikalien und deren Produktionsprozessen bei der Herstellung von Alltagsprodukten mindestens 230 Mrd. EUR investieren muss; das entspricht der Höhe ihrer jährlichen Bruttowertschöpfung im Jahr 2021. Ein wesentlicher Baustein, um diese Investitionen attraktiv zu machen, ist die verlässliche Dokumentation aller THG-Fußabdrücke – auch von außerhalb der EU hergestellten Produkten, da es unmöglich sein wird, diese an den Grenzen zu überprüfen.

Fazit

Geschwindigkeit zählt – nicht nur, um die ehrgeizigen Zeitpläne einzuhalten, sondern erst recht, wenn Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil in einem Umfeld erzielen wollen, in dem die Nachfrage nach grünen Materialien bald das Angebot übersteigen wird. Voraussetzung dafür sind ein umfassendes Verständnis der relevanten Wertschöpfungsketten und die Fähigkeit als Unternehmen, diese Ketten für jedes einzelne Alltagsprodukt neu „grün“ zu denken und zu gestalten.


Autoren: Thomas Weskamp, Senior
Partner, McKinsey & Company, Köln, und Christof Witte, Partner, McKinsey & Company, Berlin

ZUR PERSON
Thomas Weskamp ist Senior Partner im Kölner Büro und Kernmitglied des Chemiesektors von McKinsey & Company. Seit mehr als 20 Jahren berät er Chemieunternehmen sowie aktuell auch den Konsumgütersektor zu Net-Zero-Ansätzen und Nachhaltigkeit. Vor seiner Beratungslaufbahn war der promovierte Chemiker bei einem Startup-Unternehmen in den USA tätig. Sein Studium absolvierte Thomas Weskamp an der Universität Regensburg und der TU München.

ZUR PERSON
Christof Witte ist Partner im Berliner Büro und Kernmitglied des Chemiesektors von McKinsey & Company. Zu seinen Beratungsschwerpunkten zählen Nachhaltigkeitsthemen über alle Industrien hinweg. Vor seinem Eintritt bei McKinsey forschte er am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. Sein Physikstudium absolvierte Christof Witte an der Universität Cambridge und promovierte anschließend an der Humboldt Universität Berlin.

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