Chemie & Life Sciences

Die Chemische Industrie heute und morgen

Schnappschüsse und Perspektiven einer dynamischen und innovativen Branche im Wandel

06.09.2016 -

Die Chemische Industrie ist zugleich eine der größten, aber auch am meisten diversifizierten und heterogensten Branchen der Welt. Sie besteht aus Hunderten von Segmenten und es fällt schwer, eine präzise Angabe bezüglich der Zahl ihrer Produkte zu machen. Schätzungen sprechen von mehr als 80.000 verschiedenen Produktlinien für alle Unternehmen weltweit. Alle Segmente zusammengenommen umfasst die Chemiebranche alleine mehr als 1.000 große und mittelständische Unternehmen sowie eine noch größere Anzahl von kleinen Unternehmen.

Die Chemieindustrie ist mit nahezu jeder anderen industriellen Branche eng verwoben und dabei „selbst ihr größter Kunde“. Als Zulieferer dient sie bspw. der Agrar-, der Nahrungsmittel-, der Kunststoff– oder der Halbleiterindustrie und ist somit an der Herstellung von so unterschiedlichen Produkten wie Fruchtsäften, Fußbällen und Flachbildschirmen beteiligt. Es verwundert daher nicht, dass ihre Wachstumspotenziale generell eng an die Entwicklung des weltweiten Bruttosozialproduktes (insbesondere dessen auf den Industriesektor fallenden Anteil) gekoppelt sind.

Aufgrund der ausgeprägten Diversifizierung bietet die chemische Industrie auf den ersten Blick auf der Ebene der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen nur wenig Potenzial für Überraschungen. Ein Börsenanalyst bezeichnete die Chemiebranche daher 1999 zu den Hochzeiten der „New Economy“ als „nicht sexy“ bzw. als „Stahlbranche des 20. Jahrhunderts“. Andererseits leuchtet ein, dass – auf der Ebene der mikroökonomischen Wachstumsimpulse – die chemische Industrie (eben als der bedeutendste Zulieferer andere Industrien) stets auch „Innovationsmotor“ für andere Branchen war und ist.

Chemie ist nicht gleich Chemie

Bei näherer Betrachtung muss man freilich konstatieren, dass man mit Blick auf die chemische Industrie nicht von einer homogenen Branche sprechen kann. Sie besteht vielmehr aus mehreren „Mini-Industrien“, die alle für sich genommen unterschiedlichen strategischen Rahmenbedingungen folgen. Die ausgesprochene Fragmentierung der Chemieindustrie kann durch einen Vergleich des Umsatzanteils der jeweils zehn größten Unternehmen einer Branche an deren Gesamtbranchenumsatz veranschaulicht werden: Die Top 10 der Chemiebranche repräsentieren gerade einmal 15 % ihres Gesamtumsatzes, weitaus höhere Konzentrationsgrade weisen die Automobilindustrie (60% Umsatzanteil der Top 10), die Pharmaindustrie (51%), oder die Mineralölindustrie (67%) auf. Dies liegt vornehmlich darin begründet, das sich verschiedenste Wettbewerbsnischen innerhalb der chemischen Industrie herausgebildet haben, die sich im wesentlichen drei generischen Strategien zuweisen lassen.

Im Falle der „Commodity Chemicals“ steht für den Kunden der Kauf einer spezifischen chemischen Verbindung im Vordergrund, es handelt sich in der Regel um großvolumige Produkte, die in kontinuierlichen Produktionsprozessen produziert werden. Strategische Wettbewerbsvorteile sind hier das Ausnutzen von „Economy of Scale“ (Kostendegression bei höheren Produktionsmengen), „Economy of Scope“ (Vorteile des Verbundes – auch im übertragenen Sinne) sowie weitere Komponenten, die zu einer optimalen Kostenstruktur beitragen könne, wie etwa der Zugang zu günstigen Rotstoffen.

Im Falle von „Specialty Chemicals“ (Spezialchemikalien) steht für den Kunden weniger der Kauf einer spezifischen chemischen Verbindung im Vordergrund, sondern eine Lösung zu einem Problem. Spezifische Wettbewerbsvorteile für Hersteller solcher „Performance Materials“ – oder auch „Magic Ingredients“ – sind hier entweder „Product Excellence“ (vornehmlich untermauert durch Patente) oder Customer Intimacy (im Sinne von „maßgeschneiderten Lösungen“).

Eine hybride Stellung zwischen Commodities und Spezialchemikalien nehmen Feinchemikalien ein, denn hier kauft der Kunde zwar eine spezifische, definierte chemische Verbindung, jedoch sind die kaufentscheidenden Kriterien nicht alleine der Preis (wie bei den Commodities), sondern auch andere Aspekte wie die Verfügbarkeit einer breiten Technologieplattform und die langfristige Gewährleistung der Produktqualität.

Innerhalb einer „Mini-Industrie“ finden sich natürlich auch ähnlich hohe Konzentrationsgrade in Bezug auf den Umsatzanteil der TOP 10-Unternehmen wie in den oben genannten „homogenen“ Branchen.

Dislozierte Wertschöpfungsketten

Die Chemiebranche ist ausgesprochen globalisiert und die geographischen Wachstumszentren haben sich in den letzten drei Dekaden gravierend verschoben: Vom gesamten Produktionsvolumen der chemischen Industrie wurde 2015 exakt ein Drittel in China hergestellt (1991 war dieser Anteil am Produktionsausstoß nur 3,1%). Historisch gesehen ist diese Entwicklung aber eine Angleichung an die über Jahrhunderte währenden wirtschaftlichen Epochen vor der industriellen Revolution, in denen auf China eben gut ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung entfiel.

Im Vergleich zu anderen Branchen ist die globale Vernetzung im Produktionsprozess jedoch auffallend gering: Insbesondere im Hochtechnologiebereich werden klassische (lokalen) Cluster heutzutage immer häufiger von virtuellen Clustern abgelöst, da hier die Logistikkosten keinen großen Einfluss auf die Gesamtkosten haben. Dies gilt insbesondere für Systeme, die sich aus klar abgegrenzten Komponenten oder Modulen herstellen lassen, deren funktionales Zusammenwirken durch „Schnittstellen“ – sei es im engeren oder im weiteren Sinne – eindeutig beschrieben werden kann (man denke etwa an das iPhone). Die räumliche Nähe der Partner zueinander wird zweitrangig – im Falle des iPhones spricht man mitunter auch von einer „dislozierten Wertschöpfungskette“. Die Nutzung der Standortvorteile auf globaler Ebene rückt dann in den Mittelpunkt und erhöht so das Spektrum an potenziellen Partnern in einem Cluster. In der Chemiebranche sind solche virtuellen Cluster (noch) wenig verbreitet. Möglicherweise hat dies gute Gründe, insbesondere weil dort unter dem Aspekt „Minimierung der Produktionskosten“ oft die Logistikkosten stärker ins Gewicht fallen, und unter dem Aspekt „Innovation“ die Produktlebenszyklen in der Regel länger sind als etwa in der Unterhaltungselektronik.

Viele zukünftige Innovationen im Bereich innovativer Materialien basierten eben nicht auf isoliert zu entwickelnden Komponenten oder Modulen, sondern auf integrierten und systemischen Lösungen – mit der Konsequenz, dass sich Einzelkomponenten nur bei Beherrschung des gesamten Prozesses optimieren lassen. Langfristige Kooperationen setzten darüber hinaus ein großes Vertrauen der Partner zueinander voraus, und dieses lässt sich „vor Ort“ besser aufbauen als „virtuell“.

Die „ruhigen Zeiten“ sind vorbei

Wie jede andere „reife“ Industrie hat auch die chemische Industrie verschiedene Entwicklungsstufen durchschritten: angefangen von ihrer Gründung um 1860 – charakterisiert von den ersten wissenschaftlichen Durchbrüchen im Labor über die Phasen der zunehmenden Diversifikation (mit dem Übergang vom Labor zur Produktion), der Expansion (insbesondere verbunden mit dem Siegeszug der Massenkunststoffe) bis hin zur Reife (der Beginn dieser Phase wird oftmals mit dem Erdölschock assoziiert) und der nachfolgenden Phase der rapiden Strukturumbrüche, die ihren Beginn in dem Mega-Merger der beiden Schweizer Chemie- und Pharmakonzerne Sandoz und Ciba-Geigy und der Aufspaltung der britischen ICI nahm und die noch bis heute andauert. Unter dem Titel „Die ruhigen Zeiten sind vorbei“ konstatierte im Jahre 1997 das Magazin „Der Spiegel“ in einem Artikel über die chemisch pharmazeutische Industrie: „[…] die deutschen Chemiekonzerne werden radikal umgebaut, die Chefs von Bayer, Hoechst und BASF orientieren sich nicht mehr an Traditionen, sondern allein an Zahlen. […] Nun werden allenthalben die verkrusteten Strukturen aufgesprengt.“

In der Tat sind die „ruhigen Zeiten“ vorbei, und dies betrifft nicht nur die strukturellen Veränderungen der Chemiebranche, sondern auch deren Wertschöpfungsprozesse und Geschäftsmodelle, die sich unter der schönen doppelten Alliteration „from materials and molecules to systems and solutions“ zusammenfassen lassen: Die Ära, in welcher das Geschäftsmodell des „de-novo-designs“ neuer Materialien und Moleküle im Vordergrund stand und so „Blockbuster“ wie PVC, Persil und Penicillin hervorbrachte, ist vergangen. Innovationen in der Chemie spielen sich mehr und mehr auf der Ebene „System“ und weniger und weniger auf der Ebene „Komponente“ (oder Material) ab.

Um diesen abstrakten Gedanken konkreter zu machen, seien hier zwei Beispiele aufgeführt:

Will etwa ein Chemieunternehmen erfolgreich Elektrolyte oder Separatormembranen für Lithium-Ionen-Batterien entwickeln, muss es das „System“ Batterie verstehen – und gegebenenfalls selbst die Kompetenz erwerben, Batterien (wenigstens in kleiner Serie) herstellen. Zur Entwicklung eines elektrophoretischen (reflektierenden, paper-like) Displays (etwa für E-Book-Reader) kann man durchaus auf traditionelle Materialien wie Siliciumdioxid und Ruß zurückgreifen, die Herausforderung liegt hier in der Gestaltung des Systems (und auch, nebenbei bemerkt, in der Gestaltung des Geschäftsmodells).

Die Dynamik der Branche spiegelt sich u.a. darin wieder, dass deren grundlegende Wettbewerbsmodelle eben nicht statisch sind, sondern sich kontinuierlich weiterentwickeln. So sprach vor etwa einer Dekade die Unternehmensberatung Accenture von neuen strategischen Kategorien wie „Scale Operator“ und „Solution Provider“, bei Arthur D. Little differenzierte man zwischen „Global Portfolio Manager“, „Prozess Specialists“ und „Solution Provider“.

Auch strategische Initiativen führender Chemiekonzerne illustrieren diese Entwicklungen: Die BASF startet im Jahre 2007 die Initiative „We help our customers to be more successful“ und bei Evonik hieß es zur gleichen Zeit „Solutions for Customers“. BASF ging dann noch einen Schritt weiter und hat, um dem breiten Spektrum an möglichen Geschäftsmodellen Rechnung zu tragen, diese kategorisiert und sechs Prototypen von Customer Interaction Models (CIM) definiert, denen ein unterschiedliches Rollenverständnis zu Grunde liegt: Der reine „trader transactional supplier“ handelt auf dem Spotmarkt Commodity-Chemikalien (quasi „anonym“ über das Internet). Der „lean & reliable basic supplier“ handelt auch mit Commodity-Chemikalien und erlangt über eine vorteilhafte Kostenposition Wettbewerbsvorteile. Der „standard package provider“ bietet seinen Kunden zwar nicht individuell maßgeschneiderte Lösungen, aber doch eine gewisse Auswahl an Service und Dienstleistungen an. Der „product/process innovator“ bietet seinen Kunden innovative und überlegene Produkte oder Prozesse an – im Vordergrund steht die „Performance“ der Materialien in der Anwendung beim Kunden. Der „customized solution provider“ entwickelt (gemeinschaftlich mit dem Kunden) individuelle problemspezifische Lösungen. Der „value chain integrator“ agiert quasi „vorwärtsintegriert“ und übernimmt Prozessschritte, die nach traditionellen Verständnis auf dem Spielfeld der Kundenindustrien liegen würden.

Zu ähnlichen Überlegungen kommt man auch aus einer gänzlich anderen – aus der akademischer Perspektive: Der Harvard-Chemiker George Whitesides (oft als der am meisten zitierte lebende Chemiker bezeichnet) spekulierte vor einem Jahr unter dem Titel „Chemie neu erfinden“ in der Wiley-VCH-Zeitschrift „Angewandte Chemie“ (auszugsweise auch im CHEManager International) über die zukünftige Rolle der Chemie „ […] Diese fruchtbare Ära ist vorbei, und die Chemie steht jetzt vor Herausforderungen, auch eingedenk der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, die sogar noch interessanter jedoch völlig anders sind. Sie werden – wie ich glaube – eine Neustrukturierung der Chemie als Forschungsgebiet erfordern […] Sie ist eine Wissenschaft gewesen, die Atome, Bindungen, Moleküle und Reaktion studierte. Und in 50 Jahren? Wird sie immer noch das Studium von Molekülen und ihrem Verhalten sein? Oder wird sie sich mit komplexen Systemen beschäftigen, die Moleküle in jeglicher Form einbeziehen? […].In der Chemie geht es in Zukunft nicht um Atome und Moleküle, sondern auch um das, was sie – mit ihren einzigartigen Befähigung, Moleküle und Materie zu beeinflussen und zu verändern – leisten kann, um komplexe Systeme aus Atomen und Molekülen zu verstehen, zu beeinflussen und zu kontrollieren. […].

Wachstumspfade der Chemie

Zum nachdenklichen Vorausdenken über die Wachstumspotenziale der Chemie gehört, dass man den Zeithorizont weiter spannt als dies in den konventionellen Jahresprognosen der Unternehmen geschieht oder dass  man sich nur von aktuellen Schlagworten wie „Industrie 4.0“ leiten lässt, sondern eher das Woher und Wohin in den Vordergrund stellt. Hier lohnt sich ein Blick in die Werke der Klassiker der Nationalökonomie, denn dieser lässt die verschiedensten Formen des Wachstums, die unterschiedlichen Qualitäten haben, zum Vorschein treten.

Am ältesten ist das Wachstum der Bevölkerung, das die Menschheit – wie Thomas Malthus es formulierte – ständig gegen die (kleinräumigen) Nahrungsspielräume stoßen ließ. Justus von Liebig und auch Fritz Haber und Carl Bosch haben sicher entscheidend dazu beigetragen, diese Grenzen zu überwinden. Sachlich und zeitlich nah kommt diesem Malthus-Wachstum dasjenige Wachstum, das sich aus der Produktivität der Spezialisierung und Arbeitsteilung ergibt, also mit dem Handel einhergeht, ganz so wie Adam Smith es sah. Das Malthus-Smith-Wachstum ergänzte sich in zunehmenden Maße durch das Kapitalwachstum, dem David Ricardo und Karl Marx ihr Interesse widmeten und für das sie – wie John Maynard Keynes – Sättigungsgrenzen sahen. Es war der Sache nach ein industriebestimmtes Wachstum, geprägt durch die industrielle Revolution und bis heute noch geben uns die historisch gewachsenen, komplexen Produktionsstandorte der chemischen Industrie von diesem Wachstum Zeugnis. Aber diese Revolution war kein einmaliger Wachstumsstoß, wie man häufig annahm, sondern ein Entfesseln schöpferischer Kräfte, die immer wieder neuartige Produkte oder rationalere Produktionsverfahren ins Spiel brachten. Josef Schumpeter sprach von „schöpferischer Zerstörung“. Wir können dieses Wachstum durchaus nach ihm benennen, zumal er den Typ des dynamischen Unternehmers ins Rampenlicht rückte. Aber das Wachstum, das von neuem Wissen stammt, erinnert doch eher an Prometheus, der – Zeus zum Trotz – der Menschheit das Feuer brachte. Das Prometheus-Wachstum ist ein Wachstum des Wissens und der Wissenschaft, der Dienstleistung, der Information, der Qualitäten und nicht der Materialmengen. Hier kommt nun aber wieder die Chemie als wissenschaftsbasierte Industrie ins Spiel. Es ist nicht verwegen anzunehmen, dass das Wachstum so weiter kommt. Sollte es in Zukunft keine anderen Grenzen für die Arbeitsteilung der Köpfe geben, so würde der Fortschritt der Wissenschaft und der Technik auch die anderen Grenzen des Wachstums – vielleicht sogar diejenigen, die der Club of Rome in seinem Alarmruf „The Limits of Growth“ im Jahre 1972 voraussah – aus dem Weg räumen.

Eines scheint gewiss: Wachstum war und ist – gerade auch in der Chemie – nur durch Wandel und Strukturumbrüche möglich. Dies hat etwa das Entstehen der „Biotechindustrie“ quasi als Spin-off der Chemieindustrie gezeigt, die eben doch keine „Stahlbranche des 20. Jahrhunderts“ ist. Die chemische Industrie, so sie uns heute erscheint, ist unterwegs, als Kind der Industriegesellschaft in der Wissensgesellschaft anzukommen. Es mag ein maßstabsgetreu „Größer werden“ auf dem Papier möglich sein, natürlich, auf der zweidimensionalen Fläche – aber in der Welt der lebendigen Kreatur und wohl auch aller organisch gewachsene Systeme wie Branchen und Industrien ändern sich wohl beim Wachstum die Proportionen. Erwachsene sind nicht vergrößerte Kinder und Kinder nicht so proportioniert wie Erwachsene, auch wenn manche Maler früher so gedacht haben. Auch die chemische Industrie wird am Prometheus-Wachstum beteiligt sein, aber sie wird dabei ihre Gestalt, vielleicht sogar ihren Namen ändern.

Zu diesem Thema leitet der Autor einen GDCh-Fortbildungskurs:

Die Chemisch-pharmazeutische Industrie im Überblick
(Kurs: 940/16)
23. November 2016 in Frankfurt am Main

Weitere Informationen und Anmeldung über:
Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), Fortbildung
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