Strategie & Management

Evolution oder Revolution?

Ergebnisse der Branchenstudie „Von den Megatrends zum Geschäftserfolg“, Teil 4

11.11.2015 - Die Chemie- und Pharmaindustrie wird sich weiter wandeln: Nach den Einschätzungen der Branchenverbände wird sie bis zum Jahr 2030 in Europa moderat, in Asien und den USA deutlicher wachsen.

Die Unternehmen richten sich – wie die Befragung „Von den Megatrends zum Geschäftserfolg“ gezeigt hat – auf die Wachstumsmärkte in Asien aus, arbeiten an branchen- und disziplinübergreifenden Innovationen und wollen ihre Ziele mit Mitarbeitern höherer Qualifikation erreichen. Aber erfordert dies evolutionäre, also längerfristige und eher langsam voranschreitende Änderungen oder revolutionären Umbruch in Form von radikalen kurzfristigen Veränderungen in der Unternehmensführung?

In der Geschichte der Chemieindustrie gab es sowohl Phasen des revolutionären als auch Phasen des evolutionären Wandels: Wirtschaftshistoriker heben als Umbruchphasen im 20. Jahrhundert die petrochemischen Entwicklungen in den 1950er und 1960er Jahren sowie in der Pharmaindustrie die biotechnologische Revolution in den 1980er Jahren hervor. Sie betonen, dass jede dieser Disruptionen, die auf technologische Durchbruchinnovationen zurückzuführen sind, den Status quo in den Unternehmen „durchgerüttelt“ haben: Technologien und Prozesse, Strategien und Geschäftsmodelle, Mitarbeiterkompetenzen und Unternehmenskulturen sowie Märkte und Kundenbedürfnisse werden durch solche  Umbrüche grundlegend beeinflusst. Das Gleichgewicht, das sich zwischen diesen Elementen im Zeitablauf herausgebildet hat, und das auch aus der Perspektive des optimierenden Managementhandelns zur Realisierung von Effizienzvorteilen angestrebt wird, wird in diesen Phasen gestört. Eine Neuausrichtung des Unternehmens ist dann geboten.

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie die Unternehmen in der Chemie- und Pharmaindustrie angesichts der Megatrends für ihr Unternehmen die Änderungsnotwendigkeit sowie ihren Vorbereitungsgrad auf die anstehenden Änderungen bewerten.

Studienergebnisse

Die Teilnehmer der Studie gaben ihre Einschätzung zu den Änderungsnotwendigkeiten in ihrem Unternehmen bzw. ihrer Geschäftseinheit angesichts der berücksichtigten Megatrends ab. Auch wurden sie gefragt, wie gut ihr Unternehmen bzw. ihre Geschäftseinheit auf die Veränderungen vorbereitet sei.

Die Befragten gehen bei gesamthafter Betrachtung im Durchschnitt von einer mittleren Transformationsnotwendigkeit aus. Sie sehen einen eher evolutionären Wandel der Branche bevorstehen. Diese Einschätzung zeichnete sich auch in den Expertengesprächen ab. Dort wurden Bilder zur Charakterisierung der Chemie- und Pharmaindustrie im Branchenvergleich erfragt. Die Chemieindustrie wurde dabei mit den Worten „Wir sind eher die Schweiz als das Silicon Valley“ oder „Wir sind eher Siemens als Apple“ beschrieben. Die Gesprächspartner betonten, dass verschiedene  Rahmenbedingungen den Spielraum sowohl für kurzfristige als auch für radikale Änderungen einengen. So agieren Chemie- und Pharmaunternehmen in Deutschland in einem stark regulierten Umfeld. Regelkonformität ist eine zentrale Zielgröße der Unternehmenssteuerung und die hohen Investitionen in Produktionsanlagen erfordern eine langfristige Orientierung in strategischen Entscheidungen. „Bei uns ist kein Platz für risikoreiche Abenteuer“, formuliert ein Gesprächspartner aus der Pharmaindustrie. Gleichzeitig sehen die Gesprächspartner die Notwendigkeit, bei aller Regelkonformität und Standardisierung auch die Offenheit für Neues sowie die erforderliche Änderungsbereitschaft sicherzustellen.

Änderungen in der Chemie- und Pharmaindustrie

Der Vorbereitungsgrad entspricht – bei gesamthafter Betrachtung der Mittelwerte – den Änderungsnotwendigkeiten. Dabei ist besonders interessant, dass die Unternehmen, die sich

selbst als erfolgreich eingestuft haben, die Änderungsnotwendigkeiten als geringer und den Vorbereitungsgrad positiver einstuften als die Befragungsteilnehmer, die ihr Unternehmen als weniger erfolgreich betrachteten.

In den Bereichen „Strategie und Geschäftsmodell“ sowie „operative Prozesse“ entspricht der Vorbereitungsgrad weitgehend den Änderungsnotwendigkeiten. Bei den Mitarbeiterkompetenzen und der Unternehmenskultur sind hingegen deutliche Diskrepanzen zwischen den erforderlichen Änderungen und dem Grad der Vorbereitung zu erkennen. Auch in diesem Bereich sind – nach eigener Einschätzung – die erfolgreichen Unternehmen sehr viel besser aufgestellt als die weniger erfolgreichen Unternehmen.

Aufschlussreich ist hier auch ein Blick auf die unterschiedlichen Branchensegmente:

Die Vertreter der Basischemie sehen insgesamt die geringsten Änderungsnotwendigkeiten und haben den in Relation zum Änderungsbedarf höchsten Vorbereitungsgrad. Dies könnte als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Befragten das Geschäft an sich als stabil und optimiert einstufen. Sie investieren in Prozessinnovationen und optimieren im Lichte der Wachstumsmärkte und Rohstoff- und Energiepreise die globale Produktionsstruktur. Eine weitreichende Umstellung auf nicht-fossile Rohstoffe oder auch die grundlegende Umstellung auf erneuerbare Energiequellen – zwei mögliche Treiber disruptiven Wandels in der Basischemie – werden bis zum Jahr 2024 nicht erwartet.

Im Bereich der Spezialchemie werden größere Änderungsnotwendigkeiten identifiziert. Der größte Änderungsbedarf besteht bei den Mitarbeiterkompetenzen, der Unternehmenskultur, sowie bei der Strategie bzw. dem Geschäftsmodell. In ersteren Bereichen bestehen nennenswerte Diskrepanzen zwischen dem Vorbereitungsgrad und den Änderungsnotwendigkeiten. Deutlich wurde in den Expertengesprächen, dass der vielfach propagierte Strategiewechsel vom Produkt- zum Lösungsverkauf noch nicht flächendeckend umgesetzt wurde. Die Unternehmen haben aufgrund der hohen Komplexität und Diversität auf der Kundenseite Schwierigkeiten, den Nutzen, den das eigene Produkt in der Wertschöpfungskette des Kunden stiften kann, zu ermitteln. Auch die innovationsbezogene Zusammenarbeit über Branchengrenzen hinweg bereitet Schwierigkeiten – sei es, dass die Kompetenzen zum Verständnis des Partners fehlen, sei es, dass man Unsicherheiten im Umgang mit fremden Branchenkulturen hat. Einige Unternehmen gehen die Veränderungen sehr engagiert an. So führt das Spezialchemieunternehmen Clariant in Frankfurt schon in einer frühen Phase des Innovationsprozesses Workshops mit Kunden durch. Anschließend werden stringente Prozesse zur Sicherstellung einer schnellen Markteinführung verfolgt. Diese intensive Öffnung im Innovationsprozess zum Kunden ist in dieser Form neu. „Die gesamte Chemie befindet sich jetzt in einer Umbruchphase, wie es sie seit 60 bis 70 Jahren nicht gegeben hat“, sagte Christian Kohlpaintner, Mitglied des Executive Committee von Clariant International im Dezember 2014 in einem Interview im „Innovationsmanager“.

Mit Blick auf die Pharmazeutika werden die größten Änderungsnotwendigkeiten und der zugleich relativ gesehen geringste Vorbereitungsgrad konstatiert. Auffällig ist, dass – mit Ausnahme des Themenfeldes Strategie/Geschäftsmodell – der Vorbereitungsgrad gegenüber dem Änderungsbedarf deutlich abfällt. Dies betrifft nicht nur vermeintlich „weiche“ Themen wie Unternehmenskultur und Mitarbeiterkompetenzen, sondern ebenfalls das „harte“ Feld der operativen Prozesse. Hier wird die größte Änderungsnotwendigkeit gesehen. In Expertengesprächen wurde dies auf die strengen regulatorischen Vorgaben zurückgeführt, die Innovationen und Modernisierungen in bestehenden Produktionsprozessen durch bürokratischen Aufwand erschweren. Gleichzeitig – und dies belegt der als sehr gering eingeschätzte Vorbereitungsgrad – ist man sich der technischen Möglichkeiten bewusst, die jedoch mitunter nur zögerlich umgesetzt werden. Im Bereich der Unternehmenskultur sehen sich viele Pharmafirmen einer steigenden Flexibilisierung in Forschung und Produktion gegenüber, die einen Kulturwandel bedingt.

Evolutionären Wandel gestalten

Chemieunternehmen sehen sich bei aggregierter Betrachtung in ihrer eigenen Einschätzung nicht kurzfristig einer revolutionären Änderung gegenüber. Dies gilt ebenso, wenn auch mit Abstrichen, für die Pharmaunternehmen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie im Jahr 2015 von Unternehmen anderer Branchen – wie z.B. der Verlags- oder Musikbranche – die durch eine einzelne technologische Innovation – hier das Internet – kurzfristig grundlegend in ihrem Geschäftsmodell gefährdet wurden. Einzelne Chemie- und Pharmaunternehmen können gleichwohl aus vielfältigen Gründen der Notwendigkeit gegenüber stehen, grundlegende Transformationsprozesse anzustoßen.

Zur Vorbereitung auf den Wandel – sei er evolutionärer oder revolutionärer Natur – werden in der Transformationsforschung verschiedene Empfehlungen formuliert, die auch Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie zur Förderung ihrer Wandlungsfähigkeit berücksichtigen können:

1. Märkte & Kundenbedürfnisse

Chemie- und Pharmaunternehmen sollten den engen Kontakt zu den Kunden (und den Kunden ihrer Kunden) suchen, sowie in den Austausch mit anderen Stakeholdern, wie Verbänden oder Nichtregierungsorganisationen, treten.

2. Strategien & Geschäftsmodelle

Unternehmen sollten in Szenarien sowie von außen nach innen denken. So werden Eventualitäten in das Kalkül einbezogen und Scheinsicherheiten vermieden. Strategien und Geschäftsmodelle sollten auf ihre Widerstandsfähigkeit bei Umfeldveränderungen hin geprüft werden. Auch branchenübergreifend sollten Anregungen für mögliche Geschäftsmodellinnovationen gesucht werden.

3. Strukturen & Prozesse

Produktionsanlagen, IT-Systeme sowie Entwicklungs-, Produktions- und Vermarktungsprozesse sollten mit Blick auf Flexibilisierungspotenziale geprüft werden. Unternehmensinterne Barrieren und Treiber des Wandels werden identifiziert. In dieser

Weise hat bspw. die Luftfahrtindustrie auch „Notprogramme“ nach Krisen oder Anschlägen (9/11) in der Schublade. Im Ernstfall können so Veränderungen schneller wahrgenommen werden.

4. Mitarbeiter & Unternehmenskultur

Mitarbeiter sind der Schlüssel für jede Veränderung. In der Chemie- und Pharmaindustrie ist auch in Zukunft Fachkompetenz von fundamentaler Bedeutung. Gleichzeitig benötigen mehr Mitarbeiter zukünftig interkulturelle, interdisziplinäre und branchenübergreifende Kenntnisse. Eine Kultur des „neu-“, „um-„ und „entlernens“ wird an Bedeutung gewinnen. Die Kultur wird sich weiter öffnen müssen, um die Chancen der Globalisierung sowie der Kooperationen über Branchengrenzen hinweg realisieren zu können.

Auch im Umfeld eines eher evolutionären Wandels sollten Unternehmen in der Chemie- und Pharmaindustrie ihre Änderungsfähigkeit aufrechterhalten. Einerseits, um das bestehende

Geschäft zu optimieren, andererseits um Veränderungen mit Disruptionspotenzial zu erkennen und die Fähigkeit zur Innovation zu gewährleisten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen „Exploitation des Bestehenden“ und „Exploration neuer Möglichkeiten“ bildet die zentrale Managementherausforderung für Chemie- und Pharmaunternehmen auf dem Weg von den Megatrends zum Geschäftserfolg.

Von den Megatrends zum Geschäftserfolg

Die Studie "Von den Megatrends zum Geschäftserfolg: Managementimplikationen der Megatrends für die chemische und pharmazeutische Industrie in Deutschland“ widmet sich konkreten Folgen der Megatrends für das Management von Chemie- und Pharmaunternehmen. Die Studie wurde im Frühjahr 2014 durch ein Projektteam bestehend aus der Universität Münster, der Provadis Hochschule, dem Verband der Chemischen Industrie (VCI), der Strategieberatung PwC strategy& sowie CHEManager durchgeführt.

In fünf Beiträgen stellen wir einige Ergebnisse der Studie bei ausgewählten Themen vor. Die inzwischen erschienene Publikation der Studienergebnisse finden Sie zum Download hier.
 

 

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