Märkte & Unternehmen

Chemieindustrie an einer historischen Wegmarke

Wie wird die europäische Chemiebranche ihre Erfolgsgeschichte auf dem Weg ins Zeitalter der Klimaneutralität fortsetzen?

12.07.2022 - CEFIC-Präsident Martin Brudermüller sieht die europäischen Chemieindustrie an einer historischen Wegmarke. Er beschreibt die immensen Herausforderungen, die die chemische Industrie in den kommenden Jahren bewältigen muss.

Ein besonderes Jubiläum in einer Zeit, die für unsere Industrie kaum spannender und herausfordernder sein könnte: 30 Jahre CHEManager!  Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für die mediale Begleitung unserer Branche über die vergangenen Jahrzehnte. Das Jubiläum fällt in ein Jahr, das eine historische Wegmarke ist. Ein Moment, in dem wir uns fragen, wie der Weg nach vorne gestaltet werden kann. Natürlich gehört dazu auch ein Blick zurück, auf Meilensteine und Errungenschaften unserer Branche in den vergangenen drei Jahrzehnten, aber vor allem geht der Blick nach vorne; auf die immensen Herausforderungen, die die chemische Industrie in den kommenden Jahren bewältigen muss.

Unsicherheit der Rohstoff- und Energieversorgung in Europa


Zuallererst möchte ich aber an dieser Stelle einmal mehr und sehr deutlich unsere Solidarität mit der Bevölkerung der Ukraine zum Ausdruck bringen: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine verstößt gegen das Völkerrecht, er gefährdet die Sicherheit, den Wohlstand und die Nachhaltigkeit des gesamten europäischen Kontinents, und ist durch nichts zu rechtfertigen.

Die durch den Krieg in der Ukraine verursachte Unsicherheit der Rohstoff- und Energieversorgung in Europa trifft unsere Branche zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Denn wir befinden uns gleichzeitig an einer anderen historischen Wegmarke, die uns vor gewaltige Herausforderungen stellt: Die Chemie war einer der ersten Sektoren, die sich für die Ziele des Green Deal der Europäischen Union ausgesprochen haben und einen Weg aufgezeigt haben, wie unsere Branche die Ziele für Klimaneutralität, Kreislaufwirtschaft und Digitalisierung beschleunigt erreichen kann und gleichzeitig mit der Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit (CSS) Innovationen für sichere und nachhaltige Chemikalien zum besseren Schutz von Mensch und Umwelt fördern kann.

 

Die Aufgabe ist riesig,
und die Zeit dafür ist knapp,
wenn man in industriellen Maßstäben
denkt und handelt.

 

Die Aufgabe, vor die uns all das stellt, ist riesig, und die Zeit dafür ist knapp, wenn man in industriellen Maßstäben denkt und handelt: Der europäischen Gesellschaft und Industrie bleiben nur noch 30 Jahre, um die massiven Veränderungen bei der Energiewende, der Produktionstechnik und in den Geschäftsmodellen umzusetzen.

Der Green Deal kann ohne Innovationen aus der Chemie nicht gelingen

Wir gehen diese Herausforderung an. Denn wir sehen uns in der Verantwortung, der Gesellschaft auch weiterhin die Produkte und Leistungen bereitzustellen, die für ein modernes und sicheres Leben erforderlich sind. Wir sind dabei eine „Industrie der Industrien“ als unverzichtbarer Zulieferer für den überwiegenden Teil der europäischen Wertschöpfungsketten. Auch wenn unsere Produkte zum großen Teil nicht für Endkunden sichtbar sind, erbringt die chemische Industrie einen sehr wichtigen Beitrag: Er beginnt bei Alltagsprodukten für den täglichen Konsum, reicht über kritische Materialien für Maschinen und Infrastruktur bis hin zu kreislauforientierten und klimaneutralen Lösungen für neue Technologien wie bspw. Batterien für Elektrofahrzeuge. All das würde es ohne die Chemie nicht geben.
Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass das Erreichen der EU-Ziele für den Green Deal, nämlich bis 2050 klimaneutral zu werden, nur mit der chemischen Industrie möglich sein wird. Neben der Bereitstellung unserer Produkte werden wir dafür natürlich auch in unserer eigenen Produktion bewährte Methoden und Prozesse durch neue, bessere ersetzen. Wir sollten uns an der Stelle aber nichts vormachen: Das erfordert große Anstrengungen und auch gewaltige Summen an Kapital. Doch wer wäre besser in der Lage, auf diesem Weg voranzugehen, als die europäische Chemieindustrie? Innovation ist der zentrale Baustein der DNA unserer Branche.

 

Jedes Jahr fließen in der
europäischen Chemieindustrie mehr als
9 Milliarden Euro in die Forschung.

 

 

Jedes Jahr fließen in der europäischen Chemieindustrie mehr als 9 Mrd. EUR in die Forschung. Damit sind wir weltweit der zweitgrößte Investor in die chemische Forschung. Einige der innovativsten Projekte sind in unserer ChemistryCan-Ausstellung zu sehen. Diese Beispiele verdeutlichen den Wert und das Potenzial unserer bedeutenden Anstrengungen auf dem Weg ins Jahr 2050.

Responsible Care: Richtschnur für die kontinuierliche Verbesserung unseres operativen Handelns

Ein Blick auf die konkrete Entwicklung unserer Branche zeigt, dass die Treibhausgas­emissionen der chemischen Industrie seit 1990 in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union um fast 54 % gesunken sind, während die Produktion um 47 % gestiegen ist. Ein Großteil der Anstrengungen unserer Branche zur Verbesserung des sicheren Chemikalienmanagements, einer besseren Umweltverträglichkeit und vieles mehr, ist dabei auf die europäische Initiative Responsible Care zurückzuführen. Diese Initiative, die seit mehr als 30 Jahren besteht, ist eine Richtschnur für unser operatives Handeln und reicht weit über die bloße Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften hinaus.

Ich bin sehr stolz auf das, was wir im Rahmen dieses Programms im Laufe der Jahre geschafft haben, u.a. sind wir dadurch wichtige Schritte in Richtung Digitalisierung vorangekommen. Ein Beispiel dafür ist das neue Webtool zur Selbstbewertung, mit dem Unternehmen dynamische Einblicke in ihre Lieferkettenabläufe erhalten können. Es ermöglicht ein Benchmarking mit Branchenkollegen auf europäischer und nationaler Ebene und gibt den Unternehmen eine konkrete Leitschnur, wie sie ihre Aktivitäten auf die 17 Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung sowie internationale Standards ausrichten können.

Dies ist eine beeindruckende Leistung, die Europa auch mit dem Rest der Welt teilen wird. Dadurch wird Ländern mit weniger Erfahrung bei der Umsetzung von Responsible Care geholfen, durch Know-how und Unterstützung beim Aufbau vergleichbarer Systeme.

Eine dynamische Branche, die vor großen Herausforderungen steht

Wo geht es hin mit der Chemie? Die europäischen Chemieunternehmen beschäftigen derzeit in Europa rund 1,2 Millionen Menschen und erwirtschaften einen Umsatz von 499 Mrd. EUR. Kurzum: Zusammen mit dem Automobil- und Maschinenbau ist die Chemieindustrie eine der wichtigsten Industriebranchen in Europa.

Doch diese Stärke ist in großer Gefahr. Angesichts der derzeitigen geopolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten, der bereits angesprochenen Herausforderungen in der Rohstoff- und Energieversorgung, der Unsicherheit in den Lieferketten und des Arbeitskräftemangels – um nur die gewichtigsten der gegenwärtigen Herausforderungen zu nennen – bestehen erhebliche Risiken, die zu äußerst negativen Auswirkungen für die Branche – und damit für alle unsere Wertschöpfungsketten – führen können. All dies geschieht zu einer Zeit, in der wir jährlich Investitionen in Milliardenhöhe tätigen müssen, um den Klimawandel zu bewältigen.

Mit der im Rahmen des Green Deals beschlossenen CSS steht die chemische Industrie in Europa zugleich vor der größten regulatorischen Überarbeitung seit REACh, dem bereits weltweit führenden Chemikalienmanagementsystem. Um ein besseres Verständnis für die Auswirkungen zu bekommen, haben wir das unabhängige Beratungsunternehmen Ricardo Energy and Environment beauftragt, die wirtschaftlichen Auswirkungen der CSS, insbesondere auf die Einstufungs-, Verpackungs- und Kennzeichnungsverordnung (CLP) und REACh zu analysieren. Die Daten, die von mehr als 100 europäischen Chemieunternehmen erhoben wurden, zeigen die Größe der Herausforderung, die vor uns liegt: Etwa 28 % des Portfolios unserer Branche könnten betroffen sein. Angesichts der Tatsache, dass etwa ein Drittel dieses Portfolios potenziell substituiert werden könnte, wird mit einem Netto-Marktverlust von etwa 12 % gerechnet. Es besteht große Unsicherheit darüber, wie die Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette, insbesondere die vielen kleinen Unternehmen der Branche, den Übergang unter den derzeitigen Rahmenbedingungen bewältigen können.

Ein robuster Übergangspfad als Wegweiser für unsere Branche bis 2050

Angesichts all der bevorstehenden Veränderungen muss die chemische Industrie jetzt wissen, welche Rahmenbedingungen gelten, damit sie in Alternativen und neue Technologien investieren kann: in klimaneutrale Lösungen, veränderte Prozesse, Energie, Rohstoffe.

 

Wir brauchen wirtschaftliche Sicherheit
für Investitionen auf dem Weg
ins Jahr 2050.

 

Wir brauchen wirtschaftliche Sicherheit für Investitionen auf dem Weg ins Jahr 2050. Deshalb haben wir von der Europäischen Kommission einen Übergangspfad gefordert, der alle EU-Regulierungspläne in einem kohärenten Ansatz zusammenfasst und mit einem klaren, vorhersehbaren und praktischen Fahrplan für die notwendige Transformation versieht.
Nur so können wir Ersatzprodukte entwickeln, zuvorderst für die Produkte, wo ein Ersatz am schnellsten möglich ist. Dabei sollte auf bewährte und etablierte Ansätze wie der Risikobewertung im Rahmen von REACh aufgebaut werden. Das erfordert Anreize, um Märkte für diese neuen Chemikalien zu schaffen, kombiniert mit einer Verdoppelung der Durchsetzung von REACh und der Produktsicherheitsvorschriften für Importe. Das Paket muss außerdem durch eine starke Innovationsagenda ergänzt werden, um die Entwicklung von sicheren und nachhaltigen Alternativen zu beschleunigen. Schließlich sollte der Übergangspfad auch die drei anderen Übergänge integriert berücksichtigen, die die chemische Industrie durchlaufen muss: Klimaneutralität, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft.

Wir brauchen Leidenschaft für Innovation und Unternehmergeist

Ich glaube nach wie vor, dass der Europäische Green Deal eine echte Wachstumsstrategie für Europa und unsere Industrie werden kann – wenn er richtig umgesetzt wird. Wir wollen, dass Europa zu einem globalen Innovationszentrum und einem Hotspot für Investitionen wird. Aber wir brauchen den richtigen politischen Rahmen; dieser muss Klarheit, Kohärenz und Vorhersehbarkeit in alle EU-Regulierungspläne bringen, mit denen unsere Industrie konfrontiert ist. Ich möchte, dass die europäische Chemieindustrie nicht nur wettbewerbsfähig bleibt, sondern wächst und floriert, und dass Europa seinen globalen Vorteil in einer sich schnell verändernden globalen Landschaft darin sieht, dass wir befähigt werden, Innovationen für neue Kreislaufmodelle entwickeln zu können, um durch Nachhaltigkeit und neue Technologien an vorderster Front bleiben zu können.
Dazu rufe ich auch Sie als führende Vertreter der chemischen Industrie in der EU auf! Lassen Sie uns zusammenarbeiten und Ihren Innovationsdrang, Ihre Leidenschaft für die Entwicklung neuer Technologien und Ihren bemerkenswerten Unternehmergeist für eine zukunftsfähige Chemieindustrie und ein besseres Europa einsetzen. Wenn uns dies gelingt, bin ich überzeugt, dass die nächsten 30 Jahre ebenso erfolgreich sein werden wie die letzten.

Autor: Martin Brudermüller, Präsident, European Chemical Industry Council (CEFIC)

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