Märkte & Unternehmen

Covid-19: Ready for the New Normal?

Chemie- und Pharmaindustrie sieht Notwendigkeit, Lieferketten zu überprüfen und Innovationen zu beschleunigen

12.06.2020 -

Die Coronavirus-Pandemie bringt auch für die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie Veränderungen mit sich. Welche Ausmaße dies annimmt und welche Bereiche betroffen sind, wurde in einer Blitzumfrage nach den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Management in Chemie- und Pharmaunternehmen ermittelt. Diese wurde von der Provadis Hochschule in Kooperation mit der VCW (Vereinigung für Chemie und Wirtschaft der GDCh) und BCNP Consultants zwischen dem 30. März 2020 und 6. April 2020 durchgeführt. Die Ergebnisse der 175 TeilnehmerInnen wurden Ende April in einem Webinar diskutiert und im Hinblick auf die Handlungsfelder Innovation, Leadership, Wertschöpfungsketten, Mitarbeiterqualifizierung sowie Nachhaltigkeit beleuchtet.

Auf Wunsch der Teilnehmer wurde vor allem auf die Themen Wertschöpfungsketten und Innovation näher eingegangen sowie das Thema Nachhaltigkeit aufgegriffen. Ob es langfristig tatsächlich zu einer Rückverlagerung nach Europa kommt, hängt von vielen Faktoren ab; damit die hiesigen Standorte wettbewerbsfähig bleiben können, benötigen sie weitere Innovationen; Nachhaltigkeit und Umweltschutz bleiben trotz Krise relevant.

„78% der Befragten beurteilten das Krisenmanagement ihrer Unternehmen als gut bzw. sehr gut. Das ist ein beeindruckendes Ergebnis“, so Hannes Utikal, Professor an der Provadis Hochschule und Initiator der Blitzumfrage. Aber welche Management-Herausforderungen stehen jetzt an? Ist die chemische und pharmazeutische Industrie bereits “Ready for the new normal”? Welche Themen werden im „new normal“ relevant sein?

Verlagerung der Wertschöpfungsketten
Die Wertschöpfungsketten werden auf ihre Krisenanfälligkeit hin überprüft. 57% der Befragten erwarten eine Verlegung vorgelagerter Wertschöpfungsketten nach Europa, 46% einen Aufbau von Zusatzkapazitäten in Deutschland. Sind diese Einschätzungen eine Reaktion auf bestehende oder befürchtete Engpässe während der Lockdowns gewesen oder bereits reale Überlegungen von Entscheidern in der Stabilisierungsphase? Im Webinar herrschte Einigkeit darüber, dass die Notwendigkeit besteht, den Aufbau der Wertschöpfungsketten zu hinterfragen und zu prüfen, wie man eben diese krisenfester aufstellen kann. Je nach Industrie kann diese Neubewertung unterschiedlich ausfallen. Die Pandemie hat die Sensibilität komplexer, internationaler Lieferketten gegenüber äußeren Störungen gezeigt. Verschärft wird die Situation dadurch, dass viele Zwischenprodukte nur noch in einer einzigen Region für den internationalen Markt produziert werden. Hierdurch ist die strategische Bedeutung ausgewählter Produkte und Prozessschritte in den Fokus gerückt. Die Liefersicherheit in Ausnahmesituationen stellt aktuell einen bedeutenden Mehrwert dar. Allerdings haben sich die ursprünglichen Gründe für eine Verlagerung außerhalb Europas, z.B. (Lohn-)Kostenvorteile und Regularien, durch die momentane Situation nicht geändert. Peter Manshausen, Dozent für Technologie und Management an der Provadis Hochschule, hält die langfristige Rückholung vorgelagerter Wertschöpfungsschritte nach Europa deshalb für eher unwahrscheinlich, außer die Rahmenbedingungen werden durch Auflagen, Subventionen, Zölle oder andere Maßnahmen geändert.

Des Weiteren ist ein Umdenken über die vorherrschende Definition von Wert und Wertschöpfung zu beobachten, welches mögliche Verlagerungen beeinflusst. Diese Definition geht über die rein ökonomische Betrachtung hinaus und beinhaltet auch soziale und ökologische Wertelemente. In einigen Nischen ist dies bereits heute so, z.B. bei Share- und Naturkosmetikprodukten. Gelingt es der Industrie in Deutschland und Europa, Innovationen voranzutreiben und für diese mit Automatisierung sowie Digitalisierung hier Produktionskapazitäten aufzubauen, so können auch die notwendigen Skaleneffekte erzielt werden. Dies kann zu regionalen Wertschöpfungsketten und dem Aufbau von Zusatzkapazitäten in Europa führen.

Innovationen fokussiert vorantreiben
Ein wichtiger Treiber von Innovationen ist die Digitalisierung, sagten 89% der Befragten. Im Webinar bezeichnete Richard Beetz, Prodekan des Fachbereichs Informatik und Wirtschaftsinformatik der Provadis Hochschule, die Corona-Krise als Katalysator für alle Dimensionen der digitalen Transformation. In Deutschland gilt es vielerorts noch, das volle Digitalisierungspotential zu erkennen: Denn Digitalisierung ist mehr als lediglich optimierte Prozessführung.

Dies erklärte Innovation Architect Joachim von Heimburg, Berater bei JVH Innovation und stellvertretender Vorsitzender der VCW. Außerdem ergänzte er, dass in der chemischen und pharmazeutischen Industrie viel Potential vorhanden ist, neuen Wert aus den Daten zu schöpfen, die an vielen Punkten der chemischen Wertschöpfungskette erhoben werden können. Unabhängig davon, ob dieses Thema in Unternehmen bereits aktiv bearbeitet wurde oder nicht, ist es wichtig, in der Stabilisierungsphase bereits digitale Lösungen zu entwickeln, um im “new normal” anzukommen.

Aufgrund anstehender Kosteneinsparungen können solche und andere Innovationen nicht generell, sondern nur sehr fokussiert verfolgt werden. Momentan ist der Aufschub strategischer und langfristiger Themen zwar naheliegend, dies wirkt sich jedoch negativ auf die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit aus. Denn im Informationszeitalter gelten Daten als das neue Öl.

Peter Holm, Professor im Fachbereich Betriebswirtschaftslehre der Provadis Hochschule, gab an, dass digitale und andere Innovationen vor allem durch Integration neuer Technologien und durch unternehmensübergreifende Zusammenarbeit erfolgen können. Auch 42 % der Befragten bestätigten, Open Innovation sei ein wichtiges Element, um diese turbulenten Zeiten gestärkt zu überstehen. Zusätzlich kann laut den Umfrageergebnissen die Regierung durch Forschungsförderung und schnellere Genehmigungsverfahren beeinflussen, wie schnell eine Ankunft im “new normal” möglich ist.

Davon können auch zahlreichen Start-ups profitieren. Im besten Fall haben sie durch ihre flachen Strukturen, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit die Möglichkeit sich schneller zu stabilisieren. Diese Krise wird zeigen, ob ihre Geschäftsidee auch im “new normal” relevant ist. Insbesondere Start-ups der Pharmaindustrie und solche, die Nachhaltigkeitsthemen vorantreiben, könnten jetzt ihre Chance ergreifen.

Nachhaltigkeit ist und bleibt relevant
Viele Quellen berichten über positive Auswirkungen auf die Umwelt, hervorgerufen einerseits durch den Lockdown des sozialen Lebens, andererseits durch den Lockdown der Industrien. Gerade die sichtbaren Veränderungen wecken Konsumenten sowie Unternehmen auf und zeigen, dass Veränderungen in Lebens- und Arbeitsweisen einen Einfluss auf die Umwelt haben können. Die Umfrage ergab, dass 80% der Befragten Klima- und Umweltschutz eine gleichbleibende Relevanz trotz der Pandemie zuweisen.

Alexander May, Professor im Fachbereich Chemieingenieurwesen der Provadis Hochschule, teilt diese Einschätzung. Er ist der Meinung, dass die Corona-Pandemie das Agieren der chemischen Industrie kurzfristig bestimmt, Nachhaltigkeit und Klimaschutz die strategische Ausrichtung aber mittel- und langfristig im “new normal” weiter dominieren.

Der Wettbewerbsdruck aus den USA und China wird dies auf der einen Seite beeinflussen. Die Intensität, mit der die Nachhaltigkeitsziele in Deutschland und Europa durchgesetzt werden sollen, und die gesetzlichen Bestimmungen, z.B. CO2-Fußabdruck, CO2-Zertifikate und REACH, werden andererseits ausschlaggebend dafür sein, wie sich die chemische und die pharmazeutische Industrie weiterentwickeln kann und muss. Zielkonflikte zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen müssen im Einzelfall betrachtet werden. Hier sind die Wirtschaftspolitik und unternehmerisches Verantwortungsbewusstsein gefordert. Am Ende der Wertschöpfungskette können jedoch auch der Konsument und die Gesellschaft durch einen Wandel ihrer Wertvorstellung Impulse geben. Für die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Chemieindustrie ist eine verstärkte Zusammenarbeit von Politik, Forschung und Industrie entscheidend.

Die europäische Wirtschaft ist durch die Pandemie geschwächt. Dies veranlasst die Chemie- und Pharmaindustrie sich selbst und insbesondere ihre Wertschöpfungsketten zu hinterfragen. Sie müssen ihr einiges Handeln in den größeren Zusammenhang einordnen sowie die eigenen Werte aufstellen und sich nach ihnen ausrichten. Dies bedeutet auch, sich mit dem Punkt auseinanderzusetzen, welche Potentiale und Innovationen die Digitalisierung und Nachhaltigkeit bieten, um bereit zu sein: “Ready for the new normal”. Eine Möglichkeit, sich tiefer mit dem Thema Nachhaltigkeit in der Chemieindustrie zu beschäftigen, bietet die diesjährige VCW-Jahreskonferenz am 10. November, die unter dem Titel “Die CO2-neutrale Chemieindustrie 2050: Den Transformationspfad proaktiv gestalten” steht.

Dieser Link führt zu den Ergebnissen der Umfrage.

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