Anlagenbau & Prozesstechnik

Erfolg ist eine Frage der Organisation – und der Erfahrung

Turnaround im Dow-Traditionswerk in Böhlen

02.06.2016 -

In nur sechs Wochen konnte der Turnaround im Dow-Chemiewerk in Böhlen mit einem Gesamtvolumen von 95 Mio. € abgeschlossen werden. Dank akribischer Planung, einer perfekten Organisation und der langjährigen Erfahrung der Beteiligten. TÜV Süd Chemie Service übernahm die Sicherheitsprüfungen bei diesem komplexen Großprojekt.

Mit dem Startschuss zum Turnaround beginnt in Böhlen der Wettlauf gegen die Zeit. Dort, wo im normalen Betrieb knapp 600 eigene und etwa 300 Mitarbeiter externer Dienstleister arbeiten, unterstützen nun 1.200 zusätzliche Spezialisten verschiedenster Unternehmen und Gewerke. Viele Teile der Anlage werden auseinandergebaut, gewartet, bei Bedarf ersetzt und unter strengen Qualitäts- und Sicherheitsauflagen wieder zusammengebaut.

Modernisierung der Prozessleittechnik
Während dieses Turnarounds steht auch das Herzstück des Olefinverbundes von Dow, der Cracker, auf dem Prüfstand. Im Normalbetrieb wird hier das Rohbenzin in 15 Brennöfen bei einer Temperatur von rund 800 °C in kurzkettige Kohlenwasserstoffverbindungen wie Ethylen und Propylen aufgespalten. Aus diesen Ausgangsstoffen werden an den Dow-Standorten in Schkopau und Leuna hochwertige Kunststoffe produziert. Eine Besonderheit der Anlage in Böhlen ist, dass der im Cracker erzeugte Prozessdampf auch in anderen Anlagenteilen genutzt wird. Daher müssen diese zuerst heruntergefahren oder auf andere Art und Weise mit Dampf versorgt werden, bevor mit den Wartungsarbeiten begonnen werden kann. Einige Anlagen, die nicht mit Prozessdampf aus dem Cracker versorgt werden, laufen dagegen während des Turnarounds planmäßig weiter. Die komplexen Prozessabläufe sind eine besondere Herausforderung für das gesamte Team, denn Fehler könnten gravierende Folgen für die nachgeschalteten Prozesse haben.
Daher muss das Team während des Turnarounds einen exakten Überblick über die Stoffströme und die Füllstände der Lagertanks behalten. Auch die Auslastung der Energie- und Rohrsysteme sowie Verfügbarkeit alternativer Quellen für Arbeits- und Betriebsstoffe müssen jederzeit bekannt sein. Mit der Prozessleittechnik im Chemiewerk in Böhlen haben die Verantwortlichen die Situation im gesamten Anlagenverbund jederzeit im Blick. Dow-Mitarbeiter Reiko Hass, Stillstandsleiter und als Manager verantwortlich für den Turnaround, weiß jedoch: „Die Innovationszyklen in diesem Hightech-Bereich werden immer kürzer, gleichzeitig steigen die Anforderungen an die funktionale Sicherheit.“ Daher nutzt Dow die Gelegenheit, Messgeräte, Sensoren, Aktoren und andere Komponenten auszutauschen, um auch die Prozessleittechnik auf den neuesten Stand zu bringen.

Zwei Jahre Vorbereitungszeit
Dieses Mal stehen nicht alle Anlagen auf der Agenda. Doch auch ein reduzierter Turnaround wie dieser bedarf einer akribischen Planung. Die Vorbereitungsphase startete daher bereits über zwei Jahre vor Beginn der eigentlichen Wartungsarbeiten. In dieser Zeit wird das „Grundgesetz“ des Turnarounds, die To-do-Liste mit über 1.500 separaten Jobs und insgesamt 25.000 Sequenzen, also der einzelnen Arbeitsschritte, erstellt. Diese Arbeiten werden auf die rund 1.200 Experten und Spezialisten der verschiedenen Unternehmen und Zulieferer verteilt. Deren Zusammenarbeit zu koordinieren, ist eine der Hauptaufgaben des Turnaround-Teams. Denn nur bei einem reibungslosen Ablauf kann der ambitionierte Zeitplan eingehalten werden. Jeder verlorene Tag wäre kostspielig für das Unternehmen.
Allein durch den Produktionsausfall werden täglich Kosten in Höhe von 1 Mio. € verursacht. Bei 50 Tagen summiert sich dies auf 50 Mio. €. Hinzu kommen Investitionen von 42 Mio. € für den Turnaround und 3 Mio. € für verschiedene Modernisierungsmaßnahmen wie der Einführung eines neuen Prozessleitsystems. Damit betragen die Gesamtkosten für den Stillstand insgesamt rund 95 Mio. €. Daher wird während des Turnarounds jeden Abend geprüft, ob die Arbeiten bezüglich Effektivität und Fortschritt im Soll liegen. Falls nicht, sind flexible Lösungen seitens aller Beteiligten gefragt, die jedoch nie zu Lasten der Sicherheit gehen dürfen.
Um die Stillstandzeit zu minimieren, werden selbst die kleinsten Einzelteile wie Dichtungen, Schrauben, Bolzen oder Muttern frühzeitig vor dem Start des Turnarounds bestellt und in einem aus zwei Zelten bestehenden Materiallager in der Größe einer Werkshalle vorrätig gehalten. Zeitintensive Nachbestelllungen während des Turnarounds können so vermieden werden. Mindestens ebenso herausfordernd ist die Logistik für den Einsatz der vielen zusätzlichen Mitarbeiter. Für diese wurden eigens 290 Dusch- und Umkleidecontainer, 63 Bürocontainer und ein großes Küchenzelt bereitgestellt. Außerdem wurden ein zusätzlicher Großparkplatz und für die geregelte An- und Abfahrt eine zusätzliche Ampel errichtet.

Erfahrung ist unverzichtbar
Neben der perfekten Organisation ist vor allem die langjährige Erfahrung der Beteiligten entscheidend für das Gelingen eines so komplexen Projektes. Viele der Mitarbeiter sind regelmäßig alle fünf Jahre vor Ort und kennen die speziellen Gegebenheiten des Chemiewerks im Detail. So auch die mit den Prüfarbeiten betrauten Sachverständigen von TÜV Süd Chemie Service, deren Standort in Böhlen 2009 aus der Eigenüberwachung von Dow hervorging. Diplomingenieur Olaf Fuchs koordiniert die Prüf­arbeiten und steuert das regulär aus drei Mitarbeitern bestehende Team, das für den Turnaround auf insgesamt 13 Mitarbeiter aufgestockt wird. Sie reisen an aus den anderen Chemieparks der Republik, z. B. aus Schkopau, Frankfurt-Höchst und Dormagen.
Die meisten seiner Mitarbeiter sind über 40 Jahre alt und einige kennen die Anlagen bereits seitdem diese in Betrieb genommen wurden. Mit ihrer langjährigen Praxiserfahrung können sie z. B. Korrosionsbilder sicher analysieren und bewerten. Einige Schweißnähte sind bereits über 40 Jahre alt. Diese sind von ihrem Erscheinungsbild nicht mit denen einer Automatennaht von heute vergleichbar. Ungeachtet dessen können sie dennoch integer sein. Hier lohnt es, mit erfahrenem Blick genauer hinzuschauen, denn meist kann ein sicherer Weiterbetrieb bis zum nächsten Turnaround gewährleistet werden.

Höhere Sicherheitsstandards als gesetzlich gefordert
Das Thema Sicherheit hat für Dow einen hohen Stellenwert. So gehen die internen Sicherheitsvorschriften des Unternehmens vielfach über die gesetzlich geforderten Belange hinaus. 80 % der Sicherheitsprüfungen sind „legal related“ und somit gesetzlich vorgeschrieben. Diese haben damit auch die höchste Priorität. Die Prüfungen durch TÜV Süd Chemie Service erfolgen auf Grundlage der neuesten Fassung der Betriebssicherheitsverordnung inklusive dem Explosionsschutz, der jetzt in der Gefahrstoffverordnung geregelt ist. Bei diesem Turn­around gab es überwiegend innere Prüfungen und weniger der aufwendigeren Druckprüfungen. Letztere werden dann wieder beim nächsten großen Turnaround eine zentralere Rolle spielen, der in fünf Jahren erfolgen soll.
Nach welcher Zeit die nächste Prüfung genau erfolgt, kann der Betreiber innerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Rahmens selbst festlegen. Behälter, die unter Druck stehen, müssen jedoch spätestens alle fünf Jahre überprüft werden. Dieses Intervall muss gegebenenfalls verkürzt werden, wenn die Sachverständigen von TÜV Süd Chemie Service zu dem Ergebnis kommen, dass die Sicherheit für diesen Zeitraum nicht garantiert werden kann. Eine Verlängerung der Prüffrist kann nur – bis zu einem gewissen Grad – in Ausnahmefällen mit behördlicher Zustimmung erfolgen. Denn schließlich soll der Betrieb auch bis zum nächsten Turnaround reibungslos und sicher laufen.