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Krankheiten schneller und besser verstehen

Neue biologische Therapien haben die Medizin in den vergangenen Jahren stark verändert

18.10.2023 - Künstliche Intelligenz und Biologika eröffnen Chancen für eine zukunftsfähige Medizin, sagt Marion Zerlin, Forschungschefin bei Sanofi in Deutschland.

Biologika – Antikörper, Proteine oder Enzyme – sind große Moleküle, die aus lebenden Zellen in einem biotechnologischen Prozess hergestellt werden. Bereits seit den 1990er Jahren verbessern die auf diese Weise hergestellten Insuline das Leben von Menschen mit Diabetes erheblich. Neue biologische Therapien haben die Medizin in den vergangenen Jahren stark verändert und bieten Hoffnung für viele Menschen mit schweren Erkrankungen. Im Jahr 2021 lag der Anteil an Biologika bei den Neuzulassungen in Deutschland bereits bei 46%, Tendenz steigend.

Andrea Gruß sprach mit Marion Zerlin, seit August 2023 Geschäftsführerin Forschung & Entwicklung bei Sanofi in Deutschland, über diesen und andere Trends in der Pharmaforschung und die Bedeutung des BioCampus Frankfurt für die weltweite Forschung von Sanofi.

CHEManager: Ein gesundes Leben für alle Menschen, so lautet eines der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen dafür, dass wir dieses Ziel erreichen?

Marion Zerlin: Die Herausforderungen für gesundes Leben – und damit verbunden, nicht krank zu sein – lassen sich in drei Bereiche unterteilen. Zum einen müssen wir die steigende Zahl an Erkrankungen, wie Diabetes, Demenz, Krebs- und Herz-Kreislauferkrankungen, im Blick haben. Eine weitere Herausforderung sind zunehmend resistente Keime oder überraschende Wellen an Infektionskrankheiten, wie wir sie zuletzt mit der Coronapandemie erlebt haben. Und ein dritter Bereich umfasst Krankheiten, die bislang nur in anderen Klimazonen existierten und sich aufgrund der globalen Erwärmung in Europa ausbreiten werden, wie zum Beispiel Malaria. Diesem breit gefächerten Spektrum an klassischen und neuen Krankheiten müssen wir uns stellen.

Welchen Beitrag leistet die Forschung von Sanofi dazu?

M. Zerlin: Unsere Pipeline ist im ständigen Wandel. Wir stellen uns immer wieder neu die Frage: Welche Krankheiten verstehen wir besser? Wo können wir in den genannten Bereichen neue Ansätze liefern?

Und wie können wir zum Wohlergehen von Patienten beitragen? Wir möchten entsprechende Innovation schaffen, die first-in-class und/oder best-in-class sind, das heißt, Medikamente, die wirklich einen Mehrwert schaffen. Dabei setzen wir Schwerpunkte auf schwer behandelbare Erkrankungen und Immunisierung.
Um ein paar Zahlen zu nennen: Aktuell umfasst unsere globale F&E-Pipeline 78 Projekte in der klinischen Entwicklung – Arzneimittel- und Impfstoffkandidaten. Von diesen sind bereits 23 Projekte in der klinischen Phase 3 oder den Zulassungsbehörden zur Genehmigung vorgelegt worden. Im Jahr 2022 haben wir über 6,7 Mrd. EUR in die Forschung und Entwicklung investiert. Weltweit erforschen und entwickeln Mitarbeitende von Sanofi an etwa 20 Standorten neue Medikamente und Impfstoffe. Darunter Wirkstoffe gegen Autoimmunerkrankungen, wie Asthma oder atopische Dermatitis aber auch Krebserkrankungen, Multiple Sklerose oder seltene Bluterkrankungen.

Welche Rolle spielt der Standort Frankfurt-Höchst für Sanofi?

M. Zerlin: In Frankfurt liegen nicht nur unsere Wurzeln, der Standort ist auch der größte integrierte Produktions- und Fertigungsstandort von Sanofi weltweit und an der Wertschöpfungskette vieler Arzneimittel beteiligt. Dazu gehören unter anderem Insuline – die wir seit 100 Jahren dort produzieren (vgl. Infokasten) – aber auch innovative Biologika für die Onkologie und Immunologie. Insgesamt sind hier etwa 6.200 Mitarbeitende tätig, davon rund 1.000 in der Forschung.

Welchen Beitrag leistet Frankfurt zur Sanofi-Forschung?

M. Zerlin: Frankfurt ist ein wichtiger Teil unseres europäischen Forschungsnetzes. Wir haben dort unsere Forschung und Entwicklung auf die Bereiche Immunologie und entzündliche Erkrankungen spezialisiert. Darüber hinaus zählen beispielsweise auch die Onkologie sowie seltene Erkrankungen zu unserer Forschungsexpertise. Und nicht zuletzt sind unsere Teams am Standort langjährige Experten im Bereich Diabetes.

Im BioCampus Frankfurt betreiben wir medizinische Forschung, Entwicklung und Industrialisierung von biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln, sogenannten Biologika, die eine immer bedeutendere Rolle in der medizinischen Versorgung spielen. Auch bei der Entwicklung neuartiger Therapeutika für immunologische Erkrankungen, wie Atemwegs- und Hauterkrankungen und andere inflammatorischen Erkrankungen, sind wir gut aufgestellt.

Der BioCampus ist ein Verbund von Forschung und Entwicklung auf der einen und Produktion und Fertigung auf der anderen Seite. Wir bündeln hier die gesamte Wertschöpfungskette von der frühen Forschung über die Entwicklung und Herstellung des Wirkstoffes bis hin zum fertig verpackten Arzneimittel. Alle Einheiten bis hin zum Marketing arbeiten Hand in Hand. Diese Verbundstruktur und der Fokus auf Biologika machen den BioCampus zu einem strategisch wichtigen Forschungsstandort für Sanofi, denn bei rund 80% unserer oben genannten Forschungsprojekte handelt es sich um Biologika.

Welche weiteren Trends werden in Zukunft in der Pharmaforschung an Bedeutung gewinnen?

M. Zerlin: Die transformative Medizin beziehungsweise Fortschritte in der Gen- und Zelltherapie werden die Pharmalandschaft ganz wesentlich verändern. Gene-Editing-Technologien, wie zum Beispiel CRISPR/Cas, ermöglichen neue Therapieansätze bei der die molekularen Ursachen von Krankheiten korrigiert oder schließlich auch geheilt werden. Sanofi setzt sich mit neuen Technologieplattformen auch für die Entwicklung von Zell- und Gentherapien ein. Dabei ist uns wichtig, dass wir in Deutschland diese neuen innovativen Therapiekonzepte in klinische Studien und zur Zulassung bringen können.

Wie wirken sich diese Trends auf Ihre Forschung in einzelnen Indikationsgebieten aus?

M. Zerlin: Unsere Pipeline hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Wir haben sie diversifiziert und um unterschiedliche Forschungsansätze erweitert. Mehr als die Hälfte unserer Forschungsprojekte entfallen derzeit auf die Immunologie sowie seltene Erkrankungen, rund 30 % auf die Onkologie. Krebs ist nicht eine Krankheit, sondern hat viele Facetten – es ist fast schon eine personalisierte Krankheit. Dies erfordert zum einen eine gute Diagnostik, um die molekularen Ursachen der entsprechende Krebsform zu verstehen, um so den geeignetsten Therapieansatz auszuwählen.

 Als Erweiterung unseres Onkologie-Portfolios mit neuem, zelltherapeutischem Ansatz haben wir die niederländische Firma Kiadis akquiriert, deren Integration ich begleitet habe. Hier erforschen wir therapeutische Ansätze mit natürlichen Killerzellen, die in jedem menschlichen Körper existieren, und als körpereigene Waffen gegen Krebstumore aktiviert werden sollen.

Wir verfolgen auch andere kluge Therapieansätze bei denen Biologie und Chemie miteinander verknüpft werden, mit sogenannten Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten. Dabei werden Antikörper mit einem hoch wirksamen Zelltoxin beladen und gezielt in eine Krebszelle eingeschleust, um diese dort zielgerichtet zu zerstören. Der Vorteil solcher innovativer Biologika ist ihre hoch spezifische Wirkung, damit leisten sie einen Beitrag zur personalisierten Medizin.

Mit welchen Investitionen ist die Entwicklung eines neuen Medikaments verbunden?

M. Zerlin: Es dauert im Schnitt 13 Jahre und kostet bis zu 2 Mrd. EUR, bis ein Medikament eine Zulassung erhält. Der Fortschritt der Digitalisierung in der Pharmaforschung macht uns jedoch Hoffnung, Medikamente künftig gezielter und schneller zu entwickeln und damit auch einen Beitrag zu einer entsprechenden Wirtschaftlichkeit zu leisten.

Schon heute nutzen wir Automatisierung und Digitalisierung, um Zehntausende von Wirkstoffen gleichzeitig zu testen und Molekülstrukturen am Computer zu designen. Künstliche Intelligenz wird uns künftig helfen, die Biologie beziehungsweise die molekularen Zusammenhänge von Krankheiten besser zu verstehen. Wir haben basierend auf klinischen Studien Modelle entwickelt, sogenannte virtuelle Patienten. Diese nutzen wir in der frühen Phase der Forschung, um zu simulieren, wie ein Wirkstoff im Körper metabolisiert wird. So können wir gezielter entscheiden, welche Moleküle wir in die klinischen Studien geben.

Um die zu Beginn dieses Interviews genannten Herausforderungen zu bewältigen, müssen wir besser verstehen, wie Krankheiten entstehen. Welcher molekulare Mechanismus steckt hinter einer Krankheit? Nur dann können wir Patienten schneller und wirksamer versorgen. Wir sind überzeugt, die Digitalisierung und innovative biopharmazeutische Verfahren werden uns dabei helfen.

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ZUR PERSON
Marion Zerlin
ist seit 1. August 2023 Geschäftsführerin Forschung & Entwicklung bei Sanofi in Deutschland. Sie hat zudem eine globale Funktion als Head of CMC Project Management (Chemical Manufacturing & Control) inne. Von 2018 bis 2020 unterstütze sie den globalen Forschungsvorstand bei der Transformation der F&E-Organisation weltweit. Zuletzt verantwortete sie die Akquisition von Kiadis, eine neue Zelltherapie-Plattform mit Sitz in den Niederlanden. Die Biologin promovierte in organischer Chemie und trug zur Zulassung vieler Arzneimittel des Portfolios von Sanofi bei.

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100 Jahre Insulinproduktion „made in Frankfurt“

Die Entdeckung des überlebenswichtigen Hormons Insulin im Jahr 1921 markiert einen bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte der Diabetesbehandlung. Lange Zeit war eine strenge Diät die einzige Therapieoption für Betroffene. Insbesondere beim Typ-1-Diabetes führte die Stoffwechselerkrankung zu einem frühen Tod. Doch dann gelang es den beiden Forschern und Medizinern Frederick Banting und Charles Best in Kanada, Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Tieren zu extrahieren. Die Behandlung mit Insulin war der entscheidende Durchbruch, der es seither Menschen mit Diabetes ermöglicht, mit der Erkrankung zu leben.

1923 begann die Produktion von Insulin im industriellen Stil in Frankfurt Höchst auf dem heutigen BioCampus von Sanofi – ein wichtiger Meilenstein in der Versorgung von Millionen Menschen mit Diabetes auf der ganzen Welt. Heute produziert Sanofi Insulin in Frankfurt rein biotechnologisch. Dieser aufwändige Prozess basiert auf genetisch modifizierten Bakterien und benötigt 130 Einzelschritte. Dabei entstehen, abhängig von den verwendeten Bakterien, unterschiedliche Insuline. Daraus werden jährlich etwa 500 Mio. Insulinpatronen produziert und rund 450 Mio. Insulinpens von Frankfurt aus in die Welt verschickt.

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