Logistik & Supply Chain

Supply-Chain-Strategien in der Pharmaindustrie

Die strategische Ausrichtung der Supply Chain schafft Vorteile im Wettbewerb

18.01.2012 -

In Zeiten steigenden Kostendrucks und wachsender Nachfrageschwankungen in der Pharmaindustrie wird die Wahl einer geeigneten Supply Chain zum zunehmend entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Zur Auswahl geeigneter Supply-Chain-Strukturen existieren in der Forschung verschiedene Konzepte. In Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie hat das BWI Betriebswissenschaftliche Zentrum der ETH Zürich diese Konzepte für die Pharmaindustrie weiterentwickelt.

Lange Zeit beherrschte und prägte das Ziel einer hohen Lieferzuverlässigkeit die Gestaltung von Supply-Chain-Strukturen in der Pharmaindustrie. Sehr hohe Deckungsbeiträge sowie relativ konstante Nachfragebedingungen führten zum Aufbau von kundennahen Lagerbeständen in der Supply Chain. Aus diesen ließen sich Großhändler und andere Kundengruppen zuverlässig bedienen.

Bestandskosten und Durchlaufzeiten für die Wiederbefüllung der Lager waren dabei eher von untergeordneter Wichtigkeit. Mehr und mehr ändern sich jedoch die branchenspezifischen Rahmenbedingungen in der Pharmaindustrie. Eine wachsende Bedeutung der Generikahersteller, ein Rückgang an Blockbuster-Medikamenten sowie eine stärkere Leistungs- und Preisorientierung staatlicher Zulassungsbehörden tragen dazu bei, dass der Wettbewerb in der Branche und damit auch der Kostendruck deutlich steigen.

Zudem erfordern prozessuale Veränderungen, wie der vermehrte Einsatz von Tender-Modellen zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen, zunehmend flexible Strukturen und Abläufe in der Supply Chain. Um auch zukünftig wettbewerbsfähig im Pharmamarkt zu agieren, ist eine Berücksichtigung dieser Entwicklungen bei der strategischen Gestaltung der Supply Chains von morgen bereits heute von großer Bedeutung.

Supply-Chain-Strategie
Supply Chain Management wird in der Literatur definiert als Ansatz zur effizienten Integration und Koordination von Material-, Informations- und Finanzflüssen entlang der Wertschöpfungskette, der bewirkt, dass die Ware sich in der richtigen Menge am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt befindet [1]. Branchenunabhängige Konzepte zur strategischen Ausrichtung der Supply Chain sind in der Forschung bereits weit verbreitet.

Führende Konzepte auf dem Gebiet basieren auf der Annahme, dass die Dimensionen „Produkt" und „Markt" die entscheidenden Parameter für die Konfiguration einer Supply Chain sind. Ausgehend von diesen Konzepten ist in Abb. 1 die vom BWI entwickelte Markt-Produkt-Matrix zur Auswahl generischer Supply-Chain-Strategien dargestellt:

Insgesamt unterteilt sich die Matrix durch eine Gliederung nach Produkten mit hohen bzw. niedrigen Deckungsbeiträgen sowie Märkten mit hohen bzw. geringen Nachfrageschwankungen in vier abgegrenzte Quadranten. Jeder dieser Quadranten steht für eine eigenständige Supply-Chain-Strategie:

  • Lieferfähigkeit und -zuverlässigkeit
    Bei hohen Deckungsbeträgen und geringen Nachfrageschwankungen ist die Sicherstellung der Versorgung das bestimmende Ziel der Supply Chain. Eine nahezu 100-prozentige Versorgungssicherheit wird hierbei erreicht durch hohe Bestände beim Kunden, die durch robuste Prozesse kontinuierlich nachgefüllt werden.
  • Optimierung der Kosteneffizienz
    Niedrige Deckungsbeiträge führen dazu, dass eine kosteneffiziente Ausrichtung der Supply Chain unter Berücksichtigung der Lieferfähigkeit und Lieferzuverlässigkeit im Vordergrund steht. Bei geringen Nachfrageschwankungen lässt sich dies durch eine entsprechende Planung kostenminimaler Produktions- und Distributionsaufträge erreichen [2].
  • Optimierung der Reaktionsfähigkeit
    Bei hohen Nachfrageschwankungen treten unvorhersehbare Bedarfe in der Supply Chain auf. Vorproduzierte Bestände in kundennahen Lagern können entsprechend falsch oder nicht ausreichend sein. In diesen Fällen lassen sich durch flexible und schnelle Produktions- und Distributionsprozesse Schwankungen ausgleichen.
  • Optimierung der Kosteneffizienz und Reaktionsfähigkeit
    Niedrige Deckungsbeiträge und hohe Nachfrageschwankungen verlangen nach einer Supply Chain, die gleichzeitig kosteneffizient und reaktionsfähig ist. In der Praxis kommen in diesem Fall häufig so genannte Postponement-Ansätze zum Einsatz, bei denen das Produkt erst zum spätmöglichsten Zeitpunkt für einen Kunden bzw. einen Markt spezifiziert wird.

 

Die branchenübergreifend einsetzbare Produkt-Markt-Matrix belegt, dass Supply Chains zum Erzielen von Wettbewerbsvorteilen gemäß Produkt- und Marktgegebenheiten auszurichten sind. Um eine Marktführerschaft in kompetitiven Märkten zu erreichen, sind „One-size-fits-all-approaches" nicht zielführend.

Anwendung auf die Pharmaindustrie

Im Rahmen einer Studie, die das BWI mit insgesamt sieben Pharmaherstellern zum derzeitigen Status-quo ihrer Supply-Chain-Strukturen und -Abläufe durchgeführt hat, konnte gezeigt werden, dass die heutige Ausrichtung pharmazeutischer Supply Chains größtenteils dem Quadranten links unten in Abb. 1 zuzuordnen ist [3].

In pharmazeutischen Supply Chains werden hohe Bestände an Fertigwaren in lokalen Standorten gelagert, um eine 100-prozentige Versorgungssicherheit und damit die Vermeidung hoher Opportunitätskosten bei Nicht-Lieferfähigkeit gewährleisten zu können. Dieser serviceorientierte Ansatz zur Ausrichtung der Supply Chain fand in Zeiten hoher Deckungsbeitrage und geringer Marktschwankungen durchaus seine Berechtigung.

Wie oben bereits erwähnt, verändert sich allerdings zunehmend der globale pharmazeutische Markt in Folge der vermehrten Präsenz von Generikaherstellern sowie veränderten Vertriebskanälen. Gerade im hartumkämpften Markt der Pharmaprodukte mit abgelaufenen Patenten führt dies zu hohen Nachfrageschwankungen und geringeren Deckungsbeiträgen.

Um konkurrenzfähig am Markt für Pharmazeutika zu agieren, sind die Supply Chains für diese Art von Produkten zunehmend kosteneffizient und reaktionsfähig zu gestalten. Demzufolge ist eine Verschiebung der Supply-Chain-Strategie vom Quadranten links unten zum Quadranten rechts oben empfehlenswert. Hierbei können insbesondere Postponement-Konzepte im Prozess der Verpackung pharmazeutischer Produkte wirksam eingesetzt werden.

Für innovative, patentgeschützte Produkte lassen sich auch in Zukunft hohe Deckungsbeiträge in der pharmazeutischen Industrie erzielen. Durch Parallelimporte, die in der europäischen Union durch staatliche Behörden zunehmend gefördert werden, ist allerdings auch in diesem Produktsegment eine Zunahme unvorhersehbarer Nachfrageschwankungen wahrscheinlich.

Eine Steigerung der Reaktionsfähigkeit der Supply Chain durch eine Verschiebung vom Quadranten unten links in den Quadranten unten rechts ist daher für dieses Produktsegment ratsam. Am effizientesten lässt sich dabei die Reaktionsfähigkeit der Supply Chain durch eine Reduzierung der Durchlaufzeiten in der Distribution sowie in der Verpackung, in der heute die Marktspezifizierung der Produkte erfolgt, erreichen.Fazit

Aktuell hat die pharmazeutische Industrie mit einer Vielzahl von strukturellen Veränderungen zu kämpfen. Mit diesen gehen ein steigender Kostendruck sowie höhere Nachfrageschwankungen einher. Das Aufkommen verschiedenster Produkttypen mit unterschiedlichen Charakteristika erfordert zunehmend die Implementierung differenzierter Supply-Chain-Strategien.

Hierdurch lassen sich je nach Produkttyp die Kosteneffizienz und/oder die Reaktionsfähigkeit der pharmazeutischen Supply Chain steigern. Das Supply Chain Management kann so in der Pharmaindustrie seinen Beitrag leisten, auch langfristig erfolgreich und wettbewerbsfähig im Pharmamarkt zu agieren.


Literatur
[1] Gibson, B.J.; Mentzer, J.T.; Cook, R.L.: Supply Chain Management - The Pursuit of a consensus Definition, Journal of Business Logistics, Vol. 26 No. 2, 2005.
[2] Cooper, J.C.: Logistics strategies for Global Businesses, International Journal of Physical Distribution & Logistics Management, Vol. 23 No. 4, 1993.
[3] Verhasselt, S.; Festel, G.; Schönsleben, P.: Supply-Chain-Strukturen und -Abläufe in der Pharmaindustrie. In: Pharmazeutische Industrie, Article in Press.

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