Anlagenbau & Prozesstechnik

Sustainability durch Prozessautomation

Mehr Effizienz und Nachhaltigkeit durch Automatisierung, Digitalisierung und Modularisierung in der Prozessindustrie

20.02.2024 - Mit Automatisierung, Digitalisierung und Modularisierung kann die Prozessindustrie mehr Nachhaltigkeit erreichen und gleichzeitig anderen Herausforderungen begegnen.

ZVEI und NAMUR zeigen in einer gemeinsamen Broschüre auf, wie die Prozessindustrie mit den Enablern Automatisierung, Digitalisierung und Modularisierung mehr Effizienz und Nachhaltigkeit erreichen und gleichzeitig Herausforderungen wie Fachkräftemangel und Lieferkettenresilienz begegnen kann.

Die Kooperation von NAMUR und ZVEI, also von Anwendern und Herstellern von Prozessautomatisierung, hat in den letzten Jahren viele Projekte mit dem Fokus auf Mehrwert hervorgebracht. Dazu gehören die Implementierung von NAMUR-Open-Architecture (NOA)-Projekten für effizientere, flexiblere und inter­operable Lösungen in der Prozessautomatisierung, oder die Umsetzung von Module-Type-Packages (MTP)-Projekten für eine modulare, anpassungsfähige Produktion. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Schaffung von firmenübergreifenden sicheren und intelligenten Datenräumen in der Prozessindustrie. Durch den Austausch bewährter Praktiken und die Entwicklung gemeinsamer Standards sollen so die Grundlagen für eine vertrauenswürdige und datengetriebene Zukunft gelegt werden.

Stefan Krämer, der bei Bayer die Gruppe „Process Performance Improvement“ leitet, die sich global um die Verbesserung von Produktionsprozessen mit Hilfe von Simulation, Datenanalyse und Prozessregelung kümmert, und in der NAMUR für das Arbeitsfeld 2 „Prozess- und Betriebsführungssysteme“ verantwortlich zeichnet, äußert sich gegenüber CHEManager dazu: „Die Zusammenarbeit zwischen NAMUR und ZVEI ist für die Betreiber von Prozessanlagen und die Hersteller von Automatisierungslösungen essenziell. Der regelmäßige Austausch führt zu starken technischen Lösungen, die viele Bereiche wie z. B. das Energiemanagement, die Ressourceneffizienz und die Nachhaltigkeit verbessern. Effizientere Prozesse brauchen hohes Prozessverständnis und einen hohen Automatisierungsgrad.“ Und Michal Pelz von Heubach Colorants Germany, stv. Vorstandsvorsitzender der NAMUR, betont: „Neu entwickelte Technologien und ein gemeinsames Verständnis, wie eine effektivere Digitalisierung zur Nachhaltigkeit beiträgt, sind mittlerweile verfügbar und bekannt. Demgegenüber stehen negative Auswirkungen der aktuellen Kriege, Rohstoffknappheiten, Inflation, hohe Energiepreise und weitere Unsicherheiten durch Wahlen in den USA. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um „Neuem“ eine Chance zu geben, oder eingefahrene Geschäftsprozesse endlich durch nachhaltigere zu ersetzen. Aber nur Veränderung bedeutet langfristig zu wachsen oder gar zu überleben. Also: Mutig sein und in die Zukunft investieren!“

Wie die Prozessautomatisierung ein Wegbereiter auf dem Weg zur Klimaneutralität der Prozessindustrie sein kann, beschreibt die Broschüre „Sustainability durch Prozessautomation“, die von ZVEI und NAMUR gemeinsam herausgegeben und auf der NAMUR Hauptsitzung 2023 vorgestellt wurde.

 

Stefan Krämer, ZVEI © Bayer   Stefan Krämer, Head of Process Performance Improvement, Bayer

„Effizientere Prozesse brauchen hohes Prozessverständnis und einen hohen Automatisierungsgrad.“

 

Der Weg zur Klimaneutralität

Die Prozessindustrie, eine der großen Energieverbraucherinnen, will den Weg zur Klimaneutralität so schnell wie möglich mitgehen und diese bis 2050 erreicht haben. Ein wichtiger Wegbereiter (Enabler) dafür ist die Prozessautomatisierung, die sozusagen die Augen und das Hirn der Anlagen bildet und das Bedienpersonal beim optimalen Betrieb unterstützt. Felix Seibl, Geschäftsführer des Fachbereichs „Messtechnik und Prozessautomatisierung“ im ZVEI meint dazu: „Derzeit haben wir etwa 10 % der Energieeffizienzhebel in Bewegung gesetzt. Auf lange Sicht reicht das nicht, aber wir sind auf einem guten Weg, weitere 40 % zu erreichen – und dazu stehen uns unter anderem, mit den in unserer Broschüre genannten Produkten, Lösungen und Projekten vielversprechende Instrumente zur Verfügung.“

Die Industrie versursacht 22 % der deutschen Treibhausgasemissionen durch

  • direkte energiebedingte Emissionen durch Verwendung fossiler Brennstoffe zur Bereitstellung von Energie
  • indirekte energiebedingte Emissionen, die für verwendeten Strom anfalllen
  • prozessbedingte Emissionen durch Verwendung von fossilen Brenn- und Rohstoffen direkt im Produktionsverfahren.

Nach ZVEI-Schätzungen lassen sich mindestens die Hälfte der benötigten Energieeffizienzgewinne durch eine flächendeckende Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung und Modularisierung erreichen. Dabei sind natürlich Investitionen in den verfahrenstechnischen Anlagenbau notwendig, um fossile Energieträger abzulösen oder Erzeugung und Einsatz von grünem Wasserstoff voranzutreiben.

Für die Prozessindustrie war die Einsparung von Energie schon immer wichtig, weil die Energiekosten einen großen Anteil der Fertigungskosten darstellen. Aber auch der sparsame Umgang mit den Ressourcen und die Emissionsvermeidung waren schon früh wichtige Antriebe. Dabei wurden Maßnahmen bevorzugt, die wirtschaftlich sinnvoll oder zumindest vertretbar waren wie Wärmerückgewinnung der Abwärmeströme mit hoher Temperatur oder Verbesserungen der Fahrweise im Betriebsalltag. Allerdings erfordern Anlagenmodifikationen, Anlagenneubau oder sogar die Entwicklung noch nachhaltigerer Verfahren hohe Investitionen. Außerdem sind sie arbeitsaufwändig und benötigen hoch qualifizierte Fachkräfte. Auch die hohe Komplexität von Automatisierungsaufgaben hat gute Ansätze verhindert.

Sustainability darf nicht als losgelöste Teilaufgabe gesehen oder verabsolutiert werden. Grundvoraussetzung ist: Die Wettbewerbsfähigkeit muss erhalten bleiben. Nur so kann der Industriestandort Deutschland aus Sicht der Prozessindustrie erhalten und weiterentwickelt werden. Auch unter ökologischen Gesichtspunkten ist nichts gewonnen, wenn z.B. Chemieanlagen in Deutschland, die bereits hohe Anforderungen erfüllen, geschlossen werden und stattdessen Anlagen in anderen Ländern mit niedrigeren Anforderungen an Ökologie verlagert werden.

Doch jetzt ist durch hohe Energiekosten, verbindliche Nachhaltigkeitsziele und politische und gesellschaftliche Erwartungen einerseits der „Leidensdruck“ gestiegen, andererseits schaffen innovative Technologien neue und kostengünstigere Möglichkeiten: Bessere Sensorik, standardisierte Schnittstellen, Werkzeuge der IT und andere mehr erlauben es, vorhandene Möglichkeiten besser zu nutzen. Ein „Desinteresse an Abwärme“ bspw. geht einfach nicht mehr.

Innovative Sensorik und Aktorik

Die Einbindung von zusätzlichen Sensoren ist einfacher geworden, sei es durch Funklösungen oder durch standardisierte Informationsmodelle. Das ermöglicht die Realisierung von Online-Monitoring und Online-Optimierung. Neue Aktoren wie ein Ventil mit integrierten Sensoren oder eine Ventilansteuerung mit vielen intelligenten Apps ermöglichen dezentrale Optimierungen. So lassen sich in vielen Anwendungen Optimierungen bezüglich Energie- und Rohstoffeinsparungen erzielen, z.B. durch

  • Überwachung von Kondensatableitern
  • Überwachung von Druckluftnetzen
  • Monitoring von Dampf- und Gasnetzen
  • Überwachung des Wirkungsgrads von Dampfkesseln
  • Überwachung von Sicherheitsventilen
  • Vorausschauende Wartung von Wärmepumpen
  • Überwachung von Wärmetauschern
  • Korrosionsüberwachung
  • Emissionserfassung von Treibhausgasen
  • Control Performance Monitoring.

An konkreten Beispielen wie der Online-Überwachung in einer Molkerei oder Prozessanalysentechnik für das Recycling macht die Broschüre den Nutzen moderner Sensorik klar.

 

Michael Pelz, © Heubach   Michael Pelz, Automation & Digitization Manager, Heubach Colorants Germany

„Neu entwickelte Technologien für eine effektivere Digitalisierung sind mittlerweile verfügbar und bekannt.“

 

Energiemanagement und PFC

Ohne Transparenz lässt sich kein Ist-Zustand feststellen, kein Ziel festlegen und kein Plan für Verbesserungen machen. Aus diesem Grund führen viele Unternehmen Energiemanagementsysteme nach der ISO-Norm 50001 ein. Das ist zwar keine Verpflichtung, jedoch in Deutschland Voraussetzung für wichtige Steuererleichterungen wie den Spitzenausgleich oder die Begrenzung der EEG-Umlage. Unabhängig von diesen regulatorischen Anforderungen können Energiemanagementsysteme nicht nur monitoren, sondern den Betrieb so steuern, dass möglichst wenig Energie verbraucht wird. „Der Schlüssel für die Realisierung einer nachhaltigen Prozessindustrie liegt in der Steigerung von Effizienz und Output bei gleichzeitiger Senkung der Energieverbräuche. Entscheidend ist hierfür der Einsatz offener und sicherer Digitalisierungslösungen für mehr Datentransparenz.“ betont Wilfried Grote, Director Global Industry Management Chemicals and Pharmaceuticals bei Phoenix Contact.

Nicht nur wegen regulatorischer Bestimmungen, sondern auch aufgrund steigender Kundenanforderungen und des öffentlichen Bewusstseins stehen Industrieunternehmen vor der großen Herausforderung, den gesamten CO2-Fußabdruck ihrer Produkte, den sog. Product Carbon Footprint (PCF), nahtlos zu erfassen. Die Herausforderung liegt hierbei darin, dass Emissionen an allen Stufen der Lieferkette entstehen und deshalb nicht nur vor Ort erfasst, sondern auch zwischen Unternehmen ausgetauscht und aufaddiert werden müssen. Aktuell werden in den meisten Fällen Durchschnittswerte für die Emissionsberechnung verwendet, die jedoch lediglich statische Informationen liefern. Um tatsächlich datenbasierte Entscheidungen für wirkungsvolle Reduktionsmaßnahmen treffen zu können, ist ein dynamischer PCF notwendig, der die realen, aktuellen CO2-Werte vor Ort abbildet, und entlang der Lieferkette aggregiert wird.

Stefan Krämer resümiert: „Ein Kernthema aller Initiativen zum Thema Nachhaltigkeit ist das Erkennen von Potenzial und der Nachweis, dass die Umsetzung von Maßnahmen erfolgreich war. Der einfachste und oft schnell umsetzbare Ansatz ist eine Verbesserung durch Änderungen im Anlagenbetrieb.“

 

Felix Seibl, GF Messtechnik und Prozessautomatisierung, ZVEI © ZVEI   Felix Seibl, GF Messtechnik und Prozessautomatisierung, ZVEI

„Derzeit haben wir etwa 10 % der Energieeffizienzhebel in Bewegung gesetzt.“

 

Werkzeuge zur Anlagenoptimierung

Viele digitale Werkzeuge stehen zur Verfügung, die nicht nur generell eine Flexibilisierung und Verbesserung des Anlagenbetriebs unterstützen, sondern damit auch – direkt und indirekt – zu mehr Nachhaltigkeit beitragen.

NOA, die NAMUR Open Architecture, ist ein Konzept, um auch bestehende, oft schon recht alte Anlagen sowie Neuanlagen zu optimieren.
Ethernet-APL, der Advanced Physical Layer, erlaubt 10 MBit/s Kommunikation bis ins Feld in der Prozessindustrie, wobei Eigensicherheit, Stromversorgung der Geräte und ausreichende Kabellängen über einen Zweidraht-Anschluss realisiert werden.

Wireless-Technologien erlauben die einfache Installation von Monitoring + Optimization (M+O) Sensoren zur Verbesserung der Prozesse.
Digitale Zwillinge als Replikat realer Objekte mit der Verwaltungsschale (VWS oder AAS, Asset Administration Shell) als universelles Datenaustauschformat können in allen Lebenszyklen einer Anlage Verbesserungen bewirken, z.B. auch im Trainingssimulator.
KI, künstliche Intelligenz, vor allem in ihrer aktuellen Inkarnation als Deep Learning, besitzt enormes Potenzial auch im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit der Prozessindustrien. KI ergänzt und interagiert mit benachbarten Feldern wie der Simulation und der mathematischen Optimierung.

Modulare Anlagen mit dem MTP-Konzept (Module Type Package) sind nicht nur in der Spezialchemie oder Pharmazie sehr attraktiv, um Flexibilität bei schwankenden Bedarfen und Prozessverbesserungen zu erreichen; sie kommen auch bei Elektrolyseuren oder für die smarte Integration von elektrischen Begleitheizungen zum Einsatz.

 

Wilfried Grote, Director Global Industry Management Chemicals and Pharmaceuticals, Phoenix Contact © Phoenix Contact   Wilfried Grote, Director Global Industry Management Chemicals and Pharmaceuticals, Phoenix Contact

„Entscheidend ist der Einsatz offener und sicherer Digitalisierungslösungen für mehr Datentransparenz.“

 

Ausblick

Es gibt eine Vielzahl technischer Lösungen für eine verbesserte Nachhaltigkeit in der Prozessindustrie, bei denen die Energieeffizienz und die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Fokus stehen. Aber auch andere Maßnahmen gehören zum Gesamtpaket der Sustainability wie z.B. die Kreislaufwirtschaft, der verantwortungsvolle Einsatz von Stoffen und die Lieferketten.

Eine Gesellschaft, die Nachhaltigkeit möchte – oder gar auf sie angewiesen ist – und die notwendigen Technologien und Experten zur Verfügung hat, sollte durch kollektive Entscheidungen die Weichen stellen, um deren Einsatz zu begünstigen. Dazu gehört eine zuverlässige und zeitgemäße digitale Infrastruktur ebenso wie eine Gesetzgebung, die den Technologieeinsatz vereinfacht. Zum Beispiel könnten Super­abschreibungen für klimafreundliche Technologien entsprechende Investitionen weiter begünstigen. Aber auch die Unternehmen müssen, gerade im Zusammenhang mit Abschreibungen, ihren zeitlichen Horizont erweitern und langfristig denken. Sehr viele klimafreundliche Maßnahmen sind im Kern Investitionen, die sich über gesteigerte Effizienz bezahlt machen. Statt Maßnahmen aufgrund längerer Amortisationszeiten zu verwerfen, sollten verstärkt Lebenszykluskosten betrachtet werden. Energieaudits und daraus resultierende Einsparungspläne, die über Energiemanagementsysteme überwacht werden, sollten aktiv im Unternehmen gelebt werden.

Autor: Volker Oestreich, CHEManager

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