Forschung & Innovation

Wertschöpfung durch Industriearchitektur

Erweiterung des Merck Serono Biotech Center in Vevey

20.10.2010 -

Mit der Übernahme des Biotechnologieunternehmens Serono S.A. durch die Merck KGaA im Jahr 2006 wuchsen nicht nur zwei pharmazeutische Traditionsfirmen zusammen. Der Wandel verlangte auch eine ganzheitliche Neugestaltung der gemeinsamen Firmenarchitektur. Am Serono-Sitz in Vevey in der Schweiz prägten lange Jahre Handwerksbetriebe und eine Tabakfabrik das idyllische Landschaftsbild. Heute ist dort mit Merck Serono ein Zentrum der Forschung, Entwicklung und Produktion von biotechnologischen Substanzen angesiedelt. Das Unternehmen produziert hier innovative Produkte, um Patienten bei Erkrankungen mit hohem therapeutischen Bedarf zu helfen. In Vevey werden Arzneimittel hergestellt, die bei Krebs, Multipler Sklerose, Unfruchtbarkeit, metabolischen und kardiometabolischen Erkrankungen sowie Psoriasis erfolgreich eingesetzt werden.

Industrierelikte
Ende 2006 wurde die HWP Planungsgesellschaft (HWP) mit dem Masterplan, der Objektplanung der Gebäude, der Ausschreibungskoordination und der Objektüberwachung für den Produktionsstandort in Vevey in der Schweiz beauftragt. Der damalige Status quo: Serono produzierte bereits seit 1999 im umfunktionierten Produktionsgebäude der ehemaligen Tabakfabrik. In der direkten Umgebung hatten sich im Laufe der Jahre aus der Umnutzung abgelebte Industriegebäude und Holzbaracken ergeben. Diese Industrierelikte mussten bei parallel weiterlaufender Produktion vor der ersten Baumaßnahme im Jahr 2007 zunächst komplett entfernt werden.

Architektonisches Konzept
Zur gleichen Zeit begann HWP mit der Erweiterung des Merck Serono Biotech Center (MSBC): Dieses Herzstück der Wirkstoffherstellung wurde um zwei weitere Produktionslinien ergänzt. Dafür plante HWP Reinräume, Büros, Technik- und Funktionsräume bei laufendem Betrieb. Im Gegensatz zur Umgestaltung der Raumfunktionalität und der dazu gehörenden Innenarchitektur wurde die Außenhülle nur durch einzelne Elemente wie z.B. durch ein verglastes Treppenhaus und durch Fensterbänder für die neuen Büros ergänzt.
Das Logistik Service Center (LSC) wurde als Neubau mit einem zur Straße ausgestreckten Hochregallager, dem so genannten Warehouse, konzipiert. Architektonisch von besonderem Wert ist die Fassadengestaltung des Hochregallagers. Die Idee - ein geplantes Lichtkonzept kombiniert mit innovativer Architektur - verleiht dem industriellen Gebäudekomplex einen einzigartigen Charakter und steigert den Identifikationsgrad der Bevölkerung mit dem sonst funktionalen Gebäudekomplex. Dazu wurde vor der eigentlichen Paneelfassade ein silbriges Kunststoffgewebe gespannt. Ein sorgfältig ausgearbeitetes Gesamtlichtkonzept setzt bei Nacht die Außenkanten des Gebäudes in Szene. Der Materialmix aus Glas, Sichtbeton und dunklen Faserzementplatten unterstreicht den modernen Charakter des Gebäudes.
Der Verbindungstunnel zwischen MSBC und LSC wurde als Hängebrückenkonstruktion neu gestaltet. Zwei abgehängte Fischbauchträger tragen diese Verbindungsbrücke, die zwei Funktionen in sich vereint: Die im LSC ankommenden Grundsubstanzen für die Wirkstoffproduktion werden über den Verbindungstunnel in das MSBC befördert. Anschließend gelangen die fertig produzierten Wirkstoffe wieder über denselben Verbindungstunnel zurück ins LSC und können gelagert oder versendet werden. Damit fungiert der Tunnel als doppeltes Bindeglied für den Warenfluss.
Das separat angeordnete Gatehouse ist die Hauptpforte, über die das gesamte Industriegelände erschlossen wird. Oberste Prämisse für Merck Serono ist die Gewährleistung der Sicherheit bei der Produktion der sensiblen medizinischen Wirkstoffe. Mit einem Schulungsraum und einem Raum für Krisensitzungen werden die Funktionalitäten des Gatehouse ergänzt. Für die architektonische Umsetzung wählten die Architekten einen lang gezogenen, vollverglasten Baukörper von etwa 30 m Länge. Als weitere industriell anmutende Materialien wurden Edelstahl und Beton gewählt. Neben den hochwertigen Materialien besticht das Gatehouse auch durch seine Formensprache: Eine um 5 Grad geneigte Betonscheibe dient als Gebäudeabschluss auf einer Seite des Baukörpers. Das weit auskragende Dach mit Edelstahlverkleidung soll einen Kontrapunkt zur vergleichsweise fragil wirkenden Glasfassade bilden. Als besonderes Identifikationsmerkmal des Gatehouse wurde ein honiggelbes Architekturelement angebracht.
Die Intention bei der Planung der Abwasserbehandlungsanlage und des Generators war die bestmögliche Integration in die Landschaft. Dazu wurden Materialien und Farben gewählt, die der Umgebung ähneln wie z.B. Holzelemente in Naturbraun, Bepflanzungen in sattem Grün und Flächen in Steingrau. Abgetreppte Stockwerke und Dachbegrünungen unterstützen die an die Natur angelehnte Gestaltung.

Planerische Leitlinien
Der erweiterte Industriekomplex greift unwillkürlich in die schweizerische Landschaft ein. Die Materialien, die Anordnung und das innovative Lichtkonzept der Neubauten und die Sanierung des Bestandes schaffen einen neuen Wert. Eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung des Architekturkonzeptes bestand im stark abfallenden Gelände. Dazu wurden große Höhenunterschiede durch architektonische Lösungen überwunden.
Neben den landschaftlichen Gegebenheiten wurden das Raumprogramm und die Funktionsvorgaben von Merck Serono bei der Umsetzung berücksichtigt. „Uns war eine konsultative, integrative Zusammenarbeit mit unserem Kunden wichtig, um die Bedürfnisse bestmöglich zu berücksichtigen," so Peter Wissler, Projektleiter bei HWP.
Noch in diesem Jahr werden alle Leistungen von HWP fertig gestellt und in Betrieb gehen. Die vollständige Nutzung aller Neubauten ist für 2012 geplant. Der Produktionsstandort in Vevey zählt dann zu den bedeutendsten Pharmaproduktionsstandorten weltweit. 

 

Funktionale Konzeption

Seit 40 Jahren plant und verwirklicht die HWP Planungsgesellschaft komplexe Projekte in der Hightech-Industrie, dem Gesundheitswesen und der Lehre und Forschung. HWP realisiert u.a. pharmazeutische und biotechnologische Produktionsanlagen, Universitäts- und Spezialkliniken und Forschungseinrichtungen. Dipl.-Ing. Architekt Peter Wissler, der Projektleiter im Merck Serono S.A. Large Scale Biotech-Projekt, arbeitet seit 20 Jahren bei HWP. Er erläutert die Besonderheiten des Projektes.

CHEManager: Herr Wissler, worauf legte Ihr Kunde bei der Konzeption der Neubauten besonderen Wert?

P. Wissler: Merck Serono verfolgte bei der Konzeption der Neubauten verschiedene Zielsetzungen: Wichtig war es z.B., eine funktionale Konzeption für optimale Prozess- und Betriebsabläufe zu entwickeln. Darüber hinaus waren aber auch andere Kriterien bedeutend: Eine gestalterische Prämisse bestand darin, hohe räumliche Qualitäten für das Wohlbefinden aller Mitarbeiter zu schaffen. Dies haben wir etwa durch den Tageslichtbezug in allen Räumen - auch in den Produktionsräumen - realisiert. Ein weiteres Ziel war es, sich von vorneherein die Akzeptanz der Bevölkerung zu sichern. Unsere Lösung besteht darin, die örtlichen Gegebenheiten der Schweizer Alpen optimal in unsere Konzeption einzubeziehen und ein Industriegebäude mit echtem Wiedererkennungswert zu schaffen. Die Menschen identifizieren sich so mit dem Bauvorhaben und sehen darin einen Zugewinn für die Region.

Welche baulichen Besonderheiten mussten in den Bereichen für die biopharmazeutische Produktion berücksichtigt werden?

P. Wissler: Die bauliche Besonderheit des Projektes bestand darin, dass wir zunächst einmal die Voraussetzungen für den Bau schaffen mussten. Die geografische Lage war mit den steilen Hängen und den geringen Erweiterungsmöglichkeiten auf dem Gelände eine nicht alltägliche Herausforderung. Hinzu kam, dass auf dem Gelände verschiedene Altbauten vorhanden waren, die teilweise abgebrochen werden mussten, oder die im Fall der ehemaligen Tabakfabrik für eine Umnutzung erst gerüstet werden mussten. Ver- und Entsorgungseinrichtungen existierten nicht oder waren für die biopharmazeutische Produktion qualitativ nicht ausreichend. Hier mussten wir erst die Voraussetzungen schaffen. Alle wichtigen Elemente einer biopharmazeutischen Produktionsanlage mussten konzeptioniert und umgesetzt werden. Unsere Aufgabe war es, die Anlieferung, die Lagerung, die Verteilung der Rohprodukte, die Endlager für die Produkte, die Notstromanlagen, die Tanklager für Chemikalien, die Abwasserbehandlungsanlage, die Regenwasserrückhaltung sowie die Zuwege und die Parkplätze neu zu kreieren.

Welches Sicherheitskonzept wurde für den Standort und die neuen Gebäude - insbesondere für den Produktionsbereich gewählt?

P. Wissler: Das Sicherheitskonzept entspricht den hohen Standards von Merck in Darmstadt. Diese müssen auch bei Neuerwerbungen implementiert werden. Bei Merck Serono gibt es eine eigene Abteilung, die sich ausschließlich mit Sicherheitsfragen beschäftigt. Die hausinternen Sicherheitsregelungen gehen teilweise weit über die gesetzlichen Vorschriften hinaus. Dies betrifft die Belange des Brandschutzes z.B. für Gaslöschanlagen für Elektroräume und Maßnahmen für den Personenschutz. Auch bei der Durchführung der Baumaßnahme wurden die hohen Sicherheitsstandards angewendet. Die Sicherheitsvorkehrungen beinhalten die detaillierte Einweisung und Schulung der Mitarbeiter, der Besucher und des Personals von Drittfirmen, die Vorgaben der spezifischen Schutzausrüstung wie Helme, Sicherheitswesten und -schuhe, Schutzbrillen etc. Die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften wird laufend durch die Securitas kontrolliert. Weiterhin waren Belange des Werkschutzes nach den Merck internen Vorgaben zu berücksichtigen wie etwa die Sicherung des Betriebsgeländes und der Gebäude durch Zugangskontrollanlagen, Videoüberwachung, einbruchssichere Türen und Fenster und Alarmanlagen.