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TÜV Süd bringt Raffinerie-Shut-Down im bayerischen Burghausen erfolgreich über die Bühne

29.04.2015 -

Nach rund sechs Wochen Generalinspektion, Wartung und Instandhaltung ging die OMV Raffinerie in Burghausen, eines der wichtigsten Unternehmen im Bayerischen Chemiedreieck, wieder in Betrieb. Auch wurden aufeinander abgestimmte Anlagen angefahren, die mit der Raffinerie im Verbund stehen. Kosten von rund 42 Mio. EUR, über 600.000 Arbeitsstunden, in der Spitze 4.000 beteiligte Mitarbeiter und 0 Unfälle - das sind die Eckdaten des komplexen Großprojekts, das TÜV Süd Industrie Service sicherheitstechnisch und logistisch begleitet hat.

Der Shut Down einer Raffinerie ist nicht weniger als ein gigantisches Puzzle aus Stahl, das unter hohem Zeitdruck und maximalen Sicherheitsanforderungen einmal komplett zerlegt und wieder exakt zusammengesetzt wird. Jedes einzelne Teil wird gekennzeichnet, gereinigt, geprüft und gegebenenfalls saniert oder erneuert. Das geschieht bei der Raffinerie in Burghausen alle fünf bis sieben Jahre, je nachdem, ob die Prüffristen durch besondere Zwischeninspektionen (Ersatzprüfungen) verlängert werden konnten. Den rechtlichen Rahmen dafür setzt die Betriebssicherheitsverordnung, deren novellierte Fassung im Juni 2015 in Kraft tritt.

Vorbeugend modernisiert

Der Stillstand bietet auch die Gelegenheit für wichtige oder vorbeugende Instandsetzungs- und Optimierungsmaßnahmen, die im laufenden Betrieb nicht möglich sind. Dann kommen das Innere der Bauteile und Armaturen auf den Prüfstand, neue Komponenten werden integriert bzw. zusätzliche Anlagen eingebunden. Dafür stoppen die Verantwortlichen die Rohölzufuhr aus den Pipelines und befreien alle Anlagen mit Dampf und Stickstoff von noch enthaltenen Kohlenwasserstoffen.

Bei jedem Shut Down nimmt die OMV zudem Modernisierungen vor. Zuletzt investierte das Unternehmen allein 3,5 Mio. EUR in die Renovierung der Hochfackeln. Bei Betriebsstörungen verbrennt diese Sicherheitseinrichtung gezielt und rückstandsfrei die nicht speicherbaren, im Prozess befindlichen Gase am Austrittsende einer über 70 m hohen senkrechten Leitung. Dabei kommen nun zwei Brennerköpfe der neuesten Generation zum Einsatz, die mehr Kapazität bei minimaler Dampflast bieten.

Bewegte Zukunft

Seit ihrer Inbetriebnahme 1967 wird die Erdölraffinerie im Herzen des so genannten Bayerischen Chemiedreiecks kontinuierlich optimiert und erweitert. Die Anlage gilt als Aorta für die Versorgung Süddeutschlands mit Mineralölprodukten. Aus 3,8 Mio. t/a Rohöl entstehen Mitteldestillate wie Kerosin, Diesel und Heizöl - vor allem aber petrochemische Grundstoffe wie Ethylen, Propylen und Butadien für die Kunststoff- und Reifenindustrie. Ein zur Raffinerie gehörender Koker verarbeitet die Rückstände aus der Destillation durch thermisches Cracken in leichtere Produkte und Rohkoks. Im Kalziner wird der im Koker entstandene Rohkoks auf 1.350°C erhitzt und zu Kalzinat veredelt. Der Feststoff findet z. B. in der Herstellung von Elektroden für die Aluminium- und Stahlindustrie Verwendung.

Orchestrierte Prozesse

„Weil wir unsere Raffinerie im Verbund mit weiteren Anlagen betreiben, erfordert der Stillstand noch einmal einen besonderen Abstimmungsbedarf", sagt Martin Pipek, Gesamtprojektleiter Shut Down in Burghausen. „Nicht nur alle Prozesse und Arbeiten selbst müssen in sich perfekt koordiniert sein und wie in einem Uhrwerk ineinander greifen, sondern auch die vor-, nach- und nebengelagerten Anlagen sind einzubeziehen." Zeitgleich zum Shut Down wurde auch die Produktion von Polyolefinen der benachbarten Borealis Polymere herunter gefahren.

Die bestehenden Anlagen der Raffinerie wurden so vorbereitet, dass die neu gebaute Butadien-Anlage sich erfolgreich in die Prozesse einbinden ließ. Das dort produzierte Gas liefert den Ausgangsstoff für Autoreifen mit geringerem Rollwiderstand und macht das Unternehmen so künftig noch unabhängiger vom Brennstoffgeschäft.

Wo 9 Prozessöfen, 50 Kolonnen, 271 Behälter und Tanks sowie 315 Wärmetauscher zerlegt werden, ist Organisation alles. Eine eigene Arbeitsgruppe hat die rund 500 Steckscheiben mit unterschiedlichsten Größen im Blick, mit denen sich einzelne Anlagenbereiche und Druckgeräte abtrennen lassen. Jede Steckscheibe wird durch einen nummerierten Anhänger repräsentiert. In eigens bereitgestellten Containern sind meterlange Wandflächen dafür vorgesehen, die Übersicht zu behalten, ähnlich wie am Schlüsselbord einer Hotelrezeption. Fehlt ein Anhänger, ist die Scheibe im Einsatz und Vorort verbaut. Dort, wo er hängt, ist die Scheibe demontiert und das Anlagenteil wieder betriebsfähig. „Die Steckscheibe steht als klassisches Symbol für den Shut Down und die damit verbundene logistische Glanzleistung", so Martin Pipek weiter.

Geschichte einer Generalinspektion

Jedes einzelne Bauteil kommt auf den Prüfstand - und damit die gesamte Anlage. Zusätzlich zu eigenen Inspektoren wurde ein Expertenteam vom TÜV Süd beauftragt. Die Experten des internationalen Dienstleisters führen die nach BetrSichV vorgeschriebenen Sichtprüfungen der Anlagen, Komponenten und Behälter von innen und außen durch sowie verschiedene Druck-, Dichtigkeits- und Festigkeitsprüfungen. „Für diesen Shut Down haben wir zusätzlich zu unseren 10 Sachverständigen vor Ort noch 30 weitere aus unserem bundesweiten Niederlassungsnetz zusammengezogen", sagt Peter Kerscher, Leiter der Niederlassung des Dienstleisters in Trostberg. Durch die Zusammensetzung des Teams wurden Erfahrungen aus dem Management, der Organisation und Logistik von Großprojekten gebündelt und das vorhandene Fachwissen multipliziert.

Das Serviceunternehmen begleitet die Raffinerie seit ihrer ersten Inbetriebnahme. „Seit 50 Jahren kennen wir die Anlage mit ihren Besonderheiten. Zusammen mit dem Betreiber leben wir eine gemeinsame Sicherheitsphilosophie", erklärt Peter Kerscher. Neben modernsten Verfahren der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung setzen die Experten unter anderem 3D-Laserscanning ein, um das „bulging" der Kokstrommeln zuverlässig zu bestimmen. Dann muss der Vergleich mit Regelwerken und der Anlagenhistorie zeigen, ob und wann Sanierungsbedarf besteht.

Unterwegs in der Anlage

Um im Zeitplan zu bleiben, sind die Prüfarbeiten in den Anlagen genauestens geplant. In den ersten beiden Wochen des Shut Downs haben die Sicherheitsexperten zunächst die gesetzlich vorgeschriebenen inneren Prüfungen vorgenommen. Das können bis zu 60 Prüfungen pro Tag sein. Zur visuellen Begutachtung steigen die Prüfer teils in die Druckgeräte ein, die vorher freigegeben sein müssen. In der dritten Woche folgen gut 30 Festigkeitsprüfungen täglich, die zeigen, ob bspw. ein Wärmetauscher mit seinem innen liegenden Rohrbündel weiterhin dicht ist.

Gerüstet für morgen

Der Industrie Service hat nach Abschluss der gesetzlich vorgeschriebenen Generalinspektion als zugelassene Überwachungsstelle die Erlaubnis zum Weiterbetrieb erteilt und alle Prüfergebnisse in umfassenden Prüfberichten dokumentiert. „Besonders wichtig ist die Tatsache, dass wir das gesamte Projekt ohne wesentliche Unfälle abgeschlossen haben. Die Runderneuerung der Anlage dient auch immer einer verbesserten Produktion", sagt Dr. Gerhard Wagner, Standortleiter der Raffinerie und Geschäftsführer der OMV in Deutschland. „Mit den Neuerungen und Erweiterungen sind wir bestens gerüstet für die Zukunft im internationalen Wettbewerb: alle Anlagen arbeiten mit modernster Technik, höchster Verfügbarkeit und einer effizienteren Energieausnutzung." Im Rahmen des Normalbetriebs werden modifizierte Anlagenteile im Gesamtverbund nun fein justiert und weiter optimiert. Die nächsten Jahre sollen die Anlagen durchlaufen. Doch schon heute gilt: Nach dem Shut Down ist vor dem Shut Down.