Anlagenbau & Prozesstechnik

Dynamische Lastfälle im Rohrleitungssystem - Teil III

Wirkzusammenhänge begreifen

30.01.2019 -

Die Druckschwingungsanalyse ist dazu in der Lage, die für eine dauerfeste Auslegung des Rohrleitungssystems wichtigen dynamischen Lastfälle zu berechnen. Dies führt dieser dritte Beitrag unserer Serie «Wirkzusammenhänge begreifen» aus. Der erste Teil (s. CITplus 12/2017, S. 14 ff) präsentierte die Bewertung der Schwingungssituation mit Hilfe sogenannter „Druckvektorplots“, die die fluidtechnischen Eigenfrequenzen des Rohrleitungssystems visualisieren. Der zweite Teil (s. CITplus 5/2018, S. 43 ff) behandelte die Identifikation von Rohrleitungsabschnitten mit hohen Druckpulsationsamplituden, was sowohl Voraussetzung für die richtige Positionierung von Abhilfemaßnamen (Dämpfer, Resonatoren, usw.) als auch von Sensoren ist.

Bei Rohrleitungsbrüchen oder Leckagen an Verschraubungen und Flanschen denkt man zunächst an Schädigungen durch Druckschwingungsprobleme und Drückstöße. Durch eine sorgfältige Anlagenprojektierung oder eine geeignete Prozessführung sind diese Betriebszustände in der Regel aber gut zu vermeiden. Häufig wird allerdings vergessen, dass auch Druckpulsationen, die zunächst einmal unkritisch für die Anlagenfunktion bzw. für die Festig­keit des Rohrleitungssystems erscheinen, das Rohrleitungssystem mechanisch beanspruchen.
Druckpulsationen verursachen im Leitungssystem mechanische Dauerbelastungen an Rohrleitungsbauteilen, -halterungen oder Anlagenkomponenten, die zu Bauteilschädigungen führen und die die Funktion und Zuverlässigkeit der Anlage negativ beeinflussen. Mit der simulativen Druckschwingungsanalyse steht dem Projekteur ein Werkzeug zur Verfügung, um schnell und komfortabel die Druckschwingungssituation im verzweigten Rohrleitungssystem zu analysieren.

Das Problem
Die numerische Berechnung von Kräften und Momenten im Rohrleitungssystem ist an sich nichts Neues, sondern gehört standardmäßig zur Auslegung dieser Systeme. Im Handbuch Rohrleitungsbau präsentiert Wossog hierzu einen methodischen Überblick, der auch fluiddynamische Berechnungen umfasst. Die Richtlinie VDI 3842 widmet sich sogar explizit den Schwingungen in Rohrleitungssystemen. Beide Quellen empfehlen hierfür die Berücksichtigung der Fluid-Struktur-Interaktion (FSI) falls dynamische Lastfälle betrachtet werden sollen.
Warum aber ist die Berücksichtigung dynamischer Lastfälle für die dauerfeste Auslegung von Rohrleitungssystemen so wichtig? Die VDI 3842 gibt hierzu eine klare Antwort:

  • „Dynamische Belastungen können – in Überlagerung mit den gleichzeitig auftretenden statischen Betriebslasten – je nach Art des Lastfalls zu
  • Gewaltbruch (Festigkeitsversagen),
  • Versagen durch Erreichen der plastischen Wechselfestigkeitsgrenze,
  • Versagen durch Erreichen der Zeit- oder Dauerfestigkeitsgrenze (Ermüdung) führen“.

Obwohl es in der Praxis oftmals auch tatsächlich zu Schwingungsproblemen und entsprechenden Schäden kommt, erfolgt die Auslegung nach wir vor häufig nur für statische Belastungen. Was aber macht die Berücksichtigung der dynamischen Lastfälle so schwierig und aufwändig?
Während der Projektierung der Anlage ist es schlicht und einfach die Unkenntnis der Druckschwingungssituation, die die adäquate Berücksichtigung der dynamischen Belastung verhindert. Aber auch für existierende Anlagen, deren Produktionsprozess umgestellt wird oder bei denen Maschinenkomponenten ausgetauscht werden, verändert sich die Druckschwingungssituation innerhalb des Rohrleitungssystems.
Hier schlägt jetzt die Stunde der numerischen Druckschwingungsanalyse. Denn eine realitätsnahe Druckschwingungssituation, aus der die benötigten dynamischen Kräfte und Momente ermittelt werden können, kann nur im Gesamtsystemkontext durch die Simula­tion repräsentativer Betriebszyklen berechnet werden. Wie der erste und zweite Teil dieses Beitrags zeigen, sind moderne fluidtechnische Simulationswerkzeuge dazu in der Lage, die dynamische Druckpulsation für jede Stelle innerhalb des verzweigten Rohrleitungssystems zu bestimmen. Es muss also „nur“ noch die FSI in die mathematischen Modellbeschreibung integriert werden.

Grundlagen der Fluid-Struktur-Interaktion
FSI ist immer dort zu berücksichtigen, wo eine Leitung Richtungsänderungen durch Rohrbögen oder Winkelstücke erfährt. Während des Betriebs kommt es durch fluktuierende Druck- und Impulsstromkräfte zu einer dynamischen Kraftwirkung auf Rohrbögen oder Winkelstücke. Die Leitung wird hierdurch zu Schwingungen angeregt, die sich bis zu den Befestigungspunkten und von dort in die Anlagenstruktur übertragen.
Um FSI bei der simulativen Druckschwingungsanalyse zu berücksichtigen wird das vorhandene Gleichungssystem der Rohrleitungsmodelle erweitert; neben der Impuls- und Kontinuitätsgleichung für das Druckmedium werden nun zwölf zusätzliche Gleichungen für die sechs Freiheitsgrade (mit je einer Fluss- und Potenzialgröße) der Rohrwand gelöst. Da die axialen Bewegungen der Rohrwand durch Querkontraktion und Reibung mit der Rohrströmung gekoppelt sind, müssen Impuls- und Kontinuitätsgleichung des Druckmediums um zusätzliche Terme erweitert werden.
Die Beschränkung auf Rohrleitungen mit Kreisringquerschnitt (bei denen keine Verwölbung auftritt) ermöglicht es, die Verdrehungen der Rohrwand um die lokale z-Achse nach der elementaren Torsionstheorie von De Saint-Venant zu berechnen. Die Biegesteifigkeit der Rohrleitungen wird – unter Beachtung der trägen Masse der Flüssigkeit – mit der Balkentheorie von Timoshenko modelliert, die gegenüber dem Euler-Bernoulli-Balkenmodell zusätzliche Deformationen infolge Querkraftschub berücksichtigt.
Das resultierende Gesamtgleichungssystem aus 14 gekoppelten partiellen Differential­gleichungen (PDGLn) stellt eine Synthese der Arbeiten von Lavooij & Tijsseling (longitudinal­e Wellen) sowie Wiggert, Hatfield & Stuckenbruck (Biege- und Torsionswellen) dar. Zur Lösung des PDGL-Systems kommt das in der Fluidtechnik bewährte Charakteristikenverfahren zum Einsatz, wobei zur Begrenzung der numerischen Dissipation anstelle der üblichen Rauminterpolation die Zeitinterpolation nach Goldberg verwendet wird.

Druckschwingungsanalyse mit Berücksichtigung der Fluid-Struktur-Interaktion
Das Potenzial der Druckschwingungsanalyse mit FSI wird anhand des in Abb. 2 dargestellten Berechnungsbeispiels einer beidseitig offenen Leitung mit zwei Befestigungspunkten und zwei Rohrbögen vorgestellt. Die Druckschwingungssituation ist so gewählt, dass die erste Eigenfrequenz der Leitung ihren Druckbauch im Leitungsabschnitt zwischen den beiden Rohrbögen hat.
Wichtig für die Druckschwingungsanalyse mit FSI ist die Modellierung der dynamischen Steifigkeit (Impedanz) der Befestigungspunkte. Falls die realen Steifigkeiten nicht als Datenblatt vorliegen, können sie mittels Messung oder durch FEM-Berechnungen (FEM = Finite-­Elemente-Methode) bestimmt werden.
Soll die Druckschwingungsanalyse primär zur Bewertung von Bauteilbelastungen eingesetzt werden, so können die leitungsinternen Kräfte, Geschwindigkeiten, Momente und Winkelgeschwindigkeiten genauso wie die Druckpulsation als Vektorplot visualisiert werden  Da Vektorplots auf der x-Achse die gestreckte Länge der Rohrleitung abbilden, erhält der Projekteur einen Überblick darüber, ob sich ermüdungskritische Anlagenteile (z. B. geschweißte Verbindungen) in den Bereichen hoher dynamischer Belastung befinden. Auf der y-Achse kann die Frequenz der Belastung abgelesen werden. 

Die beiden oberen Vektorplots präsentieren die Kräfte in der Leitung. Deutlich ist in den Diagrammen zu erkennen, bei welchen Frequenzen die Leitung durch die Druckpulsationen mechanisch belastet wird. Aus dem Druckbauch der ersten Eigenfrequenz zwischen den Befestigungspunkten resultiert z. B. ein Kraftmaximum in z-Achsrichtung. Die Vektorplots der Geschwindigkeiten veranschaulichen, dass die Leitung dabei eine Rotationsbewegung vollführt. Außerdem schwingt die gesamte Leitung in x-Achsrichtung in einer höheren Biege­schwingungsordnung, was sehr gut an der horizontal über die Leitungslänge verteilten Abfolge von Schwingungsbäuchen und -knoten zu erkennen ist. Ist es ein Projektierungsziel, die Anregung an Befestigungspunkten zu minimieren, dann bietet die 1D-Simulation hierzu weitere Werkzeuge. Mittels Parametervariation (z. B. der Positionierung der Befestigungspunkte) und anschließender automatisierter Ergebnisanalyse lässt sich der Projektierungsablauf sogar weitgehend automatisieren.
Sollen die Ergebnisse der Druckschwingungsanalyse für die detailliertere dauerfeste Auslegung weiterverwendet werden, so stehen selbstverständlich auch Zeitbereichssignale an beliebigen Positionen innerhalb des Rohrleitungssystems zur Verfügung. Die Drucksignale aus der Mitte der beiden Rohrbögen zeigen jeweils Druckamplituden aus dem Rand des Schwingungsbauchs. Es handelt sich hierbei zwar nicht um die maximalen Druckamplituden in der Leitung – diese liegen in der Mitte des Leitungsabschnitts zwischen den Rohrbögen und belasten die Rohrleitung mechanisch in radialer Richtung (Rohratmung) – es sind jedoch genau die Druckamplituden, die entsprechend zur mechanischen Anregung der Leitung führen. Sowohl im Kraft- als auch im Momentenverlauf ist sehr gut zu erkennen, dass es durch die fluktuierende Kraftanregung zu einer deutlichen strukturmechanischen Anregung der Befestigungspunkte kommt. Rechts der dominanten Schwingung sind auch noch Anregungen durch die beiden höheren hydraulischen Eigenfrequenzen zu erkennen. Die Anregungen links der dominanten Schwingung zeigen die mechanische Eigenfrequenz des Feder-Dämpfer-Masse-Systems bestehend aus der Leitung mit zwei Befestigungspunkten.
Abhängig von der gewählten Abtastrate der Druckschwingungssimulation haben die Zeitsignale eine Auflösung im kHz-Bereich. Umgewandelt in Fourier-Spektren können die Kräfte und Momente somit in der FEM-Berechnung von Strukturanalyseprogrammen als Anregung für eine Transferpfad-Analyse der Anlagen­struktur oder zur Lebensdauerabschätzung von Schweißverbindungen verwendet werden.
Möchte der Projekteur bereits während der druckschwingungsoptimalen Anlagenprojektierung oder während einer Problemanalyse einen Überblick über die dynamische Belastung im Rohrleitungssystem erhalten, dann bietet ihm die um FSI erweiterte simulative Druckschwingungsanalyse hierfür das geeignete Werkzeug. Da zur Abbildung der Druckschwingungssituation bereits ein detailliertes Modell des Rohrleitungssystems vorhanden ist, muss die Fluid-Struktur-Interaktion – die Verfügbarkeit der Steifigkeiten der Befestigungen vorausgesetzt – nur noch zugeschaltet werden.

Fazit
Druckpulsationen verursachen mechanische Dauerbelastungen des Rohrleitungssystems und ermüden dessen Festigkeit. Schlussendlich resultieren hieraus Anlagenstillstände, wenn es zu Leckagen oder Dauerbrüchen kommt. Die simulative Druckschwingungsanalyse berücksichtigt die als Fluid-Struktur-Inter­aktion bekannte Wechselwirkung zwischen Fluid und Rohrleitung und trägt damit der dynamischen Belastung des Rohrleitungssystems Rechnung.

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